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»… zuletzt noch die Vorhersage des Osborne-Instituts für das lange Wochenende um den vierten Juli, den amerikanischen Unabhängigkeitstag: In den Staaten der Union wird es nach der Statistik siebenhundertundzweikommasieben Verkehrstote und -schwerverletzte geben. Das war’s, Leute! Hier ist euer Lieblingssender KLMC, hier ist Ronnie Baldwin, und weiter geht’s mit ›Music in the Miller Mood‹! Zuerst hört ihr ›Moonlight Serenade‹ …«

›Moonlight Serenade‹ …

Zärtliche Musik ertönte. Jakob Formann saß wie erstarrt. Die siebenhundertzweikommasieben Verkehrstoten und -schwerverletzten des kommenden Wochenendes hatten ihm den Rest gegeben. Man muß diese armen Menschen doch warnen, dachte er verworren. Ich glaube, ich werde verrückt! Da, auf dem Tisch vor mir, liegen zwei Bücher. Die Bestseller des Jahres, hat die blonde Schönheit mit den phantastischen Beinen gesagt, bevor sie mich allein ließ. Das eine ist von einem Herrn Alfred Ch. Kinsey und heißt ›Das sexuelle Verhalten des Mannes‹. Ich habe darin geblättert. Herr Kinsey ist eigentlich Zoologe. Das hat ihn aber nicht gehindert, zwanzigtausend weiße amerikanische Männer und Frauen zu befragen und diese Befragungen über die Gewohnheiten ihres Geschlechtslebens auszuwerten in Kurven und Statistiken, Zahlen und Diagrammen und einer völlig unverständlichen Sprache. Mir dreht sich der Kopf. Sechsundachtzig Prozent der Herrschaften haben vorehelichen Geschlechtsverkehr zugegeben, zweiundneunzig Prozent, daß sie onanieren, neunzig Prozent, daß sie fest daran glauben, New York werde im Jahre 1950 – also in zwei Jährchen! – von russischen Atombomben zerstört und nicht mehr zu finden sein, andererseits aber natürlich auch Moskau von amerikanischen Atombomben – nein, das ist aus dem anderen Bestseller! ›Welt in Flammen‹ heißt der, von Charles van Dong, und da wird ein Krieg zwischen Rußland und Amerika im Jahre 1950 mit allen Details beschrieben … Die neunzig Prozent gehören zu Kinsey und haben Petting zugegeben, also miteinander aneinander rumfummeln, aber ordentlich, eigentlich fast richtig vö …

»And now ›Pennsylvania Six-Five Thousand‹ …«

AMERICAN OVERSEAS AIRLINE hat die Gesellschaft geheißen. In einer viermotorigen ›Constellation‹ bin ich herübergekommen. Zuerst nach New York. Nur anderthalb Prozent treiben es mit Tieren. Und das will eine Kulturnation sein? Abflug Frankfurt am Main 17 Uhr 30, Ankunft am ›La Guardia‹-Flughafen New York 1 Uhr 30 local time. Sechsmal haben wir die Uhren um eine Stunde zurückgestellt. Einen Orgasmus erreichen fast alle Männer, aber sehr wenige Frauen bei normalem Verkehr. Ein Verkehr ist das! Sechstausendsechshundert Kilometer lang war die Flugstrecke. Darum ist auch der Prozentsatz von Lesbierinnen so hoch. Fünf Stunden nach dem Start waren wir in Shannon, Irland. Nächste Zwischenlandung dann Gander, das liegt in Neufundland. Aber es gibt unheimlich viele Homosexuelle! Neun Mann Besatzung, vierzig Passagiere. Junge Männer bis fünfundzwanzig leiden enorm unter Ejaculatio praecox, was immer das ist, hätte der Kinsey auch englisch schreiben können, ich hab’ in Latein immer einen Pintsch gehabt. In der Kabine war ein Schild: ›Dies ist der 16 972. amerikanische Transatlantikflug.‹ Was macht eine Phimose? Unheimlich viel zu essen hat’s gegeben. Und zu saufen. Sehr beliebt sind technische Hilfsmittel beziehungsweise Prothesen. Kaugummis beim Starten und Landen. Und Gliedverlängerer.

»Now let’s listen to ›The American Patrol‹ …«

Ach, das habe ich schon 1945 gehört, in Wien, in der MP-Station, den ganzen Glenn Miller! Ich habe ja gewußt, es wird einmal ein Wunder geschehen. Am 20. Juni ist es geschehen. Unmittelbar nach meiner versehentlichen Verhaftung und sofortigen ehrenvollen Wiederfreilassung in Nürnberg. Da war ich am Ende. Ja, aber dann kam eben Sonntag, der 20. Juni 1948.

»Die Militärregierung gibt bekannt …«

Na, die Währungsreform, auf die wir alle schon so gewartet hatten! Am 21. Juni 1948 hat’s dann die verfluchte Drecks-Reichsmark nicht mehr gegeben. Sondern die D-Mark, die Deutsche Mark! Vierundzwanzig Stunden nur – unfaßbar, Triumph der Technik! – vierundzwanzig Stunden nur sind wir geflogen von Frankfurt am Main bis New York. Zehntausend Meter hoch geflogen sind wir. Auf einmal spüre ich, wie ich naß werde. Nicht da. Auf der Brust. Ich schaue meine Jacke an. Alles mit Tinte versaut. Mein Füllfederhalter! Ausgelaufen. Die ganze Tinte auf dem guten Anzug. Da habe ich vielleicht eine Wut gehabt! Eine süße Stewardeß hat mich gereinigt. Hat mir erklärt, daß Füllfederhalter immer wieder auslaufen. Wegen der Höhe. Und sie hat mir zum Trost was geschenkt. Wenn man oben auf einen Knopf drückt, kommt unten eine Mine raus. Mit Tinte! Und die kann nie ausrinnen! ›Kugelschreiber‹ heißt das, hat die Stewardeß gesagt. Große Mode in den Staaten im Moment. Der ›Kugelschreiber‹ ist aus einer glatten Masse, ähnlich wie Zelluloid, aber besser. Plastic ist das, hat mir die Stewardeß erzählt. Was ist Plastic? Ach, hat sie gesagt, da kann man Teller daraus machen, Schüsseln, Räder, Karosserien, Möbel, Flaschen – einfach alles! Toll. PLASTIC. Muß ich mich auch drum kümmern. Ich hab’ so ein Gefühl, diesem Plastic-Zeug gehört die Zukunft. Und die hat schon begonnen.

In West-Deutschland mit vierzig D-Mark auf den Kopf der Bevölkerung. Aber diese D-Mark hat es in sich! Jetzt kann ich ganz groß loslegen. Denn ich habe ja nicht nur DM 40,00 gekriegt. Ich habe meine Höfe, meine Fertighaus-Fabriken, meine Illustrierte! Die kostet jetzt DM 0,20. Einen Moment haben wir alle gedacht, es ist aus mit OKAY. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich hatte Durchfall. Stand vor dem Nervenzusammenbruch. Aber es gab noch ein Wunder: OKAY hat sich auch mit dem guten neuen Geld weiter verkauft wie verrückt! Warum? Weil wir eben schon bekannt waren aus der Reichsmark-Zeit. Weil wir eben schon einen so guten Ruf gehabt, weil die Menschen uns so gerne gelesen haben. Diesen Mario Schreiber, diesen stotternden Säufer, den adoptiere ich noch mal!

Da strömt jetzt die D-Mark herein! Mit den Eiern, den Häusern, mit OKAY. Weiß Gott, ich bin ein großer Mann. Die werden sich wundern, was für ein großer Mann ich noch werden werde! Die haben ja keine Ahnung. Das war doch nur der erste Sieg in meinem Krieg! Nie hätte ich gedacht, daß es so viele verdammte Kerle in den USA gibt, die mit toten Weibern schlafen wollen …

»… well, folks, here comes ›String of Pearls‹ …«

Die Tür des pompösen Wartezimmers mit den goldfarbenen Seidentapeten, in dem Jakob gewartet hatte, öffnete sich. Die ernste Sekretärin erschien.

»Bitte, kommen Sie, Mister Formann! Senator Connelly ist jetzt für Sie zu sprechen!«

Jakob erhob sich. Ihm war schwindlig. Er lächelte die Schöne an. Doch die blieb ernst. Er schwankte leicht beim Gehen. Das ist alles ein bißchen zuviel auf einmal, dachte er. Verflucht, wie Marlene Dietrich – solche Beine können nicht echt sein, also das gibt es einfach nicht!

Hurra, wir leben noch
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