37

»Jake! Mein Gott, Jake, wie ich mich freue, dich wiederzusehen!« Mit ausgestreckten Armen kam der Chef der Kulturabteilung der US Army Europe, Generalmajor Peter Milhouse Hobson, quer durch sein riesiges Büro auf Jakob Formann zu. Bevor Jakob es verhindern konnte, hatte ihn Hobson bereits an die Brust gedrückt und auf beide Wangen geküßt. Mit der neuen Uniform und den neuen Rangabzeichen sieht er noch vertrottelter aus, als er in Hörsching auf dem Fliegerhorst ausgesehen hat, dachte Jakob Formann selig, und er schlug Hobson krachend auf die Schulter.

»Ich freue mich auch, Peter«, sagte Jakob. Im nächsten Moment durchfuhr ihn eisiger Schrecken: Er sah, außer Wänden, die mit Theaterspielplänen beklebt waren, an einer Wand ein Bücherregal. In dem Regal standen dick, breit und in herrlichstes Leder gebunden, Bücher. Jakob sah genauer hin. Gesammelte Werke. Goldprägung. Shakespeare, Byron, Dickens …

Jakobs Blick umflorte sich, er konnte nichts mehr erkennen. Entsetzlich, dachte er bebend, der Chef der Kulturabteilung, dieser liebe Trottel, liest. Kann lesen! Ich bin verloren. Was ich vorhabe, funktioniert nie. Achgottachgottachgott …

»Setz dich, Jake, setz dich doch. Zigarette? Zigarre? Whiskey?«

»Ziga-garre und eine Co-coke, wenn’s recht ist, Peter.« Ich werde verrückt! Goethe! Ein ganzes Bord voll. Alles verloren …

»Na, aber ich genehmige mir einen kleinen. Die Wiedersehensfreude, Jake, die Wiedersehensfreude!«

»Ja-ha …«

Hobson zog drei Bände Shakespeare aus dem Regal. Jakob stand das Herz still. Will der mir jetzt ›Romeo und Julia‹ vorlesen? dachte er verzweifelt. Der Generalmajor stellte die drei Bände Shakespeare auf ein Bord. Jakob mußte die Augen schließen vor Erleichterung. Das waren ja gar keine Bücher! Das waren Attrappen! Die drei Bände Shakespeare verdeckten zwei Flaschen VAT 69. Coca-Cola gab es im Byron. Und hinter Goethe war ein veritabler niedriger Eisschrank versteckt! Der Generalmajor mixte die Drinks. Er strahlte. »Prima, wie?«

»Pri-pri-prima, Peter.«

»Geschenk vom Hauptquartier, als ich herkam. Aufmerksam, was?«

»Se-sehr aufmerksam. Gib mir ruhig auch einen Schuß Shakespeare in die Coke, Peter!«

»Here you are … Was machst du in Heidelberg, Jake?« lärmte Hobson.

»Wie bist du hergekommen?«

»Ach, das war ganz einfach, Peter. Danke sehr, ich schneide sie mir selber ab. Zuerst habe ich einen Güterwagenplatz erobert und bin nach Nürnberg gefahren. Kein Eis, bitte. Von Nürnberg dann in einem anderen Güterwagen bis Würzburg. Dort haben sie mich vier Tage lang eingesperrt …«

»Warum, um Himmels willen, Jake?«

»Großrazzia auf entsprungene SS-Männer.«

»Aber du bist doch nie SS-Mann gewesen!«

»Du weißt das und ich weiß es, Peter, aber mach das mal diesen Leuten klar!«

»Diese Idioten! Du hast doch amerikanische Papiere von höchster Stelle! General Clark, General Clay! Ja, da staunst du, daß ich das weiß, was? Ich verfolge deine Karriere aus der Ferne! Hahaha!«

»Hahaha! Die MPs haben gesagt, so mies gefälschte Papiere hätten sie noch nie gesehen.«

»Goddamnit, die hätten doch bloß Clark und Clay anzurufen brauchen!«

»Haben sie auch getan, Peter. Sind aber eben erst nach zwei Tagen daraufgekommen, daß das das einfachste ist. Und dann hat’s noch zwei Tage gedauert, bis sie telefonisch durchkamen!«

»Diese Armleuchter! Nenn mir Namen, Jake, ich werde durchgreifen! Rücksichtslos!«

»Ach, Peter! Schwachköpfe gibt’s überall. Deshalb bin ich ja auch zu dir gekommen.« Hobson nickte eifrig. »Weil sich da unten in Bayern ein paar Idioten ein Ding geleistet haben, das zum Himmel stinkt. Nur du kannst das in Ordnung bringen!«

»Was haben diese Idioten in Bayern denn angestellt?« Hobson begann vor Aufregung und Freude darüber, daß Jakob nur ihm so etwas zutraute, wieder im Zimmer hin und her zu rennen, wie seinerzeit im Tower des Fliegerhorsts Hörsching bei Linz.

»Von Würzburg an bin ich dann einen ganzen Tag getippelt«, plauderte Jakob verträumt, »und dann hab’ ich wunde Füße gehabt und mich an den Straßenrand gestellt und so mit dem Daumen gewinkt, und nach ein paar Stunden schon hat ein Laster gehalten, der ist aber nach Frankfurt gefahren, und so habe ich in Frankfurt einen anderen Güterwaggon erobert und bin bis Wiesbaden gekommen, und dann hat mich ein Schieber in seinem Chevrolet über die Autobahn bis hierher gebracht.«

»Was die Idioten in Bayern angestellt haben …«

»Hör zu, Peter, wenn du nicht sofort etwas unternimmst, wird man dich sehr bald zur Verantwortung ziehen.«

»Zur Verantwortung?« Hobson erbleichte und hielt sich an dem gesammelten Thackeray-Gin fest. »Wo … wofür denn?«

Jakob sog ernst an seiner Zigarre und ließ den Rauch durch die Nase quirlen. Dann nahm er einen Schluck stark mit Whiskey versetztes Coca-Cola zu sich. Schließlich sagte er sorgenvoll: »Du bist doch auch verantwortlich für historisch wichtige Stätten, Peter, wie?«

»Ich bin für alles Kulturelle verantwortlich … auch für historisch wichtige Stätten … Warum? … Was ist denn?«

»Etwas Unwiederbringliches, ein nicht mehr gutzumachender Verlust eines historischen Gebäudes steht zu erwarten«, sagte Jakob hart. Manchmal muß man hart sein.

»Unwieder … Jesus Christ, wovon redest du, Jake?« Hobsons Hand, die bei Thackeray Halt gesucht hatte, glitt bebend über alle möglichen Gesammelten Werke und krallte sich endlich um die von Schiller. Die Attrappen schwankten wie im Sturm. Aber der Schiller-Likör hielt stand.

»Ich rede von dem Gebäude in Waldtrudering, in dem Heinrich Himmler einst seine Versuche gemacht hat, deutsche Überhühner zu züchten. Du weißt natürlich von diesem Gebäude?«

»Von … Ich … Natürlich weiß ich von diesem Gebäude! Was ist mit dem, Jake?«

Natürlich hast du keine Ahnung, du Trottel, lieber, kleiner, dachte Jakob, da kann ich ganz beruhigt sein mit noch ein wenig mehr Verwegenheit (Chuzpe würde mein Freund Mojshe Faynberg das nennen. Wo der jetzt wohl ist und was er macht? Und seine Kameraden? Und … und … der Hase!). Keine Zeit, sentimental zu werden, dachte Jakob, doch ein wenig erschüttert durch die Erinnerung an Julia, den so sanften Hasen, und fuhr markig fort: »Das Gebäude, der ganze Himmler-Hof, steht unter Denkmalschutz und darf nicht beschädigt werden!« Dieser völlig frei erfundenen Behauptung fügte Jakob sicherheitshalber hinzu: »Sagte mir General Clark. Darum sollte ich ihn ja auch übernehmen – nicht den General Clark, den Himmler-Hof – und dafür verantwortlich sein, daß da alles erhalten bleibt.« (So was hat Clark nie gesagt, aber ich sage es, und der Trottel glaubt es, und ab diesem Augenblick steht der Himmler-Hof unter Denkmalschutz!) »Damit zukünftige Generationen, aber zunächst die Lebenden im Zuge der Re-education diese Stätte der Teufelei besichtigen können.«

»Wieso Stätte der Teufelei …« Und wenn sie mir den Generalmajor wieder wegnehmen, weil ich von nichts eine Ahnung habe? dachte Hobson in Panikstimmung. Diese verfluchten Hunde! Alle wollen sie meinen Posten! »Stätte der Teufelei, Peter, meine ich so: Du weißt doch von Himmlers Rassenwahn. Vom deutschen Übermenschen, den er züchten wollte auf diesen ›Lebensborn‹-Farmen, auf denen ausgesuchte blonde SS-Männer mit ausgesuchten deutschen blonden Mädchen – ich brauche nicht weiterzusprechen.«

»Nei-nein …«

»Darum der Denkmalschutz, Peter! Hier zeigt sich die diabolische Parallele: Deutsche Überhühner – deutsche Übermenschen!«

»Verstehe …«

»Und nun stell dir vor: Der Hof ist gerammelt voll mit Flüchtlingen, die natürlich in kürzester Zeit alles demolieren werden.«

»Augenblicklich gebe ich Befehl, daß dieser Hof zu räumen ist!«

»Aber das wäre unmenschlich, Peter.«

»Wieso, Jake?«

»Es sind nur Mädchen und Kinder und Frauen und Großmütter da, kein einziger Mann! Keine Kohlen! Die Kälte! Kaum etwas zu essen! Nein, nein«, sagte Jakob, die Beine von sich streckend und wieder an der Zigarre ziehend, »so geht das nicht, Peter! So nicht! Wir sind ja schließlich keine Faschisten, nicht wahr? Dieses Quartier des Satans muß für künftige Generationen erhalten bleiben – zur Mahnung und Belehrung. Eine Unterbringung von Menschen, und noch dazu von so vielen, wäre das Ende. Eine Unterbringung von Hühnern – unter meiner beständigen Aufsicht, versteht sich – hingegen bedeutete die Gewißheit, daß alles erhalten und nichts beschädigt wird. Im Gegenteil, dieser historisch wichtige Bau wird sorgsam konserviert.«

»Ja, aber du sagst doch selber, daß man Frauen und Kinder nicht rausschmeißen kann, ohne so barbarisch zu handeln, wie die Nazis gehandelt haben.«

»Sage ich ja, Peter.« Zug aus der Zigarre.

»Was soll ich aber dann um Himmels willen unternehmen?«

Jakob beugte sich vor, streifte die Aschenkrone von seiner Zigarre und erläuterte dem Generalmajor Peter Milhouse Hobson, was dieser unternehmen sollte.

Hurra, wir leben noch
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