57

»Sie verfluchter Hund«, hörte Jakob eine Stimme toben. Es war am 9. Februar 1947. Jakob saß auf einer Kiste in einer der zweckentfremdeten ehemaligen Fabrikhallen nicht weit von Frankfurt am Main. Auf einer anderen Kiste saß Wenzel Prill. An die siebentausend Küken zwitscherten um sie herum. Von draußen donnerte es weiter: »Faule Sau! Glauben Sie, ich sage Ihnen zehnmal, Sie sollen Ihre Batterien reinigen? Mann, waren Sie vielleicht in der Partei?«

Eine ängstliche Stimme: »Nein, bitte.«

Die tobende Stimme: »Warum nicht? … Eh, ich meine: Wo waren Sie, als die Mörder herrschten?«

»An der Front …«

»SS

»Auch nicht. Ga … ganz normaler Schütze Arsch …«

»Zum Kotzen! Wenn Sie in der Partei oder in der SS gewesen wären, dann könnte ich jetzt wenigstens Ihren Ausschluß beantragen … eh, Ihre Bestrafung fordern! Faules Pack! Glaubt wohl alle, ihr seid noch unterm Hitler, was? Habt nicht gemerkt, daß eine neue Zeit angebrochen ist – wie?«

»Wem gehört denn das kräftige Stimmchen?« fragte Jakob.

»Hölzlwimmer heißt der Kerl. Mein Stellvertreter, wenn du willst.«

»War dieser Hölzlwimmer im Gefängnis oder im KZ

»KZ! Gefängnis! Mensch, ich lach’ mich kaputt! Ein alter Nazi ist er! Hat vor 45 genauso gebrüllt und getobt mit den armen Hunden, die ihm ausgeliefert waren hier.«

»Was heißt hier?«

»Na, hier in dieser Flugzeugfabrik! Der Hölzlwimmer, der war hier Vertrauensmann der Partei für die Deutsche Arbeitsfront!«

Jakob starrte Wenzel an.

»Und so was setzt du als Aufpasser ein?«

»Selbstredend«, sagte Wenzel. »In Waldtrudering und in Bayreuth habe ich das auch getan. Es gibt keinen Besseren. Diese Typen haben es in sich, Junge. Gestern Nazis, heute Superdemokraten! Brüllen und drohen und bescheißen. Funktionäre eben! Das ist kein Beruf. Das ist ein Charakter. Du wirst dich noch wundern, mein Alter, wie das weitergeht mit denen. Wir sind ja nur klein-klein. Aber warte mal die Großkopfeten ab – in der Politik, in der Kultur, in den Parteien, in der Industrie! Gestern: Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Heute: Freiheit und Demokratie! Morgen: Rotfront und Arbeitereinheit. Funktionäre! Die Herren der Zukunft!«

»Den Typ muß ich mir ansehen«, sagte Jakob zu Wenzel. Sie gingen ins Freie.

Wenzel machte die Herren miteinander bekannt. Ein Ehrenmann, dieser Ignaz Hölzlwimmer, dachte Jakob. Also wirklich! Das selbstbewußte Auftreten. Die imposante Erscheinung. Die blauen Augen, die so aufrecht, treu und wahr ins Leben blicken, das herzhafte Lachen … Wenn man sich dagegen ansieht, was sonst so zwischen den Flugzeughallen im Schneematsch herumschlurft, könnte man meinen, das sind lauter pervertierte Asoziale, die zu Arbeit und etwas Würde angetrieben werden müssen von eben jenem unermüdlichen Ignaz Hölzlwimmer, der allerdings, wie Jakob sehr schnell feststellte, überhaupt nichts arbeitete (und auch im Tausendjährigen Reich niemals gearbeitet, aber seine Haltung offenbar von Napoleon persönlich vermittelt bekommen hatte).

Markig war Hölzlwimmers Händedruck, bewegt waren seine Worte: »Glücklich, Sie endlich kennenzulernen, Herr Formann. Auszeichnung, für Sie arbeiten zu dürfen …«

Hm …

Auszeichnung …

Hmmmm!!!

Da fällt’s mir wieder ein! In der Münchner NEUEN ZEITUNG habe ich es gelesen vor drei Tagen. Überschrift: ›Auszeichnung für österreichischen Devisenfahnder‹! Und auch an den Text darunter kann ich mich noch einigermaßen erinnern. So etwa stand es da: ›Den größten Devisenschieber Belgiens, Robert Rouvier, ließ ein österreichischer Fahndungsagent bei der Bekämpfung des illegalen Devisenhandels in Brüssel auffliegen. Zur Entgegennahme einer Auszeichnung wird er am 20. Februar im Bundeskanzleramt Wien von Bundeskanzler Ing. Dr. Leopold Figl persönlich und von vier hohen Beamten empfangen werden.‹

Das war die Meldung. So gefreut habe ich mich, daß der Arnusch Franzl auch noch eine Auszeichnung kriegt dafür, daß ich dem Schieber Rouvier zweihunderttausend Dollar abgeknöpft habe. Und jetzt spricht dieser Hölzlwimmer von der Auszeichnung, für mich arbeiten zu dürfen!

Er klopfte dem forschen Herrn auf die Schulter.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Herr Hölzlwimmer.«

»Danke, Herr Formann! Tue mein Bestes! Manche von den Kerlen – wie der eben – haben leider immer noch nicht kapiert, worum es geht. Glauben, daß sie es sich hier gemütlich machen können mit amerikanischen Rationen und Kohlen für die Familien und dem Grundstein einer gesicherten Existenz. Keine Sorge! Werde die Kerle schon auf Vordertrab bringen!«

»Davon bin ich überzeugt, Herr Hölzlwimmer.« Vordertrab – schönes Wort!

»Nur meine Pflicht und Schuldigkeit! Verantwortliche Stellung, die mir Herr Prill da anvertraut hat. Weiß Vertrauen zu schätzen. Wo ein barbarischer Unrechtsstaat das eigene Volk fast vernichtet hat, ist es eine Selbstverständlichkeit für jeden redlich Gesinnten, bis zum Umfallen zu schuften beim Wiederaufbau des Vaterlands – in Frieden, Freiheit und Demokratie. Als Bollwerk gegen den Osten.«

»Gegen wen?«

»Na, die Russen! Wen gibt’s denn in Europa noch, der die Rote Flut aufhalten könnte? Italien? Frankreich? Österreich? Lächerlich! Alles Schlappschwänze! Wie schon im Krieg! Nein, diese Aufgabe ist uns beschieden, Herr Formann!«

»Nun ja, Herr Hölzlwimmer«, sagte Jakob. »Sagen Sie, Herr Hölzlwimmer« (der Name gefiel Jakob!), »Sie waren schon früher hier?«

»Jawoll, Herr Formann. Hier sind Flugzeuge gebaut worden. Die Zentrale war aber in der Nähe von Berlin! Ist ausgebombt natürlich! Aber Fachleute sind noch da, beiseite gebrachtes Material und Maschinen sind noch da! Ich weiß doch Bescheid! War oft genug dort! Hinbefohlen, verstehen Sie? Um mich anscheißen zu lassen. Besonders von einem solchen Nazi! Hohlweg heißt das Schwein! Ist natürlich ein Superkommunist heute, klar!«

»Klar«, sagte Jakob.

»Ganz mieses Stück! Ist jetzt ganz oben! Brüllt in der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung herum, so wie er unter den Nazis mit mir herumgebrüllt hat! Versorgung, das ist natürlich vor allem Ernährung … Was schauen Sie so? Ach, weil ich auch mit Ernährung … ja, das ist wirklich komisch, hahaha!«

»Hahaha, Herr Hölzlwimmer.«

»Alle diese Nazis machen jetzt natürlich gemeinsame Sache mit den Russen! Was glauben Sie, was da vorbereitet wird in der Sowjetzone? Was glauben Sie, was da bald losgehen wird? Die Amis sind ja so harmlos! Die werden’s erst mitkriegen, wenn’s schon fünf vor zwölf ist! Und dann müssen wir unsern Mann stehen, Herr Formann! Wir! Vertrauen gegen Vertrauen! Demokratie verdient nur der, der sie mit allen Kräften verteidigt!«

»Schön haben Sie das gesagt, Herr Hölzlwimmer.«

»Meine Ansicht eben! Verlaß auf mich, Herr Formann! Bei mir …« – mir sagt diese schleimige Sau! dachte Jakob verblüfft – »… werden die Kerle lernen, was Demokratie ist! Und wenn es täglich bis Mitternacht dauert!« Jakob sah Wenzel fragend an. Der sagte ernst: »Herr Hölzlwimmer veranstaltet regelmäßige Abendkurse für die Belegschaft. Über Rechte und Pflichten des einzelnen in der Demokratie!«

»Lobenswert, lobenswert«, murmelte Jakob, während er dachte: Vor drei Jährchen hast du bestimmt noch Abendkurse über Wesen und Ziele der Deutschen Arbeitsfront gehalten.

»Herr Hölzlwimmer ist auch sonst unermüdlich«, sagte Wenzel. »Er hat da eine Erfindung gemacht, die sich sehen lassen kann.«

Hölzlwimmer errötete. »In ein paar Monaten legen die Hühner, nicht wahr, und dann wird die Sache vonnöten sein.«

»Was für eine Sache?«

»Komm mal mit in mein Büro«, sagte Wenzel.

»Gerne. Der Krach und die Piepserei hier … Wieviel Tierchen haben wir denn?«

»Achtundzwanzigtausend in fünf Hallen, Herr Formann!« meldete Hölzlwimmer stramm. »Alle gesund und munter! Werden hervorragende Ware legen. Und eben deshalb habe ich nachts wach gelegen und mir den Kopf zerbrochen und … Wollen wir nun ins Büro von Herrn Prill gehen?«

Hurra, wir leben noch
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