35

Kinder greinten, schrien und weinten. Frauen verfluchten diese Zeit und diese Welt, husteten und niesten in dem scheußlichen Gebäude. Die Menschen, die hier auf Jakob und Wenzel einredeten, sie beschworen, anbettelten und anflehten, waren abgemagert und dick vermummt mit elendem, altem Zeug, denn in Heinrich Himmlers einstmaligem Heim in Waldtrudering war es eiskalt. Beim Sprechen quoll allen der Atem in weißen Wolken aus den Mündern, Kindern und Frauen. Sehr junge, sehr alte sah Jakob – keinen Mann.

Nervös fingerte er an der alten, vertrockneten Hasenpfote, dem Geschenk seines Freundes Jesus Washington Meyer, in der rechten Hosentasche herum. Hier kann nicht einmal mehr die Wunderpfote helfen, dachte er verzweifelt. Verflucht, es ist einfach alles zu lange gutgegangen! So etwas hat ja kommen müssen! Da haben wir jetzt die Bescherung.

Im obersten Stockwerk schrie eine Frau von Zeit zu Zeit gellend. Ein Arzt war bei ihr. Sie bekam ein Kind. Ein Kind in dieser Zeit und an diesem Ort, dachte Jakob. Armes Kind. In was für eine Welt hinein wirst du geboren! Und wozu? Wärst du doch geblieben, wo du warst …

Jakob empfand ein jähes Gefühl des Zorns. Hätte der Kerl von dieser Frau nicht rechtzeitig bremsen können? Es gibt Millionen Flüchtlinge, dachte er, müssen ausgerechnet auch hier welche leben? Die Überlegung war nicht logisch, aber Jakob war im Moment nicht fähig, logisch zu denken, und was er dachte, entsprang, unter Umgehung des Kopfes, direkt seinem Herzen …

»Ruhe!« schrie er sehr laut, weil ihm sehr mies war. »Es genügt, wenn die Dame hier mir die Lage erklärt! Alle auf einmal kann ich nicht verstehen!«

Die Dame, auf die er mit dem Kinn wies, war eine etwa dreißigjährige Frau, deren Haar vollkommen weiß glänzte. Wie der Schnee draußen, dachte Jakob hilflos. Der Sturm hat aufgehört. Man muß für alles dankbar sein. »Diese Kinder, Mädchen, Frauen und Großmütter«, sagte indessen die Weißhaarige, »sind seit vielen Monaten auf der Flucht und auf dem Transport von einem Lager ins andere. Wie ich. Ich komme aus Ostpreußen. Andere Frauen auch. Dann gibt es welche aus Pommern, Mecklenburg, Thüringen, dem Sudetenland … Sie sind in vielen Lagern gewesen und immer wieder abgeschoben worden. Weil die Lager überfüllt waren. Weil sie geschlossen wurden, nachdem dort eine Epidemie ausgebrochen war. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß solche Menschen gerade zu Hunderttausenden kreuz und quer durch ganz Europa ziehen.«

»Nein«, sagte Jakob beklommen, »das brauchen Sie nicht, Frau …«

»Bernau. Ich war Lehrerin. Mein Mann ist gefallen, meine beiden Kinder sind verhungert. Ich habe Glück gehabt. Ich muß nur noch für mich selber sorgen. Aber da gibt es Frauen mit fünf, sechs und mehr Angehörigen hier … Wirklich, es tut mir leid, Herr Formann.«

»Was?«

»Sie haben mir so schöne Papiere von den Amis gezeigt, daß Sie berechtigt sind, den Himmler-Hof zu übernehmen – und jetzt finden Sie uns vor.« Die Gebärende schrie wieder. »Natürlich werden wir den Anordnungen der Militärregierung folgen und weiterziehen. Von diesem verkommenen Hof zu einem verkommenen andern. Gott wird uns helfen.«

»Ich will mich ja nicht einmischen«, sagte Wenzel und tat es, »aber ausgerechnet auf den würde ich mich nicht so verlassen in Ihrer Situation!«

»Gott schuf diese Erde …«, begann die Lehrerin.

»Ja, ja, ja«, unterbrach sie Wenzel. »Ich hab’ auch die Bibel gelesen, Frau Bernau. Gott schuf diese Erde in sieben Tagen, und siehe, er fand sehr gut, was er gemacht hatte. Vielleicht hätt’ er sich aber doch ein paar Tage mehr Zeit lassen und eine weniger gute Meinung von seinem Job haben sollen … Schauen Sie mich nicht so an. Für den Mantel kann ich nichts! Den haben mir die Amis geschenkt!«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte die Lehrerin. »Aber lästern brauchen Sie auch nicht. Haben Sie keine Angst, daß hier jemand Widerstand leistet und nicht gehen will. Von uns hat keine mehr auch nur einen Funken Kraft, Widerstand zu leisten. Es wird nur eine kleine Weile dauern, bis wir verschwunden sind.«

»Wovon leben Sie?« fragte Jakob. »Ich meine: Was essen Sie?«

»Wenig«, sagte die Lehrerin. »Das, was wir von den Bauern erbetteln, und das, was uns die Amis geben. Die Bauern geben fast nichts, weil wir nichts mehr haben, was wir ihnen geben könnten. Sie kommen aus München?«

»Ja. Mit dem Fahrrad.«

»Das ist doch mächtig weit! Und bei dem Wetter.«

»Ein Vergnügen war es auch nicht gerade, Frau Bernau«, sagte Wenzel. Die Gebärende schrie.

»Komm, Wenzel«, sagte Jakob. Der starrte ihn an. »Hast du nicht gehört?«

»Doch. Aber dann geht das ja nicht, was wir machen wollten.«

»Es geht auch nicht, daß wir alle diese Frauen und Kinder verjagen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, wir werden übernachten müssen irgendwo.«

»Wo willst du hin?«

»Zum Tegernsee.«

»Herrjeses!« Wenzel fuhr zurück. »Der Mann hat den Verstand verloren! Tegernsee? Weißt du, wo das ist?« Jakob nickte freundlich. »Aber warum willst du dahin?«

»Das sage ich dir nachher«, erwiderte Jakob. Es war plötzlich sehr still in dem scheußlichen Gebäude. Dann entstand ein Raunen, ein Rufen, frohes Gelächter. Eine der Frauen sagte der nächsten etwas. Zuletzt hatte es Frau Bernau gehört. Die lächelte.

»Mir ist was eingefallen«, sagte Jakob indessen zu Wenzel. »Weißt du, ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant. Und während dieser Rederei habe ich mich an etwas erinnert … Warum lächeln Sie, Frau Bernau?«

»Die Schwangere oben …«

»Was ist mit ihr?«

»Sie hat ein Mädchen zur Welt gebracht, eben. Das Kind braucht nie Soldat zu werden. Ist das nicht wunderbar?«

»Ist das nicht was?« fragte Jakob.

»Sei ruhig«, sagte Wenzel. »Unsere herzlichsten Glückwünsche der Mutter und Ihnen allen hier. Ich hoffe, Sie hören bald wieder von uns. Und Gutes! Auf Wiedersehen, Frau Bernau.«

»Auf Wiedersehen, meine Herren. Und Gott segne Sie!«

»Ja«, murmelte Jakob, der schon die Haustür aufmachte und in den Schnee hinausstapfte, »wäre schön, wenn Gott das jetzt tun würde.«

Auf der Straße blieb er plötzlich stehen und schüttelte den Kopf. »Was hast du?« fragte Wenzel.

»Glücklich«, sagte Jakob. »Hast du das gehört? Die sind alle so glücklich da drinnen, weil ein Kind geboren worden ist. Jetzt und hier. Glücklich! Mensch, man ist doch nicht schon deshalb glücklich, weil man nicht vergast worden ist wie Frau Kohn!«

»Du siehst das falsch, Jakob. Paß mal auf: In unserem ganzen Denken ist ein Fehler drin, aber der ist grundsätzlich: Die Menschen leben nicht nach der Ratio …«

»Nach der wie bitte?«

»Nach der Ratio. Weißt natürlich nicht, was Ratio heißt.«

»Nicht frech werden, Klugscheißer. Schließlich bin ich ja nicht in der Baumschule gewesen. Ratio heißt …«

»Ratio heißt Vernunft. Wir Menschen leben nicht nach der Vernunft, nicht so, wie wir wirklich glücklich sein könnten, ohne Kriege und Elend und all das. Und ich will dir mal sagen, was ich glaube.«

»Na was denn?«

»Ich glaube, tief in uns drin da ist etwas, das macht, daß wir gar nicht wirklich glücklich sein wollen! Beim Barras habe ich einen Koch gekannt, der hat es später bis zum Jagdschein gebracht, bis zum Paragraphen einundfünfzig, ein toller Kerl, der hat immer gesagt: Glück ist überhaupt nur kommunistische Propaganda!«

»Ja, so was fällt nicht jedem ein«, sagte Jakob und schwang sich aufs Rad.

»Los, vorwärts, zum Tegernsee! Mit den Rädern ist das ein Klacks!«

»Verflucht, aber was willst du am Tegernsee?«

»Sehen, ob’s die noch gibt.«

»Wen?«

»Die Nibelungentreue«, sagte Jakob und strampelte schon los.

Hurra, wir leben noch
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