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»Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, dear Jakob, happy birthday to you!« sang der Kanzler der Bundesrepublik Österreich, Dr. Josef Klaus, und viele, viele sangen mit.

Jakob mußte mit den Tränen kämpfen.

»Ich dank’ dir schön, Herr Kanzler«, sagte Jakob und fuhr sich mit einem Handrücken über die Augen. »Euch allen danke ich!«

Die beiden Herren standen einander in Jakobs mit dunkelrotem Samt ausgeschlagener Mittelloge gegenüber. Von hinten strahlten nun Scheinwerfer herein und verbreiteten eine grauenvolle Hitze. Kameras klickten ununterbrochen. Andere surrten. Fernsehen und Wochenschau. Und in Jakobs Hort, der normalerweise acht, höchstens zehn Personen aufzunehmen imstande war, drängten immer neue Menschen, um dem Geburtstagskind die Hand zu schütteln – Minister (sieben, acht, neun, zählte Jakob mechanisch mit), Generalsekretäre politischer Parteien (eins, zwei, drei, vier), ausländische Diplomaten (elf, zwölf, dreizehn). Jakobs Gäste, allen voran seine geliebte, göttliche Natascha, waren ohne Mitleid auf den Gang hinausgequetscht worden. Hoffentlich bricht die Loge nicht ab und kracht ins Parkett, dachte Jakob. Im Parkett befand sich ein großer Teil dessen, was man ›die Weltprominenz‹ nennt. Ein anderer Teil starrte aus Logen herüber.

Der Salztrick ist im Eimer, dachte Jakob, während er spürte, wie ihm Schweißbächlein über Brust und Rücken zu strömen begannen. Der Klaus sieht auch aus wie aus dem Wasser gezogen.

»Das ist der schönste Moment in meinem Leben, Herr Kanzler«, sagte Jakob. Haben mich also sechs rote Großkopfete hofiert, dachte er, und fünf schwarze, und jetzt noch der Kanzler! Die Kirche und die Kommunisten, sinnierte er, die wirklich außergewöhnlich vieles gemeinsam haben, beileibe nicht nur dies, daß ihre Großkopfeten nicht zum Opernball kommen, haben mir durch ihre Funktionäre ihre besten Wünsche übermitteln lassen. Na, sie haben ja auch alle, alle von mir Wahl- und andere Spenden erhalten, und das nicht zu knapp. Ich bin ein einfacher Mensch. Jeder einzelne von denen will doch eigentlich nur das Beste für die Menschen, wie ich das verstehe. Was soll man da machen? Muß man sehen, hehe, daß man ein gerechter Mensch bleibt und allen geben, dachte Jakob, in Erinnerung versunken, wieder achteinhalb Zentimeter vom Ast des vereisten Baumes über der Mangfallschlucht da bei Weyarn in Oberbayern zurückrobbend. Lieber Gott, hilf …

»Herr Formann, du bist ein Österreicher«, sagte der Kanzler. »Und wir alle sind stolz auf dich!«

»Ich hab bloß a bißl mehr Glück gehabt als andere«, murmelte Jakob verlegen.

»Immer noch die alte Bescheidenheit«, murmelte der Kanzler.

»Schau mal, Herr Formann, ich komm’ doch wirklich in der ganzen Welt herum, aber nirgendwo und bei niemandem hab’ ich so herrliche Eier gesehen wie bei dir!«

(Und wieder elf Zentimeter zurückgerobbt …)

»Herr Kanzler«, sprach Jakob, während an seiner linken Schläfe eine Narbe zu pochen begann, die ein Scharfschütze der Roten Armee, der sehr gut, aber nicht gut genug schoß, ihm einstens beschert hatte, »die Güte meiner Eier ist nicht mein Verdienst.«

Na also. Der Herr Minister für Kultur und Volksbildung. Noch ein Schwarzer!

»Wessen Verdienst denn?« fragte der Kanzler ernst. »Nur das deine. Es sind doch deine Eier! Und auch darüber freuen wir uns alle, und auch darauf sind wir stolz, daß es ein Österreicher ist, der die exquisitesten Eier der Welt hat!«

Beifall ringsum. Jakobs Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Tomate an. Er lächelte und verneigte sich beschämt in die Runde. Nelson Aldrich Rockefeller und seine Frau winkten ihm aus der Loge gegenüber zu. Er winkte zurück.

(Wenn ich mich jetzt wie ein Affe auf den Ast unter mir schwinge, gewinne ich mindestens einen Meter. Und verliere vielleicht das Leben. Er schwang. Der Ast brach nicht. Morgen nichts wie wieder rein in die Kirche!)

Das Orchester spielte den ›Donauwalzer‹, während Jakob den Blick durch die Staatsoper kreisen ließ und Minister, Präsidenten, Filmstars, Scheichs, Industrielle, Wissenschaftler, Künstler, Aristokraten, hinreißend schöne Frauen und hinreißend reiche Millionäre erblickte und grüßte. Und siehe, da ward es ihm übel, ganz plötzlich.

Das kam, weil Jakob keinen Alkohol vertrug. Weil er niemals frivolen Herzens Geistiges trank. Weil er stets auf seine Gesundheit bedacht war. Und das war sehr vernünftig von ihm. Manchmal natürlich, wie an diesem Abend, ging es einfach nicht anders. Seine neunzehn Gäste und er hatten bislang einundvierzig Flaschen ›Roederer Crystal‹ getrunken. Zwanzig leere weitere hatte der Kellner dazugestellt. Und Jakob, des Alkohols ungewohnt, fühlte, daß er blau war und immer blauer wurde.

(Und vor zwanzig Jahren kein Dach über dem Kopf. Schlafen, wenn du Glück hattest, in Wärmestuben. Ein Paar Stiefel für eine Zigarette. Tja …)

Jakobs neunzehn Gäste bewohnten allesamt Luxusappartements im nahen Hotel IMPERIAL Freunde aus Übersee hatte er mit einer Düsenmaschine, Typ Boeing 727, einfliegen lassen. Freunde aus Europa hatte eine ›Mystère‹ herangebracht. Er selber war mit einer zweiten ›Mystère‹ aus Istanbul gekommen. Der Flugpark gehörte ihm ebenso wie ein Fuhrpark von zwei Mercedes, zwei Porsche und einem Rolls-Royce, Typ ›Silver Shadow‹.

»Sei so gut, Herr Formann«, sagte die bekannteste Wiener Gesellschaftsintrigantin, »darf ich dich umarmen?«

»Aber bitte, natürlich«, sagte Jakob und dachte: In Österreich bleibt einem auch nichts erspart!

Und so wurde er denn umarmt und auf die rechte und auf die linke Wange geküßt.

(Genauso, wie ich meine Wahlspenden verteile, dachte er.)

Am Stamme angelangt!

Nun muß ich springen, runter in den Schnee. Jetzt werden wir gleich sehen, ob es Dich gibt, lieber Gott. Wenn es Dich nicht gibt, sause ich nach dem Sprung über den Steilhang ins Tal. Wenn es Dich gibt, bleibe ich oben.

Du kannst es Dir aussuchen, dachte Jakob und sprang.

Er blieb oben.

Längere Zeit konnte er nur liegen. Er keuchte. Er war schweißüberströmt, total erledigt. Seine Hände zitterten wie die eines alten Süffels. Ihm wurde wieder übel, mächtig übel. Alles kreiste um ihn. Vorsichtshalber legte er beide Arme um den Baumstamm und preßte eine Wange an die eisige Rinde. Also gibt es Dich, Gott. Gott sei Dank, dachte er. Das Leuchtzifferblatt seiner Uhr zeigte 6 Uhr 13.

Hurra, wir leben noch
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