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»In den letzten drei Jahren, in denen ich mit deiner Frau gevögelt habe, ist sie um zwanzig Jahre jünger geworden!«

»Ich vögle deine Frau zwar erst zwei Jahre, aber in denen ist sie auch um zwanzig Jahre jünger geworden! Das sagt sie selber immer, was, Joe?«

»Sagt sie selber immer, ja, Jim!«

»Sie hat mir erzählt, du hast einen so kleinen, daß mit ihm einfach keine Frau kommen kann!«

»Was heißt kommen! Mir hat sie gesagt, man weiß bei dir nie, ob er drinnen ist oder draußen!«

»Und außerdem bist du eine feige Sau, das muß auch mal gesagt werden!« Neun Herren, die in blauen Trainingsanzügen auf Matten im Kreis saßen, sprachen plötzlich alle zur gleichen Zeit auf einen zehnten Mann ein, der in der Mitte des Kreises hockte, an allen Gliedern bebend und lauthals schluchzend.

»In Korea, da beim Heartbreak Ridge, da hast du feige Sau die Kameraden nach vorne gejagt, mitten hinein ins Artilleriefeuer, und selber bist du im tiefsten Bunker gesessen und hast dir in die Hosen geschissen!«

»Dafür hast du jeden Morgen flammende Reden vor der Einheit gehalten, du Scheißkerl! Wir müssen die Freiheit verteidigen! Wir sind die Retter der Welt vor der Roten Flut!«

»Auf diese Weise hast du Karriere gemacht, du Lump! Andere sind verreckt, aber du bist befördert und befördert worden, bis du im Generalstab warst!«

»Weißt du noch, du Sauhund, wie du die eigenen Boys mit Granaten hast eindecken und krepieren lassen, weil du zu blöd warst, den Werfern die richtige Entfernung durchzugeben, so daß die Dinger direkt zwischen uns explodiert sind?«

Der zehnte Herr, auf den die anderen neun Herren solcherart einschrien, schluchzte jetzt nicht mehr. Er rollte über die Matratze und biß wie ein Rasender in viele bunte Kissen, die, zwanglos verstreut, herumlagen. Zwei Kissen hatte er schon erledigt, im Moment zerfetzte er mit seinen Zähnen ein drittes. Rot war es.

»Deinen Adjutanten hast du mit einem Spähtrupp in ein Gebiet geschickt, von dem du gewußt hast, daß es total vermint ist!«

»Und die armen Hunde sind auch prompt alle hochgegangen!«

»Weil dein Adjutant dir nämlich gesagt hat, er wird einen Bericht über dich schreiben! Über dich und deine Blödheit und Feigheit und Hinterfotzigkeit!«

Der arme Kerl, der also beschimpft wurde, biß nun auch nicht mehr in die Kissen. Schneeweiß im Gesicht, hielt er im Knien die Hände an den Leib gepreßt und kotzte, was das Zeug hielt.

»Mensch, Mojshe, ich werde verrückt! Das gibt es doch nicht«, flüsterte Jakob entgeistert.

»Du siehst ja, daß es das gibt. Und ich werde dir noch ganz andere Sachen zeigen«, antwortete Mojshe Faynberg. Er stand mit Jakob in einer Kammer, die dem Vorführraum eines Kinos ähnelte. Durch einen Spiegel, der auf der Innenseite durchsichtig war, konnte man in die große Turnhalle blicken, in der es unter den zehn Herren zuging wie in einem Tollhaus. Über einen Lautsprecher kam der Krach von draußen in die Kammer.

»Ja, aber was soll denn das?« fragte Jakob. »Ist das eine Klapsmühle hier?«

»Im Gegenteil, das ist ein Kursus für zusätzliche seelische Stärkung.«

»Mojshe, ich flehe dich an, sag, daß du mich auf den Arm nimmst!«

»Ich schwöre dir, ich nehme dich nicht auf den Arm, Jake!«

»Ja, aber warum wehrt sich denn der arme Kerl – mein Gott, jetzt hat er sich vor Wut auch noch in die Hosen gepißt! –, warum wehrt sich denn der arme Kerl nicht und brüllt die anderen auch an oder verdrischt sie?«

»Ah«, sagte der gereifte, rothaarig-graumelierte dicke Oberstleutnant Mojshe Faynberg in seiner piekfeinen Uniform ernst, »das dürfte er niemals! Damit wäre seine Karriere zu Ende! Er muß sich alles anhören, was die anderen über ihn denken, und er darf kein Wort sagen! Nur heulen, sich auf der Erde wälzen, kotzen und das andere da jetzt, das darf er. Sich vollscheißen auch.«

»Aber warum, Mojshe, warum?«

»Es ist wichtig, daß alle Mitglieder des Generalstabs genau wissen, was sie voneinander halten. Nur so entsteht echter Corpsgeist.«

»Das … das … das sind lauter Mitglieder des Generalstabs?«

»Natürlich! Hast du vielleicht gedacht, es sind einfache GIs, so wie du und ich es waren? Nein, nein, so was Feines gibt’s nur für Hohe Herren, mein Lieber!« Mojshe grinste.

Jakob sank auf einen Hocker.

»Wahnsinnig«, murmelte er, indessen von draußen, übertragen durch den Lautsprecher, immer weiteres Gefluche und Gebrüll in die Kammer drang, »ich bin wahnsinnig geworden. Bei mir ist es losgegangen! Ich bin gar nicht in Saigon! Und dich gibt es gar nicht, Mojshe! Und die da drinnen auch nicht! Das sind nur Ausgeburten meines Wahnsinns!«

»Hör auf«, sagte Mojshe streng. »Augenblicklich! Alles, was du hörst und siehst, gibt es! Vor allem mich! Du hast gesagt, ich soll dir zeigen, was ich in Saigon treibe – ja oder nein?«

»Ja – ha …«

»Na also. Und so zeige ich es dir also heute.« Heute, das war der 9. November 1964, und Mojshe zeigte Jakob das Innere eines großen Hauses an der Rue Catinat. Er setzte sich neben Jakob. »Ich betreue das ›T-Gruppen-Programm‹ der amerikanischen Streitkräfte, die sehr bald hier eingesetzt werden sollen. Verstehst du?«

»Kein Wort!«

Die Geräusche, die von der Turnhalle zu ihnen drangen, ließen Jakob erschauern. Die neun Mann brüllten immer noch auf den zehnten ein, und der zehnte übergab sich ununterbrochen.

»Paß auf, daß ich es dir erkläre: ›T-Gruppen‹, so nennen wir diese ›Trainings-Gruppen‹. Das Programm – von dem du erst ein bißchen gesehen hast, hat eine amerikanische Forschergruppe bereits 1947 auszuarbeiten begonnen. Das ist ein zusätzlicher Erziehungsfaktor für Normalpersonen – nicht eine Therapie für Neurotiker!«

»Mensch, bist du gebildet, Mojshe!«

»Man lernt natürlich mit der Zeit«, sagte Mojshe. »Diese ›T-Gruppen‹, die jeder vom Generalstab mitmachen muß …«

»Ja, aber um Himmels willen, wozu …«

»Laß mich es dir erklären, Jake, du kannst es nicht wissen in deiner Beschränktheit: Also, diese ›T-Gruppen‹ werden unterteilt in ›Encounter‹- und ›Sensibility‹-Trainingsgruppen. Ist beides dasselbe. Nur der Spaß ist verschieden – wie du gleich sehen wirst. Das hier, das ist eine ›Encounter‹-Gruppe. Das heißt, hier äußert jeder frei, was er über den andern denkt. Auch alle auf einmal können sich äußern.«

»Aber wozu?«

»Na, Jake, Junge, so was stärkt doch ungeheuer das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Kampfgeist! Darum macht man das jetzt auch hier in Saigon, wo’s gleich richtig losgehen wird. Früher hat man die Ausbildung in den Staaten gemacht. Ich bin ein armer Hund, das weißt du ja, bin es immer gewesen, und also bin ich in der Army geblieben, das habe ich dir auch schon erzählt. Nachdem mein Alter gestorben ist, war überhaupt kein Geld mehr für meine Mutter und meine Schwester da. Also, was ist mir übriggeblieben?«

»Das verstehe ich alles, Mojshe«, sagte Jakob und fuhr zusammen, weil von draußen ein besonders tierischer Schrei des so entsetzlich beschimpften zehnten Mannes in die kleine Kammer gedrungen war.

»Reg dich nicht auf, Jake! Nach diesem General kommt der nächste dran. Alle kommen sie dran! Wo war ich? Ach ja: Also was ist mir da übriggeblieben, als Soldat auf Zeit zu werden? So habe ich die ganze Korea-Scheiße mitgemacht – im Vertrauen: Den Kerl, den sie da drinnen gerade in der Mache haben, den kenne ich von damals, das ist wirklich ein ganz großes Arschloch! –, und dann bin ich natürlich befördert worden und befördert, und jetzt kann ich Mutter und Schwester ordentlich ernähren und fliege dauernd zwischen Los Angeles und Saigon hin und her.«

»Hast du Los Angeles gesagt?« hauchte Jakob.

»Habe ich. Ja. Warum?«

»George Misaras ist dort, und ich bin auch oft dort – aber das habe ich dir ja schon alles erzählt. Auch daß sie den armen Jesus umgebracht haben, die weißen Schweine da im Süden!« Mojshe nickte traurig. »Aber daß wir einander nie gesehen haben, das ist unfaßbar!«

»Viele Sachen sind unfaßbar«, sagte Mojshe. »Ich werde dir gleich noch ein paar zeigen. Stimmt schon, wir hätten uns mal begegnen können. Aber ich bin doch dauernd unterwegs gewesen! Korea. Deutschland. Weiß ich, wo überall. Und jetzt, jetzt fliege ich die ganzen Generalstäbler, die für den Krieg hier vorgesehen sind, hin und her. Sie machen solche ›T-Gruppen‹ auch drüben, aber hier machen sie das jetzt auch, damit die Herren sozusagen im Angesicht des bösen Feindes noch einmal richtig mutig werden. Und ich bin so was wie der Reiseleiter, kapierst du?«

»Gratuliere«, sagte Jakob. »Dann haben wir tatsächlich alle Karriere gemacht – bis auf den armen Jesus.«

»Ich muß sehen, daß ich heute noch neun Juden auftreibe, damit wir Kaddisch sagen können für Jesus.«

»Kaddisch?«

»Ein Totengebet sprechen, weißt du. Zu einem Gebet braucht man immer zehn Mann. Ich wäre der zehnte.«

Eine ferne Explosion ließ den Boden wanken.

»Was war das?«

»Ach, irgendwas ist explodiert in der Stadt«, sagte Mojshe. »In dieser Stadt explodiert dauernd was. Hast du eine Ahnung, wie das hier oft zugeht. Eine Rakete solltest du mal hören! Sind ein Haufen Vietcong in der Stadt, verstehst du. Da gibt’s immer wieder Morde, Anschläge, Feuerüberfälle, Entführungen. Wir haben hier einen Bürgerkrieg.«

Ein dumpfes Trommeln ertönte.

»Und was ist das?« fragte Jakob.

Mojshe sah durch das kleine Fenster in den Turnsaal.

»Ach, jetzt haut er mit den Fäusten auf den Boden, der General, weil sie ihm vermutlich was besonders Hübsches gesagt haben. Und hin und her rollen tut er sich auch in seiner eigenen … in seinen eigenen Ausscheidungen«, sagte Lieutenant-Colonel Mojshe Faynberg.

Hurra, wir leben noch
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