NEBEL AUF DEN HÜGELGRÄBERHÖHEN
In dieser Nacht hörten sie keine Geräusche. Aber Frodo vernahm ein zärtliches Singen, ob im Traum oder nicht, wusste er nicht zu sagen: ein Lied, das wie sanftes Licht hinter einem grauen Regenvorhang auftauchte, immer lauter wurde und den Schleier ganz in Glas und Silber verwandelte, bis er schließlich zurückgezogen wurde und ein fernes grünes Land unter einer rasch aufgehenden Sonne enthüllte.
Das Traumbild ging in Wachsein über, und da war Tom, der wie ein ganzer Baum voller Vögel pfiff; und die Sonne schien schon schräg den Berg hinunter und ins offene Fenster herein. Draußen war alles grün und blassgold.
Nach dem Frühstück, das sie wieder allein einnahmen, machten sie sich bereit, Lebewohl zu sagen, mit so schwerem Herzen, wie es nur möglich war an einem solchen Morgen: kühl, strahlend und klar unter einem reingewaschenen, blassblauen Herbsthimmel. Eine frische Brise wehte von Nordwest. Ihre friedlichen Ponys waren fast ausgelassen, sie schnupperten und stampften unruhig. Tom kam aus dem Haus, schwenkte seinen Hut und tanzte auf der Türschwelle; er hieß die Hobbits aufsteigen, sich auf den Weg machen und sich beeilen.
Sie ritten auf einem Pfad, der sich hinter dem Haus schräg zur nördlichen Spitze des Berges hinaufzog, unter dem es lag. Sie waren gerade abgesessen, um ihre Ponys den letzten steilen Hang hinaufzuführen, als Frodo plötzlich anhielt.
»Goldbeere!«, rief er. »Schöne Frau, ganz in Silbergrün gekleidet! Wir haben ihr gar nicht Lebewohl gesagt und sie seit gestern Abend überhaupt nicht gesehen!« Er war so betrübt, dass er sich umwandte; aber in diesem Augenblick drang ein heller Ruf zu ihnen herunter. Dort auf der Bergkuppe stand sie und winkte ihnen: Ihr Haar flatterte offen und glänzte und schimmerte in der Sonne. Ein Funkeln wie das Glitzern von Wasser auf tauigem Gras blinkte unter ihren Füßen auf, als sie tanzte.
Sie eilten den letzten Hang hinauf und standen atemlos neben ihr. Sie verbeugten sich, aber mit einer Armbewegung gebot sie ihnen, sich umzuschauen; und sie schauten von der Bergspitze über die Lande im Morgenlicht. Die Aussicht von hier war klar und weit, ganz anders als der verschleierte und neblige Blick von der Kuppe im Alten Wald, die sie jetzt sahen, wie sie fahl und grün aus den dunklen Bäumen im Westen aufragte. In dieser Richtung erstreckten sich bewaldete Bergketten, grün, gelb und rostrot in der Sonne, und dahinter lag das Tal des Brandywein versteckt. Im Süden, jenseits der Weidenwinde, schimmerte es in der Ferne wie mattes Glas; dort zog der Brandyweinfluss in der Ebene eine große Schleife, und wohin er dann floss, wussten die Hobbits nicht. Nördlich hinter den abfallenden Höhen lief das Land in Mulden und kleinen Buckeln von grauen und grünen und matt erdigen Farben aus, bis es in der Ferne umrisslos und schattenhaft verblasste. Östlich erhoben sich die Hügelgräberhöhen in einer Kette hinter der anderen, und wo sie sich dem Blick entzogen, blieb nur eine Ahnung: Es war nicht mehr als eine Ahnung in Blau und ein entfernter weißer Schimmer, der mit dem Saum des Himmels verschmolz, aber diese Ahnung sprach zu ihnen aus Erinnerungen und alten Erzählungen von dem hohen und fernen Gebirge.
Sie holten tief Luft und hatten das Gefühl, dass ein Sprung und ein paar kräftige Schritte sie hinbringen würden, wohin auch immer sie wollten. Es erschien kleinmütig, mühselig durch die gewundenen Ausläufer der Höhen zur Straße zu trotten, wenn sie eigentlich so kraftvoll wie Tom von Stein zu Stein über die Berge geradewegs bis zu dem Gebirge springen sollten.
Goldbeere redete mit ihnen und rief ihre Augen und Gedanken zurück. »Lebt nun wohl, liebe Gäste«, sagte sie. »Und behaltet euer Ziel im Auge! Nach Norden mit dem Wind zur Linken, und Glück möge auf euren Schritten liegen. Eilt euch, solange die Sonne scheint!« Und zu Frodo sagte sie: »Gehabe dich wohl, Elbenfreund, es war ein fröhliches Treffen!«
Aber Frodo fand kein Wort zur Antwort. Er verneigte sich tief, stieg auf sein Pony und ritt, gefolgt von seinen Freunden, langsam den sanften Abhang auf der anderen Seite des Berges hinab. Tom Bombadils Haus und das Tal und der Alte Wald waren ihren Blicken entzogen. Es wurde wärmer zwischen den grünen Bergwänden, und der Duft des Grases stieg ihnen kräftig und süß in die Nase. Als sie unten in der Mulde angekommen waren, wandten sie sich um und sahen Goldbeere, jetzt klein und schlank wie eine sonnenbeschienene Blume gegen den Himmel: Sie stand ganz still und schaute ihnen nach, und sie hatte die Hände nach ihnen ausgestreckt. Als sich die Hobbits umschauten, stieß sie einen hellen Ruf aus, hob die Hand zum Gruß und verschwand hinter dem Berg.
Ihr Weg zog sich durch die Mulde hindurch und dann um den grünen Fuß eines steilen Berges in ein zweites tieferes und breiteres Tal, dann über weitere Bergrücken und an ihren langen Ausläufern hinunter, und dann wieder hinauf an ihren sanften Hängen zu neuen Gipfeln und hinunter in neue Täler. Es gab keinen Baum, noch war irgendwo Wasser zu sehen: Es war ein Grasland mit einem kurzen, federnden Grasteppich, und es war nichts zu hören als das Wispern der Luft über den Bergrücken und hoch oben einzelne Schreie fremdartiger Vögel. Allmählich stieg die Sonne höher, und es wurde heiß. Jedes Mal, wenn sie einen Kamm erklommen, schien die Brise schwächer geworden zu sein. Als sie einen Blick auf das Land im Westen werfen konnten, sah es aus, als rauchte der Wald, als verdampfte der gefallene Regen wieder auf Blatt und Wurzel und Erde. Ein Schatten lag jetzt über dem Rande des Blickfelds, ein dunkler Dunst, über dem der Himmel wie eine blaue Haube war, heiß und schwer.
Gegen Mittag kamen sie zu einem Berg, dessen Gipfel breit und eben war wie eine flache Untertasse mit einem grünen, aufgebogenen Rand. In dieser Mulde regte sich kein Lüftchen, und der Himmel schien bis zu ihren Köpfen zu reichen. Sie ritten hindurch und schauten nach Norden. Dann wurde ihnen leicht ums Herz, denn es schien, dass sie schon weiter gekommen waren, als sie erwartet hatten. Gewiss war die Aussicht jetzt dunstig, und die Entfernungen mochten täuschen, doch konnte kein Zweifel bestehen, dass die Höhen nun ein Ende nahmen. Ein langes Tal lag zu ihren Füßen, das sich nach Norden hinzog bis zu einer Lücke zwischen zwei steilen Hängen. Dahinter schienen keine Berge mehr zu sein. Genau nördlich konnten sie schwach eine lange dunkle Linie erkennen. »Das ist eine Baumreihe«, sagte Merry, »und das muss die Straße sein. Auf viele Meilen östlich der Brücke wachsen Bäume an der Straße. Es heißt, sie seien schon in alter Zeit gepflanzt worden.«
»Großartig«, sagte Frodo. »Wenn wir es heute Nachmittag so gut machen wie heute Morgen, werden die Höhen hinter uns liegen, ehe die Sonne untergeht, und dann werden wir weiterziehen und uns einen Lagerplatz suchen.« Aber während er noch sprach, wandte er seinen Blick nach Osten und sah, dass die Berge auf dieser Seite höher waren und auf sie herabschauten; und all diese Berge waren von Grabhügeln gekrönt, und auf manchen standen senkrechte Steine, die emporragten wie zackige Zähne aus grünen Kieferknochen.
Dieser Anblick war einigermaßen beunruhigend; so wandten sie sich ab von dieser Seite und gingen hinunter in die kreisrunde Senke. In ihrer Mitte stand ein einzelner hoher Stein in der Sonne und warf zu dieser Stunde keinen Schatten. Er war formlos und doch bedeutungsvoll; wie eine Landmarke oder ein mahnender Finger oder eher wie eine Warnung. Aber sie waren jetzt hungrig, und die Sonne stand noch hoch im gefahrlosen Süden; so setzten sie sich mit dem Rücken zur Ostseite des Steins. Er war kühl, als ob die Sonne nicht die Kraft hätte, ihn zu wärmen; aber zu dieser Zeit war das noch angenehm. Sie aßen und tranken und hatten ein so gutes Mittagsmahl unter freiem Himmel, wie man es sich nur wünschen konnte; denn ihre Wegzehrung stammte von »unten unterm Berg«. Tom hatte sie reichlich mit allem für den Tag versorgt. Ihrer Last ledig, streunten die Ponys über das Gras.
Über die Berge reiten, sich satt essen, die warme Sonne und der Duft des Grases, ein bisschen zu lange liegengeblieben, die Beine ausgestreckt und in den Himmel über ihren Nasen geschaut: Das ist vielleicht genug, um zu erklären, was geschah. Wie dem auch sei: Plötzlich und unbehaglich erwachten sie aus einem Schlaf, den sie gar nicht vorgehabt hatten. Der aufrecht stehende Stein war kalt, und er warf einen langen, bleichen Schatten, der sich ostwärts über sie erstreckte. Die Sonne, ein blasses und wässriges Gelb, schimmerte durch den Nebelschleier gerade über den Westwall der Senke, in der sie lagen; im Norden, Süden und Osten war der Nebel jenseits dieses Waldes dicht, kalt und weiß. Die Luft war still, schwer und kühl. Ihre Ponys standen mit gesenkten Köpfen eng zusammengedrängt.
Die Hobbits sprangen erschreckt auf und rannten zum westlichen Rand. Sie entdeckten, dass sie sich auf einer Insel im Nebel befanden. Und als sie voll Entsetzen auf die untergehende Sonne blickten, versank sie vor ihren Augen in einem weißen Meer, und ein kalter grauer Schatten stieg hinter ihnen im Osten auf. Der Nebel zog sich an den Wällen empor und hoch über sie hinweg, und während er stieg, neigte er sich über ihre Köpfe, bis er ein Dach wurde: Sie waren eingeschlossen in einer Nebelhalle, deren Mittelsäule der senkrechte Stein war.
Sie hatten das Gefühl, in einer Falle gefangen zu sein; aber sie verloren den Mut nicht ganz. Noch erinnerten sie sich der hoffnungsvollen Aussicht auf die Straße vor ihnen, und sie wussten noch, in welcher Richtung sie lag. Jedenfalls hatten sie jetzt eine solche Abneigung gegen die Kühle bei dem Stein, dass ihnen der Gedanke gar nicht kam, dort zu bleiben. Sie packten zusammen, so schnell es ihre klammen Finger erlaubten.
Bald führten sie ihre Ponys im Gänsemarsch über den Rand und den langen Nordhang des Berges hinab, hinunter in das Nebelmeer. Während sie abstiegen, wurde der Nebel kälter und feuchter, und das Haar hing ihnen in feuchten Strähnen über die Stirn. Als sie die Talsohle erreichten, war es so kalt, dass sie anhielten und ihre Mäntel und Kapuzen herausholten, die bald mit grauen Tropfen betaut waren. Dann schwangen sie sich auf ihre Ponys und ritten langsam weiter und tasteten sich vorsichtig nach dem Steigen und Fallen des Bodens voran. Sie hielten, so gut sie konnten, auf die torartige Öffnung am nördlichen Ende des langen Tals zu, die sie morgens gesehen hatten. Sobald sie einmal durch die Lücke waren, brauchten sie nur einigermaßen geradeaus weiterzugehen und mussten dann schließlich auf die Straße stoßen. Weiter als bis dahin dachten sie nicht, abgesehen von der vagen Hoffnung, dass vielleicht jenseits der Höhen kein Nebel mehr sein würde.
Sie kamen langsam voran. Damit sie nicht voneinander getrennt würden und womöglich verschiedene Richtungen einschlügen, ritten sie hintereinander und Frodo vorneweg. Sam kam hinter ihm, nach ihm Pippin und dann Merry. Plötzlich sah Frodo ein hoffnungsvolles Zeichen. Auf beiden Seiten schimmerte es dunkel durch den Nebel; und er vermutete, dass sie sich endlich der Lücke zwischen den Bergen näherten, dem Nordtor der Hügelgräberhöhen. Wenn sie dort hindurch könnten, wären sie gerettet.
»Kommt! Folgt mir!«, rief er zurück, und er eilte voran. Aber seine Hoffnung verwandelte sich bald in Bestürzung und Schrecken. Die dunklen Stellen wurden dunkler, aber sie wichen zurück; und plötzlich sah er unheilvoll zwei gewaltige, aufrecht stehende Steine über sich aufragen, die sich leicht zueinander neigten wie die Säulen einer kopfteillosen Tür. Er konnte sich nicht erinnern, irgendeine Spur von ihnen im Tal gesehen zu haben, als er am Morgen vom Berg aus hinabgeschaut hatte. Er war zwischen ihnen hindurchgeritten, fast ehe er es gemerkt hatte: und dabei schien die Dunkelheit über ihm zusammenzuschlagen. Sein Pony stellte sich auf die Hinterbeine und schnaubte und warf ihn ab. Als er sich umsah, merkte er, dass er allein war: Die anderen waren ihm nicht gefolgt.
»Sam!«, rief er. »Pippin! Merry! Kommt her! Warum bleibt ihr nicht bei mir?«
Es kam keine Antwort. Er wurde von Angst gepackt und rannte zurück an den Steinen vorbei und schrie wie wild: »Sam! Sam! Merry! Pippin!« Das Pony sprang in den Nebel davon und verschwand. Aus einiger Entfernung, oder so schien es ihm jedenfalls, glaubte er einen Schrei zu hören: »He! Frodo! He!« Der Schrei kam aus dem Osten, zu seiner Linken, als er unter den großen Steinen stand und in die Dunkelheit starrte. Er stürzte davon in der Richtung des Schreies und merkte, dass es steil bergauf ging.
Während er sich hinaufarbeitete, rief er wieder und immer von neuem und immer lauter; aber eine Zeitlang hörte er keine Antwort, und dann schien sie ihm schwach und weit entfernt und hoch über ihm zu sein. »Frodo! He!«, drangen dünne Stimmen aus dem Nebel zu ihm; und dann ein Schrei, der wie Hilfe! klang, Hilfe! mehrmals hintereinander, und dann ein letztes Hilfe!, das in ein Wehklagen überging und plötzlich abbrach. Er stolperte vorwärts, so schnell er nur konnte, den Schreien entgegen; aber das Tageslicht war nun vergangen, und dichte Nacht umschloss ihn, sodass er gar keine Richtung mehr ausmachen konnte. Er schien die ganze Zeit immer nur bergan zu steigen.
Erst als er ebenen Boden unter den Füßen spürte, erkannte er, dass er schließlich den Gipfel eines Grates oder Berges erreicht hatte. Er war müde, schwitzte und fror trotzdem. Es war nun vollkommen dunkel geworden.
»Wo seid ihr?«, rief er unglücklich.
Es kam keine Antwort. Er stand und lauschte. Plötzlich merkte er, dass es sehr kalt wurde und hier oben ein Wind zu wehen begann, ein eisiger Wind. Das Wetter schlug um. Der Nebel zog jetzt in Schwaden und Fetzen an ihm vorüber. Seinen Atem sah er wie ein Dampfwölkchen, und die Dunkelheit war weniger nah und dick. Er schaute nach oben und sah zu seiner Überraschung, dass matte Sterne zwischen eilenden Wolken- und Nebelschleiern durchschimmerten. Der Wind begann über das Gras zu pfeifen.
Ihm war plötzlich, als habe er einen erstickten Schrei gehört, und er wollte ihm nachgehen; und gerade als er sich aufmachte, wurde der Nebel aufgerollt und beiseite geschoben, und der gestirnte Himmel enthüllte sich. Ein Blick zeigte ihm, dass er jetzt mit dem Gesicht nach Süden stand und auf einer runden Bergkuppe war, die er vom Norden her erklommen haben musste. Aus dem Osten blies der schneidende Wind. Zu seiner Rechten ragte gegen die westlichen Sterne ein dunkles schwarzes Gebilde drohend auf. Ein großes Hügelgrab stand dort.
»Wo seid ihr?«, rief er noch einmal, sowohl ärgerlich als auch ängstlich.
»Hier«, sagte eine Stimme, tief und kalt, die aus dem Boden zu kommen schien. »Ich warte auf dich!«
»Nein!«, rief Frodo; aber er lief nicht fort. Seine Knie gaben nach, und er fiel zu Boden. Nichts geschah, und kein Laut war zu hören. Zitternd schaute er hoch, gerade rechtzeitig, um eine hohe, dunkle Gestalt wie einen Schatten gegen die Sterne zu sehen. Sie beugte sich über ihn. Er glaubte zwei Augen zu erkennen, die sehr kalt waren, obwohl sie von einem fahlen Licht erhellt zu sein schienen, das aus weiter Ferne kam. Dann wurde er gepackt, und der Griff war stärker und kälter als Eisen. Die eisige Berührung ließ sein Gebein erstarren, und er erinnerte sich an nichts mehr.
Als er wieder zu sich kam, konnte er sich für einen Moment an nichts entsinnen außer an ein Gefühl des Entsetzens. Dann wusste er plötzlich, dass er eingekerkert war, hoffnungslos gefangen; er war in einem Hügelgrab. Ein Grabunhold hatte ihn mitgenommen, und wahrscheinlich war er jetzt schon unter dem entsetzlichen Bann der Grabunholde, von dem in geflüsterten Erzählungen die Rede war. Er wagte nicht, sich zu rühren, sondern blieb reglos liegen: flach auf dem Rücken auf einem kalten Stein, und die Hände auf der Brust.
Aber obwohl seine Angst so groß war, dass sie geradezu ein Teil der ihn umgebenden Dunkelheit zu sein schien, ertappte er sich dabei, dass er an Bilbo Beutlin und seine Geschichten dachte, an ihre gemeinsamen Spaziergänge auf den Feldwegen im Auenland und ihre Unterhaltungen über Straßen und Abenteuer. Im Herzen auch des fettesten und furchtsamsten Hobbits liegt ein Saatkorn des Muts verborgen (allerdings oft tief) und wartet auf eine entscheidende und ausweglose Gefahr, die es wachsen lässt. Frodo war weder sehr fett noch sehr furchtsam; obwohl er es nicht wusste, hatten Bilbo (und auch Gandalf) ihn für den brauchbarsten Hobbit im Auenland gehalten. Er glaubte, am Ende seines Abenteuers angelangt zu sein, einem entsetzlichen Ende, aber der Gedanke gab ihm Kraft. Er merkte, wie er sich straffte gleichsam zum letzten Sprung; er fühlte sich nicht mehr schlaff wie ein hilfloses Opfer.
Als er da lag und nachdachte und sich wieder in die Gewalt bekam, merkte er mit einem Mal, dass die Dunkelheit langsam verging; ein fahles, grünliches Licht war um ihn. Zuerst ließ es ihn nicht erkennen, an was für einem Ort er war, denn das Licht schien aus ihm selbst zu kommen und aus dem Fußboden neben ihm und hatte das Dach oder die Wand noch nicht erreicht. Er drehte sich um und sah in dem kalten Schimmer, dass Sam, Pippin und Merry neben ihm lagen. Sie waren auf dem Rücken ausgestreckt, und ihre Gesichter waren totenblass; und sie waren ganz in Weiß gekleidet. Um sie herum lagen viele Schätze, vielleicht aus Gold, obwohl sie in diesem Licht kalt und unschön aussahen. Auf ihren Köpfen hatten sie Diademe, goldene Ketten um den Leib und viele Ringe an den Fingern. Schwerter lagen an ihrer Seite und Schilde zu ihren Füßen. Aber über ihren Hälsen lag ein einziges nacktes Schwert.
Plötzlich begann ein Gesang: ein kaltes Murmeln, das anstieg und fiel. Die Stimme schien weit weg zu sein und unermesslich trostlos, manchmal hoch in der Luft und dünn, manchmal wie ein leises Stöhnen vom Boden. Aus dem formlosen Strom trauriger, aber schauerlicher Töne bildeten sich dann und wann Ketten von Wörtern: grimmige, harte, kalte Wörter, herzlos und unglücklich. Die Nacht schmähte den Morgen, den sie nie sehen konnte, und die Kälte verfluchte die Wärme, nach der sie hungerte. Frodo war kalt bis ins Mark. Nach einer Weile wurde der Gesang deutlicher, und mit angsterfülltem Herzen nahm er wahr, dass jetzt eine Zauberformel gesungen wurde.
Kalt sei Hand, Herz und Gebein
Kalt der Schlaf unterm Stein:
Nimmer steh’ vom Bette auf,
Eh’ nicht endet der Sonn’ und des Mondes Lauf,
Die Sterne zersplittern im schwarzen Wind,
Und fallen herab und liegen hier blind,
Bis der dunkle Herrscher hebt seine Hand
Über tote See und verdorrtes Land.
Hinter seinem Kopf hörte er ein knirschendes und kratzendes Geräusch. Er stützte sich auf einen Arm und sah nun in dem fahlen Licht, dass sie sich in einer Art Gang befanden, der hinter ihnen um die Ecke führte. Um die Ecke tastete sich ein langer Arm vor, und seine Finger wanderten auf Sam zu, der ihm am nächsten war, und zu dem Heft des Schwertes, das auf ihm lag.
Zuerst war es Frodo, als ob er durch die Zauberformel tatsächlich in Stein verwandelt worden sei. Dann durchzuckte ihn ein wilder Gedanke an Flucht. Er überlegte sich, ob er dem Grabunhold, wenn er den Ring aufsetzte, entgehen würde und den Weg nach draußen finden könnte. Er dachte daran, dass er selbst unerkannt über das Gras laufen und zwar um Merry, Sam und Pippin trauern würde, aber selbst frei und lebendig wäre. Gandalf würde zugeben müssen, dass er sonst nichts hätte tun können.
Aber der Mut, der in ihm erweckt worden war, war jetzt zu stark: Er konnte seine Freunde nicht so einfach im Stich lassen. Er zauderte, tastete in seiner Tasche und focht dann wieder einen Kampf mit sich aus; und derweil kroch der Arm näher. Plötzlich festigte sich sein Entschluss, und er ergriff ein kurzes Schwert, das neben ihm lag, kniete sich hin und beugte sich vor über die Körper seiner Gefährten. Mit aller Kraft, die er hatte, hieb er auf den kriechenden Arm in der Nähe des Handgelenks, und die Hand brach ab; aber im selben Augenblick zersplitterte das Schwert bis zum Heft. Ein Schmerzensschrei ertönte, und das Licht verschwand. Im Dunkeln hörte man ein Fauchen.
Frodo fiel nach vorn auf Merry, und Merrys Gesicht fühlte sich kalt an. Mit einem Mal kam ihm wieder in den Sinn, was er vergessen hatte, seit sie in den Nebel geraten waren, nämlich die Erinnerung an das Haus unten unterm Berg und an Toms Gesang. Er entsann sich des Reims, den Tom sie gelehrt hatte. Mit leiser, verzweifelter Stimme begann er: He, Tom Bombadil!, und kaum hatte er den Namen ausgesprochen, schien seine Stimme lauter zu werden: sie hatte einen vollen und lebendigen Klang, und die dunkle Kammer hallte wider wie von Trommeln und Trompeten.
He, Tom Bombadil! Tom Bombadonne!
Hör den Ruf, eile her, bei Feuer, Mond und Sonne!
Komm, bei Wasser, Wald und Flur, steh uns nun zur Seite!
Komm, bei Weide, Schilf und Ried, aus der Not uns leite!
Plötzlich herrschte tiefes Schweigen, und Frodo konnte sein Herz schlagen hören. Nach einem langwährenden Augenblick hörte er deutlich, aber weit entfernt, als ob sie unten durch die Erde käme oder durch dicke Wände, eine antwortende Stimme:
Tom, alter Bombadil, lustiger Gevatter,
Blaue Jacke hat er an, gelbe Stiefel hat er,
Fing ihn niemals niemand ein, denn er ist der Meister,
Seine Lieder haben Macht über böse Geister.
Ein rumpelndes Geräusch war zu vernehmen, als ob Steine rollten und fielen, und plötzlich strömte Licht herein, wirkliches Licht, das helle Tageslicht. Eine niedrige, türartige Öffnung tat sich am Ende der Kammer hinter Frodos Füßen auf; und da war Toms Kopf (Hut, Feder und alles), umrahmt vom roten Licht der hinter ihm aufgehenden Sonne. Das Licht fiel auf den Boden und auf die Gesichter der drei Hobbits, die neben Frodo lagen. Sie rührten sich nicht, aber die krankhafte Blässe war verschwunden. Sie sahen jetzt aus, als ob sie fest schliefen.
Tom bückte sich, nahm seinen Hut ab, kam in die dunkle Kammer und sang:
Raus hier, übler Wicht! In die helle Sonne!
Schwinde wie der Nebelhauch, heule mit dem Winde,
In die wüsten Lande zieh über alle Berge!
Lass die Grube leer zurück, niemals kehre wieder!
Sei vergessen und verloren, dunkler als das Dunkel,
Wo das Tor verschlossen steht, bis die Welt geheilt wird.
Bei diesen Worten ertönte ein Schrei, und ein Teil des inneren Endes der Kammer stürzte krachend ein. Dann hörte man einen langgezogenen Schmerzensschrei, der in einer unvorstellbaren Entfernung verklang: und danach war Stille.
»Komm, Freund Frodo«, sagte Tom. »Lass uns hinausgehen auf das reine Gras! Du musst mir helfen, sie zu tragen.«
Zusammen trugen sie Merry, Pippin und Sam hinaus. Als Frodo die Gruft zum letzten Mal verließ, glaubte er in einem Haufen herabgefallener Steine eine abgetrennte Hand zu sehen, die noch zuckte wie eine verletzte Spinne. Tom ging noch einmal hinein, und man hörte viel Poltern und Stampfen. Als er herauskam, trug er in seinen Armen eine ganze Ladung Schätze: Dinge aus Gold, Silber, Kupfer und Bronze; viele Perlen und Ketten und mit Edelsteinen besetzte Geräte. Er erklomm das grüne Hügelgrab und legte alles obenauf in die Sonne.
Dort stand er, den Hut in der Hand und den Wind im Haar, und schaute hinab auf die drei Hobbits, die sie auf der Westseite des Grabhügels im Gras auf den Rücken gelegt hatten. Er hob die rechte Hand und sagte mit klarer, befehlender Stimme:
Auf nun, ihr lieben Leut! Auf und hört mich rufen!
Herz und Glieder wieder warm, kalter Stein geborsten;
Dunkle Tür ist aufgetan, Totenhand gebrochen.
Nacht floh zu Nacht hinab, Tor steht weit und offen.
Zu Frodos großer Freude regten sich die Hobbits, streckten die Arme, rieben die Augen und sprangen dann plötzlich auf. Sie schauten erstaunt um sich, zuerst sahen sie Frodo und dann Tom, der in voller Lebensgröße hoch über ihnen auf dem Hügelgrab stand; und schließlich betrachteten sie sich selbst in ihren dünnen weißen Fetzen, gekrönt und gegürtet mit bleichem Gold und klirrend von Geschmeide.
»Was um alles in der Welt …«, begann Merry und befühlte das goldene Diadem, das ihm über ein Auge gerutscht war. Dann hielt er inne, und ein Schatten huschte über sein Gesicht, und er schloss die Augen. »Natürlich, ich erinnere mich!«, sagte er. »Die Männer von Carn Dûm kamen über uns in der Nacht, und wir wurden überwältigt. Ah, der Speer in meinem Herzen!« Er griff nach seiner Brust. »Nein! Nein!«, sagte er und öffnete die Augen. »Wovon rede ich? Ich habe geträumt. Wo bist denn du gewesen, Frodo?«
»Ich glaubte, dass ich mich verirrt hatte«, antwortete Frodo. »Aber ich will nicht davon sprechen. Lasst uns darüber nachdenken, was wir jetzt tun sollen. Lasst uns weitergehen!«
»In der Aufmachung, Herr?«, fragte Sam. »Wo sind meine Kleider?« Er schleuderte Diadem, Gürtel und Ringe auf das Gras und sah sich hilfesuchend um, als ob er erwartete, dass sein Mantel, Wams, Hosen und andere Hobbitkleidungsstücke irgendwo herumliegen würden.
»Ihr werdet eure Kleider nicht wiederfinden«, sagte Tom, der vom Grabhügel herunterhüpfte und lachend im Sonnenschein um sie herumtanzte. Man hätte denken können, dass nichts Gefährliches oder Entsetzliches geschehen sei; und tatsächlich verschwand das Grauen aus ihren Herzen, als sie ihm zuschauten und das vergnügte Glitzern in seinen Augen sahen.
»Was meint Ihr damit?«, fragte Pippin, halb verwundert und halb belustigt. »Warum nicht?«
Doch Tom schüttelte den Kopf und sagte: »Ihr habt euch selbst wiedergefunden, aus tiefem Wasser kommend. Kleider sind nur ein geringer Verlust, wenn man dem Ertrinken entgeht. Seid froh, meine lieben Freunde, und lasst euch jetzt vom warmen Sonnenschein Herz und Glieder erwärmen! Werft die kalten Fetzen ab! Lauft nackend auf dem Gras herum, während Tom auf die Jagd geht!«
Er sprang pfeifend und rufend den Berg hinab. Als Frodo ihm nachschaute, sah er ihn nach Süden die grüne Mulde zwischen ihrem Berg und dem nächsten entlanglaufen, immer noch pfeifend und rufend:
Dong-long! Dongelong! Wohin wollt ihr pilgern?
Auf, ab, nah und fern – hierhin, dorthin, nirgends?
Löffelohr, Schnüffelschnauz, Wedelschwanz und Humpel,
Kleiner Schelm im weißen Strumpf und mein altes Plumpel!
So sprang er, rannte geschwind, warf seinen Hut in die Luft und fing ihn wieder auf, bis er hinter einer Bodenfalte verschwand. Aber eine Zeitlang wurde sein Dongelong immer noch vom Wind, der nach Süden gedreht hatte, herübergetragen.
Es wurde wieder sehr warm. Die Hobbits rannten eine Weile auf dem Gras herum, wie er es ihnen geraten hatte. Dann legten sie sich zu einem Sonnenbad hin und genossen es so wie Leute, die plötzlich aus bitterkaltem Winter in ein freundlicheres Klima kommen oder wie diejenigen, die nach langer Krankheit und Bettlägerigkeit eines Tages aufwachen und feststellen, dass es ihnen unerwartet gut geht und der Tag voll neuer Verheißungen ist.
Als Tom zurückkam, fühlten sie sich wieder kräftig (und waren hungrig). Er tauchte, Hut zuerst, über dem Kamm des Berges auf, und hinter ihm kam brav eines nach dem anderen sechs Ponys: ihre fünf und eins dazu. Das letzte war deutlich das alte dicke Plumpel: Es war größer, kräftiger, dicker (und älter) als ihre Ponys. Merry, dem die anderen gehörten, hatte ihnen niemals solche Namen gegeben, aber für den Rest ihres Lebens hörten sie auf die neuen Namen, die Tom ihnen gegeben hatte. Tom rief sie eins nach dem anderen auf, und sie erklommen den Kamm und stellten sich in einer Reihe auf. Dann verbeugte sich Tom vor den Hobbits.
»So, da sind eure Ponys«, sagte er. »Sie haben (in mancher Beziehung) mehr Verstand als ihr wandernden Hobbits – mehr Verstand in ihren Nasen. Denn sie wittern die Gefahr im Voraus, in die ihr einfach hineinmarschiert seid; und wenn sie fortlaufen, um sich zu retten, dann laufen sie in der richtigen Richtung. Ihr müsst ihnen verzeihen; denn wenn ihre Herzen auch treu sind, so waren sie doch nicht dafür geschaffen, den Schrecken der Grabunholde die Stirn zu bieten. Seht, hier kommen sie wieder und bringen ihre ganze Last!«
Merry, Sam und Pippin zogen sich nun Kleidungsstücke an, die sie in ihren Rucksäcken fanden; und bald war ihnen zu heiß, denn es waren dickere und wärmere Sachen, die sie für den Winter mitgenommen hatten.
»Wo kommt das alte Pony her, dieses dicke Plumpel?«, fragte Frodo.
»Das ist meins«, sagte Tom. »Mein vierbeiniger Freund, obwohl ich selten auf ihm reite, und oft wandert er für sich allein weit über die Berge. Als eure Ponys bei mir waren, freundeten sie sich mit Plumpel an; und sie rochen ihn in der Nacht und rannten rasch zu ihm. Ich hatte mir schon gedacht, dass er nach ihnen Ausschau halten und ihnen mit seinen weisen Worten ihre Furcht nehmen würde. Aber jetzt, mein liebes Plumpel, wird der alte Tom reiten. Jawohl, er kommt mit euch mit, um euch auf den richtigen Weg zu bringen; also braucht er ein Pony. Denn man kann sich nicht so gut mit Hobbits unterhalten, die reiten, wenn man auf den eigenen zwei Beinen versucht, neben ihnen herzutrotten.«
Die Hobbits freuten sich sehr, als sie das hörten, und dankten Tom vielmals; er aber lachte und sagte, sie verstünden es so gut, sich zu verirren, dass er erst beruhigt wäre, wenn er sie heil und sicher über die Grenzen seines Landes gebracht hätte. »Ich habe allerhand zu erledigen«, sagte er, »mein Tun und mein Singen, mein Reden und mein Laufen und das Land bewachen! Tom kann nicht immer in der Nähe sein, um Türen und Weidenspalten aufzumachen. Ums Haus muss Tom sich kümmern, und Goldbeere wartet schon.«
Nach dem Sonnenstand war es immer noch ziemlich früh, etwa zwischen neun und zehn, und die Hobbits begannen ans Essen zu denken. Ihre letzte Mahlzeit war das Mittagessen neben dem senkrechten Stein am Tag zuvor gewesen. Sie aßen nun zum Frühstück den Rest von Toms Vorräten, die als Abendbrot gedacht gewesen waren, und außerdem das, was Tom noch mitgebracht hatte. Es war kein großes Mahl (für Hobbits und in Anbetracht der Umstände), aber sie fühlten sich danach doch sehr viel besser. Während sie aßen, ging Tom zu dem Grabhügel hinauf und sah die Schätze durch. Die meisten legte er auf einen Haufen, der auf dem Gras glitzerte und funkelte. Er hieß sie dort liegen »frei für alle Finder, Vögel, Tiere, Elben oder Menschen und alle freundlichen Geschöpfe«; denn so würde der Bann des Grabhügels gebrochen und vereitelt, und kein Unhold würde jemals hierher zurückkehren. Für sich selbst suchte er aus dem Haufen eine Brosche heraus, besetzt mit blauen Steinen in vielen Schattierungen wie Flachsblüten oder Flügel von blauen Schmetterlingen. Er schaute sie lange an, als ob ihm eine Erinnerung käme, dann schüttelte er den Kopf und sagte schließlich:
»Das ist eine hübsche Kleinigkeit für Tom und seine Herrin! Schön war sie, die dies vor langer Zeit auf ihrer Schulter trug. Goldbeere soll es jetzt tragen, und wir werden sie nicht vergessen!«
Für jeden der Hobbits wählte er einen langen Dolch aus, geformt wie ein Blatt und scharf, herrlich gearbeitet, damasziert mit Schlangenfiguren in rot und gold. Sie blitzten, als er sie aus den schwarzen Scheiden zog, die aus einem ungewöhnlichen Metall geschmiedet waren, leicht und stark und mit vielen feurigen Steinen besetzt. Ob es an irgendeiner Eigenschaft dieser Scheiden lag oder an dem Zauber, der den Grabhügel im Bann gehalten hatte, jedenfalls schienen die Klingen von der Zeit unberührt zu sein, ohne Rost, scharf und in der Sonne glitzernd.
»Alte Messer sind lang genug als Schwerter für Hobbits«, sagte er. »Scharfe Klingen zu haben ist gut, wenn Leute aus dem Auenland nach Osten, Süden ziehen oder sich in ferne Dunkelheit und Gefahr begeben.« Dann erzählte er ihnen, dass diese Klingen vor vielen langen Jahren von den Menschen aus Westernis geschmiedet worden seien: Sie waren Feinde des Dunklen Herrschers, doch wurden sie von dem bösen König von Carn Dûm im Lande Angmar überwältigt.
»Wenige erinnern sich ihrer jetzt noch«, murmelte Tom, »doch einige sind noch unterwegs, Söhne vergessener Könige, die in Einsamkeit wandern und sorglose Leute vor bösen Dingen behüten.«
Die Hobbits verstanden seine Worte nicht, aber während er sprach, war ihnen, als schauten sie über lange Jahre zurück wie über eine unendliche schattenhafte Ebene, auf der menschliche Gestalten dahinzogen, große und grimmige mit blitzenden Schwertern, und zuletzt kam einer mit einem Stern auf der Stirn. Dann verblasste die Vision, und sie waren wieder in der sonnenhellen Welt. Es war Zeit aufzubrechen. Sie machten sich bereit, packten ihre Rucksäcke und beluden die Ponys. Ihre neuen Waffen hängten sie an ihre Ledergürtel unter den Wämsern. Sie empfanden sie als sehr lästig und fragten sich, ob sie wohl jemals zu etwas nutze sein würden. Der Gedanke war ihnen niemals gekommen, dass Kampf eines der Abenteuer sein könnte, in die ihre Flucht sie führen würde.
Schließlich machten sie sich auf den Weg. Bergab führten sie ihre Ponys; dann saßen sie auf und trabten rasch das Tal entlang. Sie schauten sich um und sahen den Gipfel des alten Grabhügels auf dem Berg, und dort stiegen von dem Gold die Sonnenstrahlen wie eine gelbe Flamme empor. Dann ritten sie um einen Bergrücken und sahen nichts mehr.
Obwohl Frodo nach allen Seiten Ausschau hielt, erblickte er keine Spur der großen Steine, die wie ein Tor dagestanden hatten, und es dauerte nicht lange, da kamen sie zu der nördlichen Lücke und ritten rasch hindurch, und das Land fiel vor ihnen ab. Es war ein fröhlicher Ritt mit Tom Bombadil, wie er vergnügt auf dem dicken Plumpel, das sich viel schneller bewegte, als sein Leibesumfang verhieß, bald neben und bald vor ihnen trabte. Tom sang die meiste Zeit, aber es war hauptsächlich Unsinn, oder vielleicht auch eine fremde Sprache, die die Hobbits nicht kannten, eine alte Sprache, deren Wörter vor allem Staunen und Entzücken ausdrückten.
Sie kamen stetig voran, aber bald sahen sie, dass die Straße weiter weg war, als sie sich vorgestellt hatten. Selbst ohne den Nebel hätte ihr Mittagsschlaf am Tag zuvor verhindert, dass sie die Straße vor Einbruch der Nacht erreichten. Die dunkle Linie, die sie gesehen hatten, war nicht eine Baumreihe, sondern eine Reihe Büsche, und sie standen am Rande eines tiefen Grabens mit einer steilen Böschung auf der gegenüberliegenden Seite. Tom sagte, das sei einstmals die Grenze eines Königreiches gewesen, aber schon vor sehr langer Zeit. Ihm schien dabei etwas Trauriges einzufallen, und er wollte nicht viel darüber sagen.
Sie stiegen hinunter in den Graben und wieder heraus durch einen Einschnitt in der Böschung, und dann wandte sich Tom genau nach Norden, denn sie waren etwas zu weit nach Westen gekommen. Vor ihnen lag jetzt offenes und ziemlich ebenes Land, und sie beschleunigten ihr Tempo, doch stand die Sonne schon tief, als sie eine Reihe hoher Bäume vor sich sahen und wussten, dass sie nach vielen unerwarteten Abenteuern endlich die Straße erreicht hatten. Das letzte Stück ließen sie ihre Ponys galoppieren und hielten dann unter den langen Schatten der Bäume an. Sie standen oben auf einem steilen Abhang, und die Straße, die jetzt, da es Abend wurde, nur schwach erkennbar war, zog sich unterhalb von ihnen hin. An diesem Punkt verlief sie annähernd von Südwesten nach Nordosten, und zur Rechten der Hobbits fiel sie rasch ab in eine breite Niederung. Sie war ausgefahren und trug deutliche Spuren von heftigen Regenfällen in letzter Zeit; es waren Pfützen da und Schlaglöcher voller Wasser.
Sie ritten die Böschung hinunter und schauten nach beiden Seiten. Nichts war zu sehen. »So, hier sind wir endlich wieder«, sagte Frodo. »Ich nehme an, wir haben nicht mehr als zwei Tage durch meine Abkürzung durch den Wald verloren. Und vielleicht erweist sich die Verzögerung doch als nützlich – es mag sie von unserer Fährte abgelenkt haben.«
Die anderen schauten ihn an. Der Schatten der Furcht vor den Schwarzen Reitern überfiel sie plötzlich wieder. Seit sie den Alten Wald betreten hatten, waren ihre Gedanken hauptsächlich darauf gerichtet gewesen, wieder zur Straße zu kommen; erst jetzt, da sie zu ihren Füßen lag, erinnerten sie sich der Gefahr, die sie verfolgte und die höchstwahrscheinlich auf ebendieser Straße auf sie lauerte. Ängstlich schauten sie zurück auf die untergehende Sonne, doch war die Straße braun und leer.
»Glaubt Ihr«, fragte Pippin zögernd, »glaubt Ihr, dass wir heute Nacht noch verfolgt werden?«
»Nein, heute Nacht nicht, hoffe ich«, antwortete Tom Bombadil. »Und morgen vielleicht auch nicht. Aber verlasst euch nicht auf meine Vermutung; denn genau weiß ich es nicht. Fern im Osten versagt mein Wissen. Tom ist nicht Meister der Reiter vom Schwarzen Land weit jenseits dieses Landes.«
Trotzdem hätten es die Hobbits gern gesehen, dass er sie begleite. Sie glaubten, wenn überhaupt jemand wüsste, wie man mit Schwarzen Reitern fertig wird, dann er. Bald würden sie nun in Länder kommen, die ihnen völlig fremd waren und über die es im Auenland nur ganz ungenaue und weit zurückliegende Sagen gab, und in der aufkommenden Dämmerung hatten sie Heimweh. Ein Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit lastete auf ihnen. Sie standen schweigend da, es widerstrebte ihnen, endgültig Abschied zu nehmen, und erst allmählich merkten sie, dass Tom ihnen alles Gute wünschte und ihnen sagte, sie sollten guten Mutes sein und ohne anzuhalten bis zum Einbruch der Dunkelheit weiterreiten.
»Tom wird euch guten Rat geben, bis dieser Tag vorüber ist (danach muss euer Glück euch begleiten und euch führen): Nach vier Meilen auf dieser Straße kommt ihr zu einem Dorf, Bree unter dem Breeberg, und seine Türen schauen nach Westen. Dort werdet ihr ein altes Gasthaus finden, das Zum Tänzelnden Pony heißt. Gerstenmann Butterblume ist der brave Wirt. Dort könnt ihr übernachten, und danach wird der Morgen euren Weg beschleunigen. Seid kühn, aber vorsichtig! Lasst den Mut nicht sinken und reitet eurem Schicksal entgegen!«
Sie baten ihn, doch wenigstens bis zum Gasthaus mitzukommen und noch einen Schluck mit ihnen zu trinken; aber er lachte und lehnte es ab:
Toms Reich endet hier, er wird es nicht verlassen,
Tom hütet Haus und Hof, und Goldbeere wartet.
Dann drehte er sich um, warf seinen Hut in die Luft, sprang auf Plumpels Rücken, ritt die Böschung hinauf und davon und sang in der Dämmerung.
Die Hobbits kletterten auch hinauf und schauten ihm nach, bis er außer Sicht war.
»Es tut mir leid, von Meister Bombadil Abschied zu nehmen«, sagte Sam. »Er ist gewiss ein komischer Kauz. Vermutlich können wir eine ganze Weile suchen, und wir finden nichts Besseres oder Verrückteres. Aber ich will nicht leugnen, dass ich mich auf dieses Tänzelnde Pony freue, von dem er sprach. Ich hoffe, es wird ähnlich sein wie der Grüne Drache daheim! Was für Leute leben denn in Bree?«
»Es gibt Hobbits in Bree«, sagte Merry, »und auch Große Leute. Ich glaube, es wird ziemlich wie daheim sein. Das Pony ist ein gutes Wirtshaus, nach allem, was man hört. Meine Familie reitet ab und zu dorthin.«
»Mehr können wir uns gar nicht wünschen«, sagte Frodo. »Aber immerhin liegt es außerhalb des Auenlands. Tut nicht zu sehr, als ob ihr zu Hause wärt! Bitte denkt daran – ihr alle –, dass der Name Beutlin nicht erwähnt werden darf. Ich bin Herr Unterberg, wenn ein Name genannt werden muss.«
Sie schwangen sich auf ihre Ponys und ritten schweigend in den Abend. Es wurde rasch dunkel, als es langsam bergab und dann wieder bergauf ging, bis sie schließlich in einiger Entfernung Lichter aufblinken sahen.
Vor ihnen erhob sich der Breeberg und versperrte den Weg, eine dunkle Masse vor den dunstigen Sternen; und an seiner westlichen Flanke lag ein großes Dorf. Dorthin eilten sie jetzt und sehnten sich nur danach, ein Feuer zu finden und eine Tür, die die Nacht aussperrt.