51

»Ich werd’ verrückt! Formann! He! Jakob! Jakob Formann!« schrie der deutsche Kriegsgefangene, der mit einer Kolonne anderer Gefangener, bewacht von ein paar gelangweilten Soldaten, da am Hafen arbeitete.

Verflucht, dachte Jakob. Das kommt davon, wenn man ein feiner Mann sein und sich bilden will. Er machte kehrt und versuchte zu türmen. Der Kriegsgefangene aus der Kolonne brüllte: »Mensch, Jakob! Was hast du denn? Ich bin’s doch, der Otto Radtke! Schau mich doch an! Orel! Kannst du dich nicht mehr erinnern, wie du mich zum Verbandsplatz geschleppt hast?«

Jetzt kommt der Radtke mir mit Orel, dachte Jakob wütend. Da muß man drei Tage warten, bis die Schecks, die man ausgeschrieben hat, in New York eingetroffen und bestätigt worden sind, damit man endlich diesen Schieber richtig aufs Kreuz schmeißen kann. Da fährt man drei Tage aus Brüssel weg mit einem gemieteten Wagen – nach Gent und Ostende und Zeebrügge und natürlich auch Antwerpen, und weil man doch gar nichts weiß und kann und einem solche Sachen wie die mit der Fingerschale und den Austern passieren und man nichts von Literatur und Malerei und Geschichte versteht, eben darum will man sich bilden und geht in Museen und weiß jetzt, zum Beispiel, daß die Meister der südniederländischen Malerei van Dyck, Matsys, Teniers, Rubens und noch ein paar andere sind, die man jetzt auch kennt, und man schaut sich die Pinseleien in den Kirchen und in der Kunstakademie hier und das Rubenshaus und eine Masse anderes Zeug an (viel zu fett, diese Weiber, die der Rubens gemalt hat!), und dann steht im Stadtführer, den man sich gekauft hat, man muß unbedingt den Hafen besichtigen, neben Hamburg und Rotterdam den bedeutendsten Seehafen Europas, im Scheldebogen gelegen, auswendig lernt man das, gottverflucht, herfahren tut man, herumlaufen tut man in Schnee und Dreck, nahe ran an die Hafenbecken, weil man gesehen hat, da schuften sich arme Landserschweine ab in ihren verdreckten Uniformen, mit dem weißen PW auf dem Mantel- oder Jackenrücken. Und dann!

Natürlich kenne ich diesen Radtke, der so schreit, weil er mich erkannt hat. Als wir wieder mal eine ›Frontbegradigung‹ in Rußland vorgenommen haben, hat’s ihn erwischt, nicht sehr gefährlich, Steckschuß im rechten Schenkel, aber er hat nicht laufen können, ich hab’ ihn auf den Rücken genommen und zum Verbandsplatz geschleppt, und daran erinnert der Kerl sich, was fällt dem ein, man war und ist immer viel zu gutmütig.

Der Kerl schreit schon wieder. Mensch, halt doch deine dämliche Schnauze. Nix zu machen. Hält sie nicht. Da sind jetzt schon mindestens zwei Dutzend Kameraden aufmerksam geworden, und ein paar von den Wachtposten zeigen auch ein müdes Interesse. Mist verdammter, ich muß zum Radtke, sonst schreit der Kerl so lange, bis ganz Antwerpen zusammenläuft. Wirklich, ich könnte mir selbst in den Hintern treten. Da sieht man es wieder: Wer sich in Kultur und Bildung begibt, kommt darin um! Also jetzt nix wie zum Radtke und gezischt: »Halt’s Maul, ich flehe dich an!«

Gott sei Dank schneit es, und es ist bereits sehr dämmerig. Kalter Nordwind, richtiges Dreckwetter. Die Posten haben schon wieder jedes Interesse verloren und stapfen herum, weil ihnen kalt ist. Die amerikanischen Soldaten, die alle Waren im Hafen bewachen sollen, hocken in ihren Baracken, die sind nicht so dämlich wie ich.

»Aber …«, begann Radtke, mit großen Augen, treuherzig wie ein Bernhardiner. »Aber … wieso bist du raus? Und so ein feiner Pinkel? Was machste denn hier? Richtig entlassen?«

»Ich hab’ mich selber entlassen.« Jakob bemerkte, daß ihn viele unfreundliche Gesichter ansahen. »Meine Herren, es ist ganz unnötig, mich so anzusehen«, sagte er lässig. Das Rasiermessergefühl – da war es wieder. Wohlig fühlte er es den Rücken hinabrieseln. Wird schon schiefgehen! Er sah viele Waggons. Die Waggons wurden mit Kisten und Kartons beladen.

»Wieso bist du in Antwerpen?« fragte Radtke. »Dich haben doch damals die Russen geschnappt!«

»Leise!« sagte Jakob. Weit hinten, auf dem Damm, sah er zwei Amis mit Maschinenpistolen. Die bemerken uns nicht, dachte er. Außerdem haben sie diese pelzgefütterten Windjacken mit Kapuzen. Denen ist alles zum Kotzen, die wollen sich nur warm halten, darum laufen sie so. Es ist doch in allen Armeen dasselbe mit den armen Soldaten. Während er das dachte, hatte er flüsternd von seiner Selbstbefreiung aus russischer Gefangenschaft berichtet. Er schloß bewegt: »Dich haben sie dann noch an die Westfront geschickt, Radtke, du arme Sau.«

»Wir sind alle arme Säue«, ließ sich ein anderer Gefangener vernehmen.

»Das kann ich euch nachfühlen«, sagte Jakob. »Aber ihr seid noch nicht die ärmsten. Ihr seid bei den Amis. Da kriegt ihr wenigstens genug zu fressen und zu rauchen und zu trinken.«

»Schon, aber …«

»… aber eure Familien in Deutschland, ich weiß, ich weiß«, Jakob nickte.

»Das ist eine mächtige Scheiße.«

»Kann man wohl sagen«, ertönte eine dritte Stimme. »Was soll das Gequatsche? Wenn du uns hier vielleicht geistlichen Trost spenden willst, dann hau bloß ab! Wir haben den Kanal voll, wir wollen nichts wissen!«

»Vielleicht doch«, sagte Jakob. »Was, zum Beispiel, ist in den Kartons, die ihr da gerade in den Waggon verladet?«

»Präservative.«

»Was?«

»Na, Überzieher, Mensch. Kapierst du das nicht?«

»Ach so«, sagte Jakob. Er multiplizierte und dividierte bereits.

Das war eine Krankheit bei ihm geworden. Wann und wo er sich befand, wann und wo sich auch nur die kleinste Gelegenheit bot, ein Geschäft zu machen, Geld zu verdienen – er mußte dabeisein! Immer tätig, niemals ruhend. Sein Krieg! Sein Krieg! Er mußte doch seinen Krieg gewinnen!

»Nicht so’ne dreckigen Überzieher, die wir hatten«, sagte Radtke.

»Mensch, der Ami ist vielleicht ein reinlicher Mensch. Das sind sogenannte Pro-Kits!«

»Kenne ich.«

»Nanu, woher?«

Das Rattern von zwei Maschinenpistolen ließ Jakob zusammenfahren. Die andern blieben gelassen.

»Was war das?«

»Die Doppelwache auf dem Damm. Das machen die um diese Zeit immer. Da ist eine ewige Schießerei im Gange. Immer wenn die Flut kommt.«

»Wieso dann?«

»Dann sind unsere Baracken den Ratten zu feucht«, erklärte Radtke. »Ihr habt Ratten in euren Baracken?« interessierte sich Jakob.

»Sage ich doch. Woher du Pro-Kits kennst, hab’ ich gefragt!«

»Ich hab’ für die Amis gearbeitet … als Dolmetscher … in Wien … Kameraden, wie ich euch so sehe, kann ich mir vorstellen, wie euch zumute ist. Ich habe gerade nichts zu tun. Da könnte ich ein kleines Geschäft mitnehmen. Bei so einem Pro-Kit ist einiges in die Stanniolfolie geschweißt. Die Überzieher. Eine Tube Penicillin-Salbe zum Nachher-gleich-Reindrücken, damit’s keinen Tripper oder was Schlimmeres gibt. Ein Seifentaschentuch, gefaltet. Wieviel Pro-Kits verladet ihr in diese Waggons?«

»Der wird nur halb gefüllt, wie du siehst, Jakob. Das werden so vielleicht drei Millionen Stück sein.«

»Habe ich ungefähr geschätzt. Mein Vorschlag, Kameraden – und der Radtke weiß, daß ich ein ehrlicher Mensch bin! Ihr stellt mir kurz eure Arbeitskraft zur Verfügung. Jeder gibt mir die Adressen seiner Angehörigen in Deutschland. Ich verspreche, daß jede Familie fünf CARE-Pakete bekommt, und das ist sehr bald.«

»CARE-Pakete kannst du doch bloß in Amerika bestellen. Die verpacken alles drüben, und wer zehn Dollar zahlt, für den wird in Deutschland so ein CARE-Paket geliefert!«

»Ich habe einen Freund in New York«, sagte Jakob ungerührt. (Die kleine Gefälligkeit wird mir der Rubi doch noch erweisen!)

»Ich mache mit«, sagte Radtke. »Und ihr könnt auch alle mitmachen. Ich kenne den Jakob. Der bescheißt euch nicht!«

»Schreibt alle eure genauen Adressen hier rein. Aber leserlich!«

Jakob gab Radtke ein Notizbuch.

Während ein Gefangener nach dem anderen schrieb, erklärte Jakob das Technische. Der Waggon mußte noch abgefertigt und geschlossen werden, bevor die Gefangenen mit der Arbeit aufhören konnten, erfuhr er von Radtke.

»Dann schreie ich nach dem Corporal, und der kommt mit Draht und Plomben und versiegelt den Waggon. Dann kommt eine Rangierlok und schleppt den Waggon raus auf den Güterbahnhof.«

»Ist der bewacht?«

»Ja. Aber was glaubst du, was da trotzdem geklaut wird? Denn die Waggons – wir entladen ja nicht nur Präser! –, die bleiben bis morgen früh dort stehen. Dann wird eine Zuggarnitur zusammengestellt. Du mußt mir deine Adresse geben, Jakob. Einmal werde ich ja hier rauskommen, und dann such’ ich dich vielleicht.«

»Am besten, du wendest dich an die Adresse von Heinrich Himmler in Waldtrudering bei München«, sagte Jakob.

Hurra, wir leben noch
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