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Und mit der Wildheit eines Stiers nach vorn.
Und mit aller Wollust dieser Erde wieder zurück.
Nach vorn. Zurück. Ach, welche Wonne, ach, welches Glück. Blödsinniger Werbespruch: ›Nur fliegen ist schöner‹. Das Schönste auf der Welt war und ist und wird zu allen Zeiten bleiben: das da! Und vor. Und zurück. Gibt natürlich viele unter uns, die dabei mächtig schwitzen, dachte er. Richtig tropfen. Den Süßen ins Gesicht. Zwischen die Brüste. Auf den Bauch. Haben mir Frauen erzählt.
Und wieder nach unten. Und wieder – langsam! – nach oben. Ich, dachte er, tropfe niemals. Glückspilz, der ich bin. Heiß wird mir natürlich. Ist ja auch eine Anstrengung. Komisch, so heiß wie diesmal ist mir noch nie gewesen. Man muß schon sagen: gottverflucht heiß.
Und stellte mit blankem Entsetzen fest: Über seine Nase rann ein Schweißtropfen! Fiel abwärts.
Drip!
Und ein zweiter.
Drip!!
Entsetzlich.
Drip!!!
Ein dritter.
Grauenvoll, dachte er. Bin ich heute so aufgeregt? Oder werde ich alt? Oder was ist sonst los? Ich halte ja immer die Augen geschlossen dabei. Konzentriert man sich besser. Aber jetzt will ich doch eines riskieren. (Ein Auge.) Er riskierte eines. Danach ward ihm von einem Sekundenbruchteil zum anderen nicht mehr siedend heiß, sondern eisig kalt.
Ach du liebe Güte!
Kein Wunder, daß ich so schwitze.
Unter mir brennt ein Feuerchen. Wenn der Tank von einem Rolls-Royce, Marke ›Silver Shadow‹, explodiert, und wenn dabei das Benzin in Brand gerät – eijeijei! Ich habe einen Rolls-Royce, Marke ›Silver Shadow‹. Ich habe noch vier andere Autos. Aber mit dem ›Silver Shadow‹ bin ich heute nacht gefahren.
Und vor. Und zurück. Und vor. Und …
Wieso eigentlich, bitte recht herzlich. Riskieren wir mal zwei Augen. Alle, die wir haben.
Ogottogottogottogott!
Er begann plötzlich zu bibbern wie Sülze. Wie sehr viel Sülze. Nur nicht runterfallen, dachte er verzweifelt, nur nicht runterfallen, mitten hinein in das hübsche Feuerchen. Er lag, wie er jetzt feststellte, in der Gabelung zweier Äste eines großen Baumes. Der Baum stand direkt am Abhang einer Schlucht. Links von ihm befand sich die Brücke einer Autobahn mit durchbrochenem Geländer.
Durchbrochenem …
Und jetzt, schlagartig, erinnerte er sich.
Jetzt weiß ich wieder alles! Ich bin auf der verschneiten, vereisten Bahn der vereisten, verschneiten Brücke ins Schleudern geraten. Bei einer Geschwindigkeit von hundertzwanzig Stundenkilometern. Und mit einem Blutalkoholspiegel von ohne jeden Zweifel über zwei Promille. Auf und nieder. Nieder und auf. Aber jetzt macht mir das überhaupt keinen Spaß mehr. Sondern sozusagen im Gegenteil.
Das da, zu meiner Linken, ist eine Brücke. Muß sie sein. Ich erinnere mich, daß ich vor der Brücke ein gelbes Schild mit der Aufschrift WEYARN gesehen habe. Um Gottes willen, das ist ja die Mangfallbrücke! Das Tal da unten, in dem mein Rolls-Royce brennt, schätze ich auf gut und gerne siebzig Meter Tiefe, und ich bin ein hervorragender Schätzer. Und das Vor und Zurück, das mich so entzückt hat vor fünf Minuten noch, kommt vom Vor und Zurück der Äste, in die ich geflogen bin. Offenbar aus dem Rolls geschleudert, als der das Gitter durchbrach. Massel muß der Mensch haben.
Hm.
Feuerchen … Feuerchen …
Mit einem hübschen großen Feuerchen hat doch alles angefangen vor vielen, vielen Jahren. Wo war dieses andere Feuerchen? Warum brannte es?
Er grübelte.
Es kam nicht das geringste dabei heraus.
Infolgedessen fing er an zu beten.
Lieber Gott, ich flehe Dich an, wenn es Dich gibt, errette mich! Bitte! Ich will dann auch an Dich glauben, und ich will allen Menschen sagen, daß es Dich gibt und daß sie an Dich glauben müssen, nur laß mich jetzt mit dem Leben davonkommen. Du hast es schon oft getan, aber so brenzlig war es noch nie, Himmelarsch und – verzeih, lieber Gott, verzeih! Laß die Äste nicht abbrechen. Laß mich nicht hinunter in die Flammen meines ›Silver Shadow‹ fallen. Ich trete auch wieder in die Kirche ein. Ich wäre ja nie ausgetreten, wenn die Kirchensteuer nicht so irrsinnig hoch – hopps, Herrjeses, um Christi willen, jetzt wäre ich fast abgerutscht! Wegen eines sündhaften Gedankens. Meinetwegen sollen sie die Kirchensteuer doppelt so hoch ansetzen, die Geistlichen Herren. Dreimal so hoch! Nur laß mich von dem Baum da runter und in Sicherheit kommen, Vater im Himmel, Du!
Er machte eine kleine Bewegung.
Sogleich knirschten sämtliche Äste, die der Baum besaß. Der Baum selber knirschte auch. Ojojojoj. So geht das nicht. Ich muß zurückrobben. Wie ich in Rußland vorgerobbt bin in diesem Dorf, wie hieß es gleich? Lyubcha hieß es, Donnerwetter, was für ein Gedächtnis ich habe, vorgerobbt mit drei Hohlhaftladungen. Ich bin ein sportgestählter Mensch. Immer gewesen. Ein Stalinpanzer und zwei T 34 sind hochgegangen. Aber keinem Menschen ist ein einziges Haar gekrümmt worden! Weder den russischen Soldaten noch mir. Denn ich habe in einer Scheune gelegen und gewartet, bis sich alle Herren Rotarmisten zur Ruhe begeben hatten. Und ich habe die Panzer auch nicht zum Spaß kaputtgemacht, Du weißt, lieber Gott, was so ein Stalin oder so ein T 34 kostet, wieviel Arbeit darin steckt. Ich habe es einfach tun müssen, weil die verfluchten Hunde von dieser ›Alarmkompanie‹, in die sie mich strafhalber gesteckt haben, nachdem ich die Verlobte jenes Ritterkreuzträgers aufs Kreuz gelegt … Lieber Gott, ich bin besoffen!
Heilige Jungfrau Maria, jetzt ist da unten auch noch der Reservetank explodiert. Schon zum zweitenmal, daß ich mit einem Rolls-Royce solchen Ärger habe. Das erstemal, in Neumexiko, da ist mir einer plötzlich stehengeblieben. Einfach stehen! Die Benzinpumpe total im – verzeih, verzeih, lieber Gott! Da habe ich aus dem nächsten Kaff nach London telegrafiert an Rolls-Royce, daß der Wagen reparaturbedürftig ist. Und die haben zurücktelegrafiert: ›rolls royce niemals reparaturbedürftig stop mechaniker kommt mit nächster maschine bea.‹
So ist es gut! Immer schön weiter zurückrobben! Zwanzig Zentimeter habe ich schon geschafft. Höchstens drei Meter habe ich noch.
In der Tiefe, sehr klein, sehe ich jetzt Menschen auf den Steilhängen herumklettern, Männlein, Weiblein. Höre, sehr undeutlich, ihre Stimmen …
»Der wo in dem Schlitten gsessn is, den gibt’s nimmer, den hat’s zrissen!«
»Nacha müssat aba doch wenigstens der Kopf und die Haxn und ois andere da rumkugeln! I find aba nix!«
»Natürli war er bsoffn! Gschieht eam ganz recht! Bsoffne Sau.«
»Zum erstenmal seit sechs Wocha hob i wieda richtig gschlaffa! Und da muaß si der Depp darenna! Die glaubn aa, sie kenna si ois erlaubn, de Kapitalisten, de dreckatn!«
Ermutigend, solch Stimmchen zu hören. Wahrlich, ich sage euch … Sirenen.
Wieso Sirenen?
Ach, hat wohl jemand die Feuerwehr alarmiert. Kommen sie schon über die verschneiten Felder gebraust, die braven Buben. Schön groß und rot, die Feuerwehrwagen mit den kreisenden Lichtern. Verdammt, jetzt wäre ich fast wieder hinuntergekracht! Langsamer, Mensch, langsamer robben! Und verzeih das ›verdammt‹, lieber Gott, bitte. Kommt alles nur, weil ich blau bin, so blau, so blau. Damals, in Rußland, war ich stocknüchtern. Und bin auf einem Sandboden gerobbt, nicht auf einem vereisten, rissigen Ast. Und kam direkt aus einem Lazarett und nicht direkt vom Wiener Opernball. Und hatte eine Landseruniform an, eine verdreckte, und nicht einen verdreckten Frack wie jetzt. Verdreckt ist er und zerrissen, der Kragen erwürgt mich fast, und mit dem elenden Ding hätte ich mir eben um ein Haar ein Auge ausgestochen. Das elende Ding da ist das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹.
Sie haben es mir heute vormittag – nein, gestern vormittag! – feierlich verliehen. Und Punkt Mitternacht, auf dem Opernball, sind sie dann alle gratulieren gekommen. Jetzt ist es sechs Minuten nach sechs Uhr früh, erkenne ich auf meiner Armbanduhr, die – Dir sei es gedankt – ein Leuchtzifferblatt hat. Vor sechs Stunden also ist das gewesen. Siehst du, Jakob, du kannst noch richtig zählen, du hast noch alle Tassen im Schrank, du erinnerst dich an den Opernball. Bundeskanzler Dr. Josef Klaus (Österreichische Volkspartei, rechts, schwarz, aber ein ganz reizender Mensch) hat den grippekranken Bundespräsidenten Adolf Schärf (Sozialdemokratische Partei Österreich, links, rot, aber auch ein ganz reizender Mensch) vertreten.
Noch langsamer robben!
Das Jahr 1965 fängt an …
Das neue Jahr wird in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Feuerwerk für 50 Millionen Mark begrüßt.
Der Frankfurter Zoodirektor Dr. Bernhard Grzimek kämpft erbittert gegen Leopardenpelze.
Am 5. Januar wird Konrad Adenauer, deutscher Bundeskanzler von 1949 bis 1963, 89 Jahre alt.
Seit 6. Januar bewohnt der arabische Exkönig Ibn Saud das 12. Stockwerk des Wiener Hotels ›Intercontinental‹. Mit ihm sind gekommen: eine ungenannte Zahl seiner insgesamt 22 legitimen Söhne; 40 Hofbeamte; nicht wenige Haremsdamen (wieviel, wird weder von der Polizei noch vom Hotel verraten); drei Ärzte mit Sauerstoff-Flaschen und Blutkonserven. Ibn Saud ist seit 1959 Ehrenpräsident des Kreisverbandes Freiburg im Bund der Kinderreichen.
Am 25. Januar stirbt Winston Churchill, von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955 britischer Premierminister, 90 Jahre alt.
In der UdSSR ist am 14. Oktober 1964 Nikita Chruschtschow von allen seinen Ämtern entbunden worden. Zu seinen Nachfolgern Leonid Breschnew als Parteichef und Aleksej Kossygin als Ministerpräsident tritt als Staatspräsident Nikolaj Wiktoriwitsch Podgorny.
Am 4. Februar 1965 wird Professor Ludwig Erhard, der »Vater des deutschen Wirtschaftswunders« und seit 1963 Bundeskanzler, 68 Jahre alt.
Seit diesem Jahr starrt man in der BR auf das Gespenst der »Rezession«: Die privaten Einkommen wachsen stärker als die Erträge aus der Leistung der Wirtschaft.
Drittes Passierscheinabkommen (vorher 1963 und 1964) zwischen dem Senat von (West-)Berlin und der DDR: West-Berlinern ist ein zeitlich begrenzter Besuch von Verwandten in Ost-Berlin gestattet.
Man tanzt jetzt »Let Kiss« – zwei Hopser nach links, zwei nach rechts, dann ein Sprung vor, zwei zurück und schließlich drei Hüpfer nach vorn und ein Küßchen für den Partner.
In den USA erhält durch den Krieg in Vietnam die Rüstungsindustrie im Jahr 1965 zusätzlich Aufträge in Höhe von 1 700 000 000 $.
Am 25. Februar findet der Wiener Opernball statt – es ist der zehnte seit Kriegsende. Als die letzten Besucher sich gegen vier Uhr morgens zur traditionellen Gulaschsuppe in der Eden-Bar treffen, wirft dort, wie der Münchner Klatschkolumnist Hunter notiert, ein Unbekannter eine Stinkbombe.
Heute, am 26. Februar 1965, habe ich Geburtstag. Meinen fünfundvierzigsten. Hätte ich mir natürlich auch nicht träumen lassen, daß ich meinen fünfundvierzigsten Geburtstag so – Vorsicht, Gabelung! – verbringen werde.
Sechstausend Gäste sind in der Staatsoper gewesen. Ich war die absolute Attraktion. Hab’ ich mir zumindest eingebildet. Wie sehr viele andere auch. Das österreichische Wunderkind!
»Lassenses brenna, Chef, der Bsoffene is hin, der pickt da oben irgendwo im Schnee!« Eine zwitschernde Stimme aus der Tiefe. Nein, zartes Kind, das da gerufen hat, indessen die braven Buben von der Feuerwehr Schaum zu verspritzen begannen, picken tu ich nicht im Schnee, sondern hier oben auf dem Baum, und hin bin ich auch noch nicht. Der Allmächtige wird mich jetzt nicht sterben und verderben lassen. Hoffentlich.
Dieses ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band‹ macht mich noch wahnsinnig. Eben hätte ich mir fast den Hals aufgeschlitzt daran. Eine Freude haben sie mir bereiten wollen zu meinem Geburtstag. Und dann – Achtung, da kracht ein Zweig! – die Mitternacht! Geht da die Tür von der mittleren Loge auf (ich habe ein paar Freunde eingeladen und drei Logen gehabt), geht da also die Tür auf, und herein kommt der Kreisky und sagt …