49

Na ja, und das hatte er dann auch getan …

»Nur ein kleiner erster Eindruck«, sagte er nun, in der Kino-Vorführkabine des Hauses an der Rue Catinat, zu Jakob, indessen durch den Lautsprecher das Fluchen, Beschimpfen, Heulen und Trommeln im Saal nebenan weiter zu hören war. »Komm mit. Ich zeig dir noch was.«

Sie verließen die Kabine, fuhren mit dem Lift ein Stockwerk höher, wanderten einen Gang hinab und betraten eine zweite Kabine. Als Jakob hier durch den Einwegspiegel blickte, hielt er sich an Mojshe fest, um nicht umzufallen.

Er sah in einem Saal wie dem ersten wiederum zehn Männer, diesmal in roten Trainingsanzügen. Fünf von den Herren Stabsoffizieren und Generälen krochen auf allen vieren durch die Halle. Die anderen fünf Herren saßen auf ihren Rücken und ritten. Wenn es ihnen nicht schnell genug ging – und es ging ihnen niemals schnell genug –, gaben sie ihren Pferdchen die Sporen, das heißt, sie hauten die Offizierskameraden klatschend auf die Hintern oder traten ihnen auf die Hände. Dann trabten die Pferdchen hurtiger.

»Mmmmmmmmm!!!« war alles, was Jakob herausbrachte.

»Der Witz hier«, ließ sich Mojshe vernehmen, »ist der, daß einmal hohe und einmal niedrigere Dienstgrade Pferdchen spielen müssen beziehungsweise reiten dürfen.«

»Aber wozu das, um Himmels willen?«

»Stärkung des Gefühls der Gleichheit aller. Keiner ist dem andern überlegen oder hat mehr Macht! Alle sind eine verschworene Gemeinschaft, klar?«

»Klar«, sagte Jakob.

Die Pferdchen trabten, die Herren ritten auf ihnen, daß es eine Lust war.

»Also, diesen Krieg gewinnt ihr ganz bestimmt!« sagte Jakob.

»Na was denn«, sagte Mojshe. »Komm.« Und er brachte Jakob in ein anderes Stockwerk und in eine andere Kabine. Jakob blickte durch den dritten Einwegspiegel. Er sah neun Mann im Kreis, wie schon gewohnt, der zehnte in der Mitte.

Totenstille.

»Der in der Mitte ist ein ganz hohes Tier«, sagte Mojshe. »Er wird sich gleich umfallen lassen.«

»Warum?«

»Damit ihn die anderen auffangen natürlich«, sagte Mojshe.

»Und wozu soll das gut sein?«

»Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Einer ist für den andern da, einer hilft dem andern. Alles von ersten Psychotherapeuten Amerikas entwickelt. Es gibt nichts Besseres.«

»Bestimmt nicht«, sagte Jakob.

Im nächsten Moment geschah zweierlei. Der General ließ sich – wie Mojshe prophezeit hatte – fallen. Er war überzeugt davon, daß ihn die Kameraden auffangen würden in ihrem starken Gemeinschaftsgefühl. Leider heulte im gleichen Moment eine Rakete heran – Jakob und Mojshe warfen sich zu Boden – und explodierte mit ohrenbetäubendem Getöse.

»Das war ganz schön nahe«, sagte Mojshe, sich erhebend. Auch Jakob erhob sich und sah durch den Spiegel. Ein schrecklicher Anblick bot sich ihm.

Die neun Generalstäbler hatten sich beim Heranheulen der Rakete gleichfalls zu Boden geworfen, die Köpfe zwischen den Händen – und deshalb war niemand dagewesen, um den General, der sich gerade fallen ließ, in verschworener Gemeinschaft aufzufangen. Jetzt richtete er sich auf und hielt sich den Schädel. Aus der Nase tropfte Blut auf den Trainingsanzug. (Hier wurden weiße getragen.) Der General, außer sich, rappelte sich auf und begann zu toben, daß die Membran des Lautsprechers klirrte: »Ihr Hurensöhne! Ihr Hunde! Ich lasse euch an die Wand stellen, alle miteinander! Verräter! Kommunisten! Schweine, verfluchte! Vors Kriegsgericht bringe ich euch alle! Auf! Stillgestanden! Hände an die Hosennaht! Niemand rührt sich!« Es rührte sich wirklich niemand. Die neun anderen Herren sahen ihn gespannt an. Im Sitzen.

»Auf!« schrie der General wie rasend. »Ich habe ›Auf‹ befohlen!«

Danach begannen plötzlich alle durcheinanderzuschreien.

»Du Arschloch, du verstunkenes, du kannst uns mal! General und noch nie eine Rakete gehört!«

»Klar hat er nicht! Die feige Ratte hat doch während des ganzen Korea-Kriegs nichts als Truppenbetreuung gemacht!«

»Und dann mußte er mit einem Trio ins Lazarett! Ich könnte schwören, er hat gewußt, daß das Mädchen nicht sauber war, als er ihn reinsteckte! Bloß damit er nicht an die Front mußte!«

»Aber sein Bruder ist Vizepräsident bei der … na, jetzt fällt mir der Name nicht ein … bei dieser Firma, die Napalm erzeugt! Dem sein Geld sollten wir haben, Boys!«

»Verdammt, verdammt, verdammt«, flüsterte Mojshe erschrocken. »So geht das aber auch nicht. Die haben da etwas mißverstanden, die Jungs.«

»Was haben sie mißverstanden?«

»Die glauben, sie sind noch im ›Encounter‹-Training, die Trottel, und sie sollen dem armen General alles sagen, was sie über ihn denken. Der Schock … man kann es ja verstehen. Aber dabei ist das hier schon die höchste Gruppe – nämlich die Erziehung zum Getragenwerden durch die Gemeinschaft.«

»Die hat ihn ja auch fein getragen«, sagte unser Freund, während nebenan der General und neun andere Herren sich heiserschrien.

An diesem Abend fuhr Jakob mit Mojshe im Jeep hinunter zum Hafen. Die drei Schiffe waren über Nacht wie durch ein Wunder wieder mit Fertighausteilen gefüllt worden.

»Zufrieden?« fragte Mojshe. »Dieser alte Ganeff, der San-Tui.«

»Warum sperrt ihr ihn nicht überhaupt ein?« fragte Jakob. »Der Kerl verdient’s doch wahrhaftig!«

»Ach Mensch, wenn wir hier alle einsperren wollten, die es verdienen … Außerdem, du hast es ja gehört, versorgt er uns zuverlässig mit Nachrichten über bevorstehende Aktionen des Vietcong.«

»Über die Rakete heute vormittag hat er euch aber nicht rechtzeitig informiert!«

»Ein Mann kann nicht alles wissen«, sagte Mojshe. »Du siehst ja, wie es hier drunter und drüber geht. Komm, erholen wir uns ein bißchen in deinem Hotel!«

Mojshe trank Bourbon, Jakob Tonic Water, sie redeten von längst Vergangenem und von hautnaher Gegenwart. Plötzlich sagte Jakob: »Du, Mojshe, ich hab eine Idee.«

»Soso.«

»Paß auf. Das hat tiefen Eindruck auf mich gemacht, was du mir da gezeigt hast, diese ›T-Gruppen‹. Ich war in den Staaten selber mal bei einem Püschoanalytiker. Das ganze Volk ist doch meschugge mit Püschoanalytikern und all dem Zeug. Willst du ein paar solche Institute wie das hier mit ›Encounter‹- und ›Sensibility‹-Training und dem ganzen Zeug in Amerika auf privater Basis eröffnen? Geld schieße ich vor. Du mußt für das Know-how und ein paar Püschater sorgen. Ich schwöre dir, da kommt Geld rein wie Scheiße in die Latrine!«

»Das brauchst du mir nicht zu schwören. Jake, das glaube ich dir unbesehen. Eine prima Idee. Machen wir, klar!«

»Hm …« Jakob war noch etwas eingefallen. »Hör mal, Mojshe. 1965 feiere ich meinen fünfundvierzigsten Geburtstag.«

»Ja, und?«

»Und meine Freundin, diese Natascha, ich habe dir von ihr erzählt …«

»Stundenlang«, seufzte Mojshe. »Was ist mit deiner Natascha?«

»Die will meinen fünfundvierzigsten Geburtstag ganz besonders festlich begehen! Die liebt mich so sehr, verstehst du!«

»Aha.«

»Ja, es ist nicht zum Beschreiben! Eine wunderbare Frau! Weißt du, was sie sich ausgedacht hat?«

»Was?«

»Wir feiern meinen Geburtstag auf dem Wiener Opernball! Der ist in der Nacht vor meinem Geburtstag! Toll, was?«

»Toll. War denn deine Natascha schon mal auf einem Opernball?«

»Nein.«

»Aha.«

»Was heißt aha? Ich war auch noch auf keinem! Natascha meint, ich soll ein paar Logen nehmen, damit ich meine besten Freunde und engsten Mitarbeiter einladen kann! Also, das gäbe eine Riesenhetz, Mojshe! Früher waren wir arme Schweine. Jetzt, jetzt sind wir alle wer und können die feinen Maxen machen!«

»Können wir, ja.«

»Würdest du kommen? Bitte, Mojshe! George Misaras kommt auch bestimmt!«

»Na, glaubst du, da bleib’ ich weg?« fragte Mojshe, fast beleidigt. »Wo wir doch so alte Freunde sind! Klar gehen wir alle zusammen mit dir 1965, zu deinem fünfundvierzigsten Geburtstag, auf den Wiener Opernball!«

Hurra, wir leben noch
cover.html
haupttitel.html
navigation.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
chapter133.html
chapter134.html
chapter135.html
chapter136.html
chapter137.html
chapter138.html
chapter139.html
chapter140.html
chapter141.html
chapter142.html
chapter143.html
chapter144.html
chapter145.html
chapter146.html
chapter147.html
chapter148.html
chapter149.html
chapter150.html
chapter151.html
chapter152.html
chapter153.html
chapter154.html
chapter155.html
chapter156.html
chapter157.html
chapter158.html
chapter159.html
chapter160.html
chapter161.html
chapter162.html
chapter163.html
chapter164.html
chapter165.html
chapter166.html
chapter167.html
chapter168.html
chapter169.html
chapter170.html
chapter171.html
chapter172.html
chapter173.html
chapter174.html
chapter175.html
chapter176.html
chapter177.html
chapter178.html
chapter179.html
chapter180.html
chapter181.html
chapter182.html
chapter183.html
chapter184.html
chapter185.html
chapter186.html
chapter187.html
chapter188.html
chapter189.html
chapter190.html
chapter191.html
chapter192.html
chapter193.html
chapter194.html
chapter195.html
chapter196.html
chapter197.html
chapter198.html
chapter199.html
chapter200.html
chapter201.html
chapter202.html
chapter203.html
chapter204.html
chapter205.html
chapter206.html
chapter207.html
chapter208.html
chapter209.html
chapter210.html
chapter211.html
chapter212.html
chapter213.html
chapter214.html
chapter215.html
chapter216.html
chapter217.html
chapter218.html
chapter219.html
chapter220.html
chapter221.html
chapter222.html
chapter223.html
chapter224.html
chapter225.html
chapter226.html
chapter227.html
chapter228.html
chapter229.html
chapter230.html
chapter231.html
chapter232.html
chapter233.html
chapter234.html
chapter235.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
hinweise.html