DIE ENTSCHEIDUNGEN VON MEISTER SAMWEIS
Frodo lag, mit dem Gesicht nach oben, auf dem Boden, und das Ungetüm beugte sich über ihn, so versessen auf sein Opfer, dass es auf Sam und sein Rufen nicht achtete, bis er ganz nahe war. Als er herbeistürzte, sah er, dass Frodo schon gefesselt war, die gewaltigen Spinnfäden umwanden ihn von den Knöcheln bis zur Schulter, und das Ungetüm begann, ihn mit seinen großen Vorderbeinen halb hochzuheben und halb wegzuschleifen.
Auf dem Boden zwischen Sam und Frodo lag schimmernd Frodos Elbenklinge, wo sie ihm nutzlos aus der Hand gefallen war. Sam nahm sich nicht die Zeit, um zu überlegen, was zu tun sei, oder ob er tapfer oder treu oder zornerfüllt sei. Mit einem Schrei sprang er vor und packte das Schwert seines Herrn mit der Linken. Dann griff er an. Kein wütenderer Ansturm war je in der wilden Welt der Tiere gesehen worden, wo selbst ein verzweifeltes kleines Geschöpf, mit winzigen Zähnen bewaffnet, einen Turm aus Horn und Fell anspringen wird, der über seinem gefallenen Gefährten aufragt.
Als ob Kankra durch seinen schwachen Schrei aus irgendeinem hämischen Traum aufgescheucht worden sei, wandte sie langsam die entsetzliche Bosheit ihres Blicks auf ihn. Aber fast ehe sie gewahr wurde, dass ein größerer Zorn sie angriff, als sie ihn in unzähligen Jahren je erlebt hatte, schnitt ihr das schimmernde Schwert in den Fuß und hieb die Klaue ab. Sam sprang hinein in die Wölbungen ihrer Beine, und mit einem raschen Stoß mit der anderen Hand stach er nach den Trauben von Augen auf ihrem gesenkten Kopf. Ein großes Auge wurde dunkel.
Jetzt war das elende Geschöpf genau unter ihr und im Augenblick außer Reichweite ihres Stachels und ihrer Klauen. Ihr gewaltiger Leib mit seinem fauligen Leuchten war über ihm, und der Gestank warf ihn fast um. Seine Wut reichte indes noch für einen zweiten Hieb, und ehe sie sich auf ihn fallen lassen konnte, um ihn und seinen ganzen kleinen unverschämten Mut zu zermalmen, zog er ihr mit verzweifelter Kraft die schimmernde Elbenklinge über.
Aber Kankra war nicht wie Drachen, keine weichere Stelle hatte sie außer ihren Augen. Knotig und narbig war ihre uralte Haut, aber von innen heraus immer dicker geworden durch eine böse wuchernde Schicht nach der anderen. Die Klinge riss ihr eine furchtbar klaffende Wunde, aber diese abscheulichen Falten konnten von keiner Menschenkraft durchbohrt werden, nicht einmal, wenn Elb oder Zwerg die Waffe geschmiedet oder die Hand von Beren oder Turin sie geführt hätte. Sie wich zurück vor dem Streich und hob dann den großen Sack ihres Bauches hoch über Sams Kopf. Gift schäumte und sprudelte aus der Wunde. Jetzt spreizte sie ihre Beine und drückte ihren gewaltigen Körper wieder auf ihn hinunter. Zu früh. Denn Sam stand noch auf den Beinen; er ließ sein eigenes Schwert fallen und hielt mit beiden Händen die Elbenklinge mit der Spitze nach oben hoch, um das grausige Dach abzuwehren; und so stieß Kankra sich selbst mit der treibenden Kraft ihres eigenen grausamen Willens, mit einer Kraft, die größer war als die irgendeines Recken, auf einen schneidenden Dorn. Tief, tief stach er, während Sam langsam zu Boden gedrückt wurde.
Niemals in ihrer ganzen alten Welt der Bosheit hatte Kankra einen solchen Schmerz erfahren oder sich träumen lassen, dass sie ihn erfahren würde. Nicht der beherzteste Krieger des alten Gondor noch der wildeste Ork, der ihr in die Fänge geraten war, hatten ihr jemals solchen Widerstand geleistet oder die Waffe gegen ihr geliebtes Fleisch gerichtet. Ein Schauer überlief sie. Sie hob sich wieder hoch, entwand sich dem Schmerz, zog ihre gekrümmten Glieder unter sich und machte einen krampfhaften Satz rückwärts.
Sam war neben Frodos Kopf auf die Knie gefallen, ihm schwanden die Sinne in dem üblen Gestank, mit beiden Händen hatte er noch den Schwertgriff gepackt. Durch den Nebel vor seinen Augen gewahrte er undeutlich Frodos Gesicht, und hartnäckig mühte er sich, sich wieder in die Gewalt zu bekommen und gegen die Ohnmacht anzukämpfen, die ihn umfangen wollte. Langsam hob er den Kopf und sah sie, nur ein paar Schritte entfernt, wie sie ihn beäugte. Aus ihrem Rüssel rann giftiger Speichel, und eine grüne Flüssigkeit tröpfelte unter ihrem verwundeten Auge heraus. Da kauerte sie, ihr bebender Bauch flach auf dem Boden, die großen Bögen ihrer Beine zitternd, während sie sich zu einem neuen Sprung sammelte – diesmal, um zu zermalmen und totzustechen: nicht bloß ein klein wenig Gift, um ihr zappelndes Opfer zur Ruhe zu bringen; diesmal, um es zu töten und dann in Stücke zu reißen.
Während auch Sam sich hinkauerte und seinen Tod in ihren Augen sah, kam ihm ein Gedanke, als ob eine ferne Stimme gesprochen habe, und er stöberte mit der linken Hand in seiner Brusttasche und fand, was er suchte; kalt und hart und fest kam sie ihm bei der Berührung in einer gespenstischen Welt des Schreckens vor: Galadriels Phiole.
»Galadriel!«, sagte er schwach, und dann hörte er fern, aber deutlich Stimmen: die Rufe der Elben, die unter den Sternen in den geliebten Schatten des Auenlandes wanderten, und die Musik der Elben, die er im Schlaf in der Halle des Feuers in Elronds Haus vernommen hatte.
Und dann löste sich seine Zunge, und seine Stimme rief in einer Sprache, die er nicht kannte:
o menel palan-diriel,
le nallon sí di’nguruthos!
A tiro nin, Fanuilos!
Und damit stand er taumelnd auf und war wieder Samweis, der Hobbit, Hamfasts Sohn.
»Nun komm, du Scheusal!«, rief er. »Du hast meinen Herrn verletzt, du Untier, und dafür wirst du bezahlen. Wir gehen weiter, aber erst rechnen wir mit dir ab. Komm und versuch es noch mal!«
Als ob sein unbezwingbarer Mut die Wirkungskraft des Glases in Gang gesetzt hätte, flammte es plötzlich in seiner Hand auf wie eine weiße Fackel. Es leuchtete wie eine Sternschnuppe, die das dunkle Himmelszelt mit unerträglicher Helligkeit durchschneidet. Kein solcher Schrecken aus dem Himmel hatte je zuvor in Kankras Gesicht gebrannt. Seine Strahlen drangen in ihren verwundeten Kopf ein und durchschnitten ihn mit unerträglichem Schmerz, und die entsetzliche Seuche des Lichts griff von Auge zu Auge über. Sie fiel zurück, ihre Vorderfüße zuckten in der Luft, ihr Augenlicht versengt von inneren Blitzen, ihr Geist gepeinigt. Dann wandte sie ihren verletzten Kopf ab, rollte sich zur Seite und begann, Klaue um Klaue, zur Öffnung in der dunklen Felswand hinten zu kriechen.
Sam griff an. Er schwankte wie ein Betrunkener, aber er griff an. Und Kankra war endlich entmutigt, zusammengeschrumpft in der Niederlage, und sie zuckte und zitterte, als sie versuchte, vor ihm davonzueilen. Sie erreichte die Höhle, presste sich an den Boden, hinterließ eine grüngelbe Schleimspur und schlüpfte hinein, als Sam gerade einen letzten Hieb gegen ihre nachschleppenden Beine führte. Dann fiel er zu Boden.
Kankra war fort; und ob sie lange in ihrer Höhle liegen blieb, ihre Bosheit und ihren Schmerz nährte und in langsam vergehenden Jahren der Dunkelheit von innen heraus genas und ihre traubenförmigen Augen heilten, bis sie wiederum mit todbringender Gier ihre entsetzlichen Fallstricke in den Schluchten des Schattengebirges spann, berichtet diese Erzählung nicht.
Sam war allein. Als sich der Abend des Namenlosen Landes auf das Kampffeld senkte, kroch er müde zu seinem Herrn zurück.
»Herr, lieber Herr«, sagte Sam, aber Frodo antwortete nicht. Als er vorwärtsgerannt war, begeistert und jubelnd, frei zu sein, war Kankra mit entsetzlicher Schnelligkeit hinter ihm hergekrochen und hatte ihn mit einem raschen Hieb in den Nacken gestochen. Nun lag er bleich da und hörte keine Stimme und rührte sich nicht.
So schnell er konnte, schnitt er dann die fesselnden Stricke auf und legte Frodo den Kopf auf die Brust und an seinen Mund, konnte aber keine Lebensregung feststellen und auch nicht das schwächste Flattern des Herzens spüren. Oft rieb er seines Herrn Hände und Füße und berührte seine Stirn, aber alles war kalt.
»Frodo, Herr Frodo!«, rief er. »Lass mich hier nicht allein! Dein Sam ruft. Geh nicht dorthin, wohin ich dir nicht folgen kann! Wach auf, Herr Frodo! Oh, wach doch auf, Frodo, mein lieber, lieber Frodo. Wach auf!«
Dann wallte Zorn in ihm auf, und in einem Anfall von Raserei rannte er um den Körper seines Herrn herum, stach in die Luft, schlug auf Steine und schrie Herausforderungen. Mit einem Mal kam er zurück, beugte sich nieder und betrachtete Frodos Gesicht, bleich unter ihm in der Dunkelheit. Und plötzlich sah er, dass er in dem Bild war, das ihm in Galadriels Spiegel in Lórien gezeigt worden war: Frodo lag mit bleichem Gesicht unter einer großen, dunklen Felswand. Fest schlafend, wie er damals glaubte. »Er ist tot«, sagte er. »Er schläft nicht, er ist tot!« Und als ob seine Worte das Gift wieder wirksam gemacht hätten, schien es ihm, dass die Farbe des Gesichts grünlich fahl wurde.
Und dann überkam ihn schwarze Verzweiflung, und Sam beugte sich zum Boden und zog seine graue Kapuze über den Kopf, und es wurde Nacht in seinem Herzen, und er wusste nichts mehr.
Als endlich die Schwärze vorüberzog, schaute Sam auf, und Schatten waren rings um ihn; aber wie viele Minuten oder Stunden sich die Welt dahingeschleppt hatte, wusste er nicht. Er war noch an derselben Stelle, und sein Herr lag immer noch tot neben ihm. Die Berge waren nicht eingestürzt und die Erde nicht untergegangen.
»Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?«, sagte er. »Bin ich den ganzen Weg mit ihm hierher gekommen für nichts und wieder nichts?«
Und dann erinnerte er sich seiner eigenen Stimme; sie hatte zu Beginn ihrer Wanderung Worte gesprochen, die er damals selbst nicht verstand: Ich habe noch etwas zu tun, ehe alles vorbei ist. Ich muss es zu Ende bringen, Herr, wenn du mich verstehst.
»Aber was kann ich tun? Doch nicht Herrn Frodo tot und unbegraben hoch oben auf dem Gebirge verlassen und nach Hause gehen? Oder weitergehen? Weitergehen?«, wiederholte er, und einen Augenblick packten ihn Zweifel und Angst. »Weitergehen? Muss ich das tun? Und ihn verlassen?«
Dann endlich begann er zu weinen; und er ging zu Frodo, legte ihn ordentlich hin, faltete ihm die kalten Hände auf der Brust und hüllte ihn in seinen Mantel; und er legte sein eigenes Schwert auf eine Seite und den Stock, das Geschenk von Faramir, auf die andere.
»Wenn ich weitergehen soll«, sagte er, »dann muss ich dein Schwert nehmen, wenn du erlaubst, Herr Frodo, aber ich lege dieses neben dich, wie es neben dem alten König in dem Hügelgrab gelegen hatte; und du hast dein schönes Mithril-Panzerhemd vom alten Herrn Bilbo. Und dein Sternenglas, Herr Frodo, das hast du mir geliehen, und ich werde es brauchen, denn ich werde jetzt immer im Dunkeln sein. Es ist zu gut für mich, und die Herrin hat es dir geschenkt, aber vielleicht wird sie es verstehen. Verstehst du es, Herr Frodo? Ich muss weitergehen.«
Aber er konnte nicht gehen, noch nicht. Er kniete nieder und nahm Frodos Hand und konnte sie nicht loslassen. Und die Zeit verging, und er kniete immer noch, hielt die Hand seines Herrn und führte in seinem Inneren eine Auseinandersetzung.
Jetzt versuchte er, Kraft zu finden, um sich loszureißen und auf eine einsame Wanderung zu gehen – um Rache zu nehmen. Wenn er erst einmal gehen konnte, dann würde seine Wut ihn über alle Straßen der Welt bringen, ihn verfolgend, bis er ihn endlich hatte: Gollum. Dann würde Gollum in irgendeinem heimlichen Winkel sterben. Aber das war es nicht, was zu tun er ausgezogen war. Es würde sich nicht lohnen, deswegen seinen Herrn zu verlassen. Es würde ihn nicht zurückbringen. Nichts würde ihn zurückbringen. Es wäre besser, sie wären beide tot. Und auch das würde eine einsame Wanderung sein.
Er schaute auf die glänzende Spitze des Schwerts. Er dachte an die Orte, die hinter ihnen lagen, wo es einen schwarzen Grat gab und einen leeren Sturz ins Nichts. Auf diesem Weg gab es kein Entkommen. Das bedeutete nichts tun, nicht einmal trauern. Das war es nicht, was zu tun er ausgezogen war. »Was soll ich denn tun?«, rief er wieder, und jetzt schien er die bittere Antwort genau zu wissen: es zu Ende bringen. Noch eine einsame Wanderung, und die schlimmste.
»Was? Ich allein soll zu den Schicksalsklüften gehen und das alles?« Er zagte noch, aber die Entschlossenheit wuchs. »Was? Ich soll ihm den Ring abnehmen? Der Rat hat ihn ihm gegeben.«
Doch die Antwort kam sofort: »Und der Rat hat ihm Gefährten mitgegeben, damit der Auftrag nicht scheitern sollte. Und du bist der Letzte der ganzen Gemeinschaft. Der Auftrag darf nicht scheitern.«
»Ich wünschte, ich wäre nicht der Letzte«, stöhnte er. »Ich wünschte, der alte Gandalf wäre hier, oder sonst jemand. Warum bin ich ganz allein übriggeblieben, um eine Entscheidung zu treffen? Ich mache es bestimmt verkehrt. Und es ist nicht meine Sache, den Ring zu nehmen und mich vorzudrängeln.«
»Aber du hast dich nicht vorgedrängelt; du bist vorgeschoben worden. Und was das betrifft, dass du nicht der richtige oder passende Träger bist, nun, Herr Frodo war es nicht, könnte man sagen, und Herr Bilbo auch nicht. Sie hatten sich nicht selbst ausgewählt.«
»Nun ja, ich muss selbst eine Entscheidung treffen. Und ich werde sie treffen. Aber ich werde es bestimmt verkehrt machen: Das würde Sam Gamdschie ähnlich sehen.
Nun will ich mal überlegen: Wenn wir hier gefunden werden oder Herr Frodo gefunden wird und er hat das Ding bei sich, dann wird der Feind es bekommen. Und das ist das Ende von uns allen, von Lórien und Bruchtal und vom Auenland und von allem. Und es ist keine Zeit zu verlieren, sonst ist es sowieso das Ende. Der Krieg hat begonnen, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Dinge für den Feind schon gut stehen. Keine Möglichkeit, mit Ihm zurückzugehen und Rat oder Erlaubnis einzuholen. Nein, entweder hier sitzen, bis sie kommen und mich bei der Leiche des Herrn töten und Ihn bekommen; oder Ihn nehmen und gehen.« Er holte tief Luft. »Dann heißt es: Ihn nehmen!«
Er bückte sich. Sehr sanft machte er die Spange am Hals auf und fuhr mit der Hand in Frodos Rock; mit der anderen Hand hob er dann seinen Kopf, küsste die kalte Stirn und zog leicht die Kette über ihn. Und dann legte er den Kopf still wieder hin. Keine Veränderung zeigte sich auf dem ruhigen Gesicht, und dadurch war Sam mehr als durch alle anderen Zeichen endlich überzeugt, dass Frodo gestorben war und die Aufgabe abgegeben hatte.
»Leb wohl, Herr, mein Lieber«, murmelte er. »Verzeih deinem Sam. Er wird an diese Stelle zurückkommen, wenn die Aufgabe erledigt ist – wenn er es schafft. Und dann wird er dich nicht wieder verlassen. Ruhe hier, bis ich komme; und möge kein böses Geschöpf dir nahe kommen! Wenn die Herrin mich hören könnte und mir einen Wunsch erfüllte, dann würde ich mir wünschen, dass ich zurückkomme und dich hier wieder finde. Leb wohl!«
Und dann beugte er selbst den Hals und streifte die Kette über, und sofort wurde sein Kopf durch das Gewicht des Ringes zum Boden gezogen, als ob ihm ein großer Stein umgebunden worden wäre. Aber langsam, als ob das Gewicht geringer würde oder eine neue Kraft in ihm erwüchse, hob er den Kopf, und mit einer großen Anstrengung stand er dann auf und merkte, dass er gehen und seine Last tragen konnte. Und einen Augenblick hob er die Phiole hoch und blickte hinab auf seinen Herrn, und das Licht brannte jetzt sanft mit dem milden Strahlen des Abendsterns im Sommer, und in diesem Licht hatte Frodos Gesicht wieder eine schöne Farbe, bleich, aber von einer elbischen Schönheit wie bei einem, der schon lange die Schatten durchwandert hatte. Und mit dem schmerzlichen Trost dieses letzten Anblicks wandte sich Sam ab, verbarg das Licht und schwankte in die zunehmende Dunkelheit.
Er brauchte nicht weit zu gehen. Der Gang lag ein Stück hinter ihm, die Schlucht ein paar hundert Ellen oder weniger vor ihm. Der Pfad war in der Düsternis sichtbar, eine tiefe Spur, ein in unendlichen Zeiten ausgetretener Weg, der nun in einer langgestreckten Mulde mit Felswänden auf beiden Seiten sanft hinaufführte. Die Mulde verengte sich rasch. Bald kam Sam zu einer langen Treppe mit flachen Stufen. Der Orkturm war jetzt direkt über ihm und blickte finster auf ihn herab, und in ihm glühte das rote Licht. Sam war in dem dunklen Schatten darunter verborgen. Er erreichte das obere Ende der Treppe und war nun endlich in der Schlucht.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte er dauernd zu sich selbst. Aber das hatte er nicht. Obwohl er sein Möglichstes getan hatte, es sich gut zu überlegen, so ging ihm das, was er tat, doch durchaus gegen den Strich. »Habe ich es falsch gemacht?«, murmelte er. »Was hätte ich tun sollen?«
Als die Steilwände der Schlucht ihn einschlossen, ehe er den eigentlichen Gipfel erreichte, ehe er endlich den Pfad erblickte, der in das Namenlose Land hinunterführte, wandte er sich um. Einen Augenblick schaute er zurück, in unerträglichem Zweifel befangen. Wie einen kleinen Fleck in der zunehmenden Düsternis konnte er noch die Öffnung des Ganges sehen; und er glaubte zu sehen oder zu erraten, wo Frodo lag. Er bildete sich ein, dort unten sei ein schwacher Schimmer auf dem Boden, oder vielleicht täuschten ihn seine Tränen, als er hinunterschaute auf diesen hohen, steinigen Ort, wo sein ganzes Leben in Trümmer gegangen war.
»Wenn mir nur mein Wunsch erfüllt werden könnte, mein einziger Wunsch«, seufzte er, »zurückzugehen und ihn wiederzufinden!« Dann endlich wandte er sich um zu dem Weg vor ihm und machte ein paar Schritte: die schwersten und widerstrebendsten, die er je getan hatte.
Nur ein paar Schritte; und jetzt nur noch ein paar weitere, und dann würde er hinuntergehen und diese Höhe nie wiedersehen. Und dann plötzlich hörte er Schreien und Stimmen. Er stand mucksmäuschenstill. Orkstimmen. Sie waren vor ihm und hinter ihm. Ein Geräusch von stampfenden Füßen und misstönenden Rufen: Orks kamen zur Schlucht herauf von der anderen Seite, vielleicht von irgendeinem Eingang zum Turm. Stampfende Füße und Rufe hinter ihm. Er fuhr herum. Er sah kleine rote Lichter, Fackeln, die dort unten blinkten, als sie aus dem Gang kamen. Endlich war die Jagd im Gange. Das rote Auge des Turms war nicht blind gewesen. Er war gefangen.
Jetzt war das Flackern der sich nähernden Fackeln und das Klirren von Waffen vor ihm sehr nah. In einer Minute würden sie den Gipfel erreichen und ihn erwischen. Er hatte zu lange gebraucht, um seine Entscheidung zu treffen, und jetzt nützte der Entschluss ihm nichts mehr. Wie konnte er entkommen oder sich retten oder den Ring retten? Der Ring. Er war sich keines Gedankens und keiner Entscheidung bewusst. Er merkte nur, dass er die Kette herauszog und den Ring in die Hand nahm. Die Spitze der Orkgruppe tauchte in der Schlucht vor ihm auf. Da streifte er ihn über.
Die Welt veränderte sich, und ein einziger Augenblick war angefüllt mit einer Stunde des Denkens. Sofort wurde er gewahr, dass sein Gehör sich schärfte, während das Sehvermögen abnahm, aber anders als in Kankras Höhle. Alle Dinge um ihn waren jetzt nicht dunkel, sondern verschwommen; dabei war er selbst in einer grauen, dunstigen Welt, allein, wie ein kleiner, schwarzer, fester Felsen, und der Ring, der seine linke Hand hinunterdrückte, war wie ein Kreis aus heißem Gold. Er hatte ganz und gar nicht das Gefühl, unsichtbar, sondern in entsetzlicher und einzigartiger Weise sichtbar zu sein; und er wusste, dass irgendwo ein Auge nach ihm forschte.
Er hörte das Krachen von Stein und das Murmeln von Wasser fern im Morgul-Tal; und weiter unten unter dem Fels das gurgelnde Elend von Kankra, die umhertappte, in irgendeinem verborgenen Gang verloren; und Stimmen in den Verliesen des Turms; und die Schreie der Orks, als sie aus dem Gang herauskamen; und betäubend, in seinen Ohren dröhnend, der Krach der Füße und das durchdringende Geschrei der Orks vor ihm. Er wich zur Felswand zurück. Aber sie marschierten heran wie ein Geisterheer, graue, verzerrte Gestalten in einem Nebel, nur Angstträume, mit bleichen Flammen in den Händen. Und sie gingen an ihm vorbei. Er duckte sich und versuchte, in irgendeine Spalte zu kriechen, um sich zu verstecken.
Er lauschte. Die Orks aus dem unterirdischen Gang und die anderen, die hinuntermarschierten, hatten einander gesehen, und beide Gruppen beeilten sich jetzt und schrien. Er hörte sie beide ganz deutlich und verstand, was sie sagten. Vielleicht bewirkte der Ring, dass man Sprachen verstand, oder überhaupt verstand, insbesondere die Diener von Sauron, dem Schöpfer des Rings, sodass Sam, wenn er aufpasste, die Worte verstehen konnte und sich ihre Bedeutung selbst übersetzte. Gewiss hatte der Ring beträchtlich an Macht zugenommen, aber eins vermochte er nicht zu geben, und das war Mut. Im Augenblick dachte Sam nur daran, sich zu verstecken und liegen zu bleiben, bis alles wieder ruhiger war; und er lauschte ängstlich. Er wusste nicht, wie nahe die Stimmen waren, die Worte schienen fast in seinen Ohren zu sein.
»Heda, Gorbag! Was machst du hier oben? Hast schon genug vom Krieg?«
»Befehl, du Tölpel. Und was tust du, Schagrat? Hast es satt, hier oben zu lauern? Denkst daran, zum Kämpfen herunterzukommen?«
»Befehle für dich. Ich befehlige diesen Pass. Also sei höflich. Was hast du zu berichten?«
»Nichts.«
»He! He! Hierher!« Ein Schrei unterbrach die Unterhaltung der Führer. Die Orks weiter unten hatten plötzlich etwas gesehen. Sie begannen zu rennen. Die anderen auch.
»He! Heda! Da ist etwas! Liegt genau auf dem Weg. Ein Späher, ein Späher!« Es gab ein Tuten heiserer Hörner und ein Gewirr bellender Stimmen.
Mit einem entsetzlichen Schlag wurde Sam aus seiner ängstlichen Stimmung gerissen. Sie hatten seinen Herrn gesehen. Was würden sie tun? Er hatte Geschichten von Orks gehört, die einem das Blut erstarren ließen. Es war nicht zu ertragen. Er sprang auf. Er ließ die Aufgabe und alle Entscheidungen fahren und Furcht und Zweifel mit ihnen. Er wusste jetzt, wo sein Platz war und gewesen war: an der Seite seines Herrn, obwohl ihm nicht klar war, was er dort tun könnte. Zurück rannte er, die Stufen hinunter, den Pfad hinunter zu Frodo.
»Wie viele sind dort?«, dachte er. »Dreißig oder vierzig mindestens vom Turm, und erheblich mehr als das von unten, schätze ich. Wie viele kann ich töten, ehe sie mich kriegen? Sie werden die Flamme des Schwertes sehen, sobald ich es ziehe, und früher oder später werden sie mich kriegen. Ich möchte mal wissen, ob ein Lied es je erwähnen wird: Wie Samweis auf dem Hohen Pass fiel und einen Wall von Leichen um seinen Herrn auftürmte. Nein, kein Lied. Natürlich nicht, denn der Ring wird gefunden werden, und es wird keine Lieder mehr geben. Ich kann’s nicht ändern. Mein Platz ist bei Herrn Frodo. Sie müssen das verstehen – Elrond und der Rat und die großen Herren und Frauen mit all ihrer Weisheit. Ihre Pläne sind gescheitert. Ich kann nicht ihr Ringträger sein. Nicht ohne Herrn Frodo.«
Aber die Orks waren für seinen getrübten Blick jetzt außer Sicht. Er hatte keine Zeit gehabt, über sich selbst nachzudenken, doch jetzt merkte er, dass er müde war, müde fast bis zur Erschöpfung: Seine Beine würden ihn nicht tragen, wie er wollte. Er war zu langsam. Der Pfad schien meilenlang. Wohin waren sie alle gegangen in dem Nebel?
Da waren sie wieder! Noch ein gutes Stück vor ihm. Eine Menge Gestalten um etwas, das auf dem Boden lag; ein paar schienen hierhin und dorthin zu stürzen, gebückt wie Hunde auf einer Spur. Er versuchte, eine letzte Anstrengung zu machen.
»Los, Sam«, sagte er. »Sonst kommst du wieder zu spät.« Er lockerte das Schwert in der Scheide. Gleich würde er es ziehen, und dann …
Es gab ein wildes Geschrei, Gejohle und Gelächter, als etwas vom Boden aufgehoben wurde: »Hau-ruck! Hau-ruck! Auf! Auf!«
Dann rief eine Stimme: »Nun los! Den schnellen Weg. Zurück zum Unteren Tor! Sie wird uns heute Nacht allem Anschein nach nicht belästigen.« Die ganze Orkbande setzte sich in Bewegung. Vier in der Mitte trugen einen Körper hoch auf ihren Schultern. »Hau-ruck!«
Sie hatten Frodo mitgenommen. Sie waren fort. Er konnte sie nicht einholen. Immer noch quälte er sich voran. Die Orks erreichten den Gang und gingen hinein. Die mit der Last zuerst, und hinter ihnen gab es eine ganze Menge Gerangel und Geschubse. Sam kam hinterdrein. Er zog das Schwert, ein blaues Flackern in seiner zitternden Hand, aber sie sahen es nicht. Gerade als er keuchend herankam, verschwand der letzte von ihnen in dem dunklen Loch.
Einen Augenblick stand er da, schnappte nach Luft und hielt sich die Brust. Dann fuhr er sich mit dem Ärmel übers Gesicht, wischte Schmutz, Schweiß und Tränen ab. »Verflucht seien die dreckigen Orks!«, sagte er und eilte ihnen nach in die Dunkelheit.
Es kam ihm nicht mehr sehr dunkel vor im Gang, eher war es, als ob er aus einem dünnen Dunstschleier in dichteren Nebel gekommen sei. Seine Müdigkeit nahm zu, aber sein Wille wurde umso härter. Er glaubte, den Schein der Fackeln ein Stück vor sich zu sehen, aber so sehr er es auch versuchte, er konnte sie nicht einholen. Orks gehen rasch in unterirdischen Gängen, und diesen Gang kannten sie gut; denn trotz Kankra mussten sie ihn oft benutzen, weil es der schnellste Weg von der Toten Stadt über das Gebirge war. Wann in der weit zurückliegenden Vergangenheit der Hauptgang und die große, runde Höhle, in der Kankra vor unendlich langer Zeit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte, angelegt worden waren, wussten sie nicht. Aber viele Nebenwege hatten sie selbst auf beiden Seiten gegraben, um bei ihrem Kommen und Gehen im Auftrag ihrer Herren die Höhle zu vermeiden. Heute Nacht hatten sie nicht vor, weit hinunter zu gehen, sondern eilten zu einem seitlichen Durchgang, der zurück zu ihrem Wachturm auf dem Felsen führte. Die meisten von ihnen waren voll hämischer Freude und entzückt über das, was sie gefunden und gesehen hatten, und während sie rannten, schwatzten und brabbelten sie, wie es ihre Art war. Sam hörte das Geschrei ihrer rauhen Stimmen, eintönig und durchdringend in der bewegungslosen Luft, und zwei Stimmen konnte er von allen übrigen unterscheiden: Sie waren lauter und näher bei ihm. Die Hauptleute der beiden Gruppen schienen als Letzte zu gehen, und sie unterhielten sich dabei.
»Kannst du deinen Haufen nicht dazu bringen, weniger Radau zu machen, Schagrat?«, brummte der eine. »Wir wollen uns Kankra nicht auf den Hals laden.«
»Ach, hör auf, Gorbag! Deine machen mehr als den halben Krach«, sagte der andere. »Aber lass die Jungs doch spielen. Um Kankra brauchen wir uns eine Zeitlang keine Sorgen zu machen, schätze ich. Sie hat auf ’nem Nagel gesessen, scheint’s, und darüber werden wir nicht weinen. Hast du es nicht gesehen: eine scheußliche Schweinerei den ganzen Weg bis zu ihrer verfluchten Höhle? Wir halten ja sonst immer Zucht und Ordnung. Also lass sie lachen. Und wir haben endlich ein bisschen Glück gehabt: haben etwas bekommen, was Lugbúrz haben will.«
»Ach, Lugbúrz will es haben? Was, glaubst du, ist es? Elbisch sieht es mir aus, aber zu klein. Was ist so gefährlich an einem solchen Wesen?«
»Weiß ich nicht, bis wir’s angesehen haben.«
»Oho! Sie haben dir also nicht gesagt, was du zu erwarten hast? Sie sagen uns nicht alles, was sie wissen, nicht wahr? Nicht mal die Hälfte. Aber sie können auch Fehler machen, selbst die Höchsten.«
»Pst, Gorbag!« Schagrat hatte die Stimme gesenkt, sodass Sam selbst mit seinem seltsam geschärften Gehör nur mit knapper Not verstehen konnte, was er sagte. »Das mag sein, aber sie haben überall Augen und Ohren; einige höchstwahrscheinlich unter meinen Leuten. Aber es besteht kein Zweifel, dass sie über irgendetwas beunruhigt sind. Die Nazgûl unten sind beunruhigt nach deinem Bericht; und Lugbúrz auch. Etwas wäre fast entwischt.«
»Fast, sagst du!«, sagte Gorbag.
»Na schön«, sagte Schagrat, »aber wir reden später darüber. Warte, bis wir zum Unteren Weg kommen. Da ist eine Stelle, wo wir ein bisschen reden können, während die Jungs weitergehen.«
Kurz danach sah Sam die Fackeln verschwinden. Dann gab es ein rumpelndes Geräusch, und gerade, als er sich beeilte, einen Rums. Soweit er vermuten konnte, hatten die Orks den Weg verlassen und waren zu ebendem Durchgang gekommen, mit dem Frodo und er es versucht hatten und der versperrt gewesen war.
Da schien ein großer Stein im Weg zu liegen, aber die Orks waren irgendwie hindurchgelangt, denn er hörte ihre Stimmen auf der anderen Seite. Sie rannten immer noch weiter, tiefer und tiefer in den Berg hinein, zurück zum Turm. Sam war verzweifelt. Sie trugen die Leiche seines Herrn fort für irgendeinen üblen Zweck, und er konnte nicht folgen. Er schlug und schob an dem Block und warf sich dagegen, aber er gab nicht nach. Dann hörte er nicht weit drinnen, wie er glaubte, die beiden Hauptleute wieder reden. Er stand still und lauschte ein wenig und hoffte, vielleicht etwas Nützliches zu erfahren. Vielleicht würde Gorbag, der zu Minas Morgul zu gehören schien, herauskommen, und dann würde er hineinschlüpfen können.
»Nein, ich weiß es nicht«, sagte Gorbag. »Die Nachrichten kommen in der Regel schneller durch, als irgendetwas fliegen könnte. Aber ich forsche nicht nach, wie das geschieht. Am ungefährlichsten, wenn man es nicht tut. Grr! Wenn ich an diese Nazgûl denke, überläuft es mich eiskalt. Sie ziehen dir die Haut vom Leibe, sobald sie dich ansehen, und lassen dich ganz kalt im Dunkeln auf der anderen Seite. Aber Er mag sie; sie sind Seine Lieblinge heutzutage, es hat also keinen Zweck zu murren. Ich sage dir, es ist kein Spaß, unten in der Stadt zu dienen.«
»Du solltest es mal hier oben versuchen mit Kankra zur Gesellschaft«, sagte Schagrat.
»Ich würde es gern irgendwo versuchen, wo keiner von ihnen ist. Aber jetzt ist Krieg, und wenn der vorbei ist, mögen die Dinge leichter sein.«
»Es steht gut für uns, heißt es.«
»Das hätten sie gern«, brummte Gorbag. »Wir werden sehen. Aber jedenfalls, wenn es mit dem Krieg wirklich gutgeht, dann sollte es erheblich mehr Platz geben. Was meinst du – wenn wir eine Möglichkeit haben, du und ich, dann hauen wir ab und machen uns irgendwo mit ein paar zuverlässigen Jungs selbständig, irgendwo, wo es gute und leicht erreichbare Beute gibt und keine großspurigen Vorgesetzten.«
»Ah«, sagte Schagrat. »Wie in alten Zeiten.«
»Ja«, sagte Gorbag. »Aber rechne nicht drauf. Ich mache mir ziemliche Sorgen. Wie ich gesagt habe, die Hohen Herren freilich«, seine Stimme senkte sich fast zu einem Flüstern, »freilich, selbst die Größten können Fehler machen. Etwas wäre fast entwischt, sagst du. Ich sage: Etwas ist entwischt, und wir müssen danach Ausschau halten. Immer müssen die armen Uruks die Karre aus dem Dreck ziehen und ernten wenig Dank. Aber vergiss das nicht: Die Feinde lieben uns ebenso wenig wie Ihn, und wenn sie Ihn unterkriegen, dann sind wir auch geliefert. Aber nun sag mal: Wann bist du ausgesandt worden?«
»Vor einer Stunde ungefähr, gerade, bevor du uns sahst. Eine Meldung kam: Nazgûl unruhig. Späher auf Treppe befürchtet. Doppelte Wachsamkeit. Streife zum oberen Ende der Treppe. Ich kam sofort.«
»Schlimme Geschichte«, sagte Gorbag. »Pass auf – unsere Stummen Wächter waren vor mehr als zwei Tagen schon unruhig, das weiß ich. Aber meine Streife bekam auch am nächsten Tag noch keinen Marschbefehl, und es wurde auch keine Botschaft nach Lugbúrz gesandt: weil das Große Signal aufstieg und der Hohe Nazgûl in den Krieg zog und all das. Und dann konnten sie eine ganze Weile Lugbúrz nicht dazu bekommen, der Sache Aufmerksamkeit zu zollen, wie mir gesagt wurde.«
»Das Auge war anderswo beschäftigt, nehme ich an«, sagte Schagrat. »Große Dinge geschehen im Westen, heißt es.«
»Das will ich glauben«, knurrte Gorbag. »Aber inzwischen sind Feinde die Treppe heraufgekommen. Und was hast du gemacht? Du sollst Wache halten, nicht wahr, Sonderbefehle oder nicht. Wofür bist du eigentlich da?«
»Jetzt reicht’s aber. Du brauchst mich nicht über meine Pflichten zu belehren. Wir haben aufgepasst. Wir wussten, dass komische Dinge vor sich gehen.«
»Sehr komische!«
»Ja, sehr komische: Lichter und Rufen und das alles. Aber Kankra hatte sich geregt. Meine Jungs sahen sie und ihren Schnüffler.«
»Ihren Schnüffler? Was ist denn das?«
»Du musst ihn gesehen haben: einen kleinen, dünnen, schwarzen Kerl; sieht selbst wie ’ne Spinne aus, oder vielleicht mehr wie ’n verhungerter Frosch. Er ist schon früher hier gewesen. Kam das erste Mal aus Lugbúrz, vor Jahren, und wir erhielten Befehl von ganz oben, ihn laufenzulassen. Seitdem ist er ein- oder zweimal auf der Treppe gewesen, aber wir haben ihn in Frieden gelassen. Ich nehme an, er schmeckt nicht gut: Um Befehle von ganz oben würde sie sich nicht kümmern. Aber eine feine Wache haltet ihr im Tal: Einen Tag vor diesem ganzen Radau war er hier oben. Gestern bei Einbruch der Nacht sahen wir ihn. Jedenfalls berichteten meine Jungs, dass die Hohe Frau ein bisschen Spaß hat, und das erschien mir ganz gut, bis die Meldung kam. Ich dachte, ihr Schnüffler hat ihr ein Spielzeug gebracht oder du hast ihr vielleicht ein Geschenk geschickt, einen Kriegsgefangenen oder sonst was. Ich mische mich nicht ein, wenn sie spielt. Nichts kommt unbemerkt an Kankra vorbei, wenn sie auf der Jagd ist.«
»Nichts, sagst du! Hast du deine Augen nicht aufgesperrt da hinten? Ich sage dir, ich bin besorgt. Was immer die Treppe heraufkam, ist durchgekommen. Es hat ihre Spinnweben durchgeschnitten und ist glatt aus der Höhle rausgekommen. Das ist etwas, worüber man nachdenken sollte!«
»Nun ja, aber zuletzt hat sie ihn doch gekriegt, nicht wahr?«
»Ihn gekriegt? Wen gekriegt? Diesen kleinen Burschen? Wenn er der Einzige gewesen wäre, dann hätte sie ihn binnen kurzem in ihre Speisekammer gebracht, und da wäre er jetzt. Und wenn Lugbúrz ihn haben will, dann würdest du hingehen müssen, um ihn zu holen. Hübsch für dich. Aber da waren mehr als einer.«
An diesem Punkt begann Sam aufmerksamer zu lauschen und presste sein Ohr an den Stein.
»Wer hat die Stricke durchschnitten, mit denen sie ihn gefesselt hatte, Schagrat? Derselbe, der die Spinnweben durchschnitt. Hast du das nicht gesehen? Und wer hat die Hohe Frau mit einer Nadel gestochen? Derselbe, schätze ich. Und wo ist er? Wo ist er, Schagrat?«
Schagrat antwortete nicht.
»Da musst du mal ein bisschen nachdenken, wenn dein Grips dafür reicht. Es ist nicht zum Lachen. Niemand, nicht ein Einziger hat je zuvor Kankra mit einer Nadel gestochen, wie du genau wissen solltest. Das ist weiter kein Unglück; aber denke doch – da ist hier einer auf freiem Fuß, der gefährlicher ist als jeder andere verdammte Aufrührer, den es je gab seit den schlechten alten Zeiten, seit der großen Belagerung. Etwas ist entwischt.«
»Und was ist es dann?«, brummte Schagrat.
»Nach allen Anzeichen, Hauptmann Schagrat, würde ich sagen, dass ein gewaltiger Krieger hier frei herumläuft, ein Elb höchstwahrscheinlich, mit einem Elbenschwert jedenfalls und vielleicht auch mit einer Axt; und auch in deinem Bereich läuft er frei herum, und du hast ihn nie ausfindig gemacht. Wirklich sehr komisch!« Gorbag spuckte aus. Sam lächelte grimmig bei dieser Beschreibung von sich.
»Na ja, du hast schon immer schwarzgesehen«, sagte Schagrat. »Du kannst die Zeichen deuten, wie du willst, aber es mag noch andere Wege geben, sie zu erklären. Jedenfalls habe ich überall Wächter aufgestellt, und ich gedenke mich jeweils nur mit einer Sache zu befassen. Wenn ich mir den Burschen, den wir gefangen haben, angesehen habe, dann werde ich anfangen, mir über etwas anderes Sorgen zu machen.«
»Ich vermute, du wirst bei dem kleinen Kerl nicht viel finden«, sagte Gorbag. »Er hat mit dem wirklichen Unheil vielleicht gar nichts zu tun. Der große Kerl mit dem scharfen Schwert scheint sowieso geglaubt zu haben, dass er nicht viel wert ist – hat ihn da einfach liegen lassen: typische Elbenfinte.«
»Wir werden sehen. Komm nun weiter. Wir haben genug geredet. Lass uns jetzt einen Blick auf den Gefangenen werfen!«
»Was willst du mit ihm machen? Vergiss nicht, dass ich ihn zuerst entdeckt habe. Wenn’s irgendeinen Spaß gibt, müssen ich und meine Jungs dabei sein.«
»Nun, nun«, brummte Schagrat, »ich habe meine Befehle. Und es würde mich und dich Kopf und Kragen kosten, ihnen zuwiderzuhandeln. Jeder, der sich unbefugt hier aufhält und von der Wache gefunden wird, soll im Turm festgesetzt werden. Der Gefangene soll ausgezogen werden. Genaue Beschreibung von jedem Stück, Kleidung, Waffen, Brief, Ring oder Schmuckstück, muss sofort nach Lugbúrz geschickt werden, und nur nach Lugbúrz. Und der Gefangene soll sicher eingesperrt werden und unverletzt bleiben, bei Todesstrafe für jeden Angehörigen der Wache, bis Er jemanden schickt oder selbst kommt. Das ist klar und deutlich, und das werde ich tun.«
»Ausgezogen?«, fragte Gorbag. »Was, Zähne, Nägel, Haare und alles?«
»Nein, nichts dergleichen. Er ist für Lugbúrz, sage ich dir doch. Man will ihn heil und unversehrt haben.«
»Das wird dir schwerfallen«, lachte Gorbag. »Er ist jetzt nichts als Aas. Was Lugbúrz mit solchem Zeug will, kann ich nicht erraten. Er könnte genauso gut gleich vor die Hunde gehen.«
»Du Narr«, knurrte Schagrat. »Du hast sehr klug geredet, aber es gibt eine Menge, was du nicht weißt, obwohl’s die meisten anderen Leute wissen. Du wirst vor die Hunde oder zu Kankra gehen, wenn du nicht aufpasst. Aas! Ist das alles, was du von der Hohen Frau weißt? Wenn sie mit Stricken fesselt, dann ist sie auf Fleisch aus. Sie frisst kein totes Fleisch und säuft kein kaltes Blut. Dieser Bursche ist nicht tot!«
Sam wurde schwindlig, und er hielt sich am Stein fest. Ihm war, als ob die ganze dunkle Welt auf dem Kopf stünde. So groß war sein Schreck, dass er fast ohnmächtig geworden wäre, aber während er noch darum kämpfte, bei Sinnen zu bleiben, hörte er tief in seinem Inneren jemanden sagen: »Du Narr, er ist nicht tot, und dein Herz wusste es. Verlass dich nicht auf deinen Kopf, Samweis, er ist nicht dein edelster Teil. Dein Fehler ist es, dass du niemals wirklich Hoffnung hattest. Was ist jetzt zu tun?« Im Augenblick nichts, als sich gegen die reglosen Steine zu lehnen und zu lauschen, den ekelhaften Orkstimmen zuzuhören.
»Klar!«, sagte Schagrat. »Sie hat mehr als ein Gift. Wenn sie auf der Jagd ist, dann gibt sie ihnen nur einen Klaps auf den Nacken, und sie werden so schlapp wie entgräteter Fisch, und dann macht sie mit ihnen, was sie will. Erinnerst du dich an den alten Ufthak? Wir hatten ihn seit Tagen vermisst. Dann fanden wir ihn in einem Winkel; aufgehängt war er, aber er war hellwach und starrte. Wie wir lachten! Vielleicht hatte sie ihn vergessen, aber wir rührten ihn nicht an – es hat keinen Zweck, sich mit ihr einzulassen. Nee – dieser kleine Drecksack wird in ein paar Stunden aufwachen; und abgesehen von ein bisschen Übelkeit wird er ganz in Ordnung sein. Oder würde es sein, wenn Lugbúrz ihn in Frieden ließe. Und natürlich abgesehen davon, dass er sich fragen wird, wo er ist und was mit ihm geschehen ist.«
»Und was mit ihm geschehen wird«, lachte Gorbag. »Wir können ihm jedenfalls ein paar Geschichten erzählen, wenn wir nichts anderes tun können. Ich nehme nicht an, dass er jemals im schönen Lugbúrz war, deshalb wird er vielleicht gern wissen wollen, was er zu erwarten hat. Es wird spaßiger sein, als ich geglaubt habe. Lass uns gehen!«
»Es wird keinen Spaß geben, das sage ich dir«, erwiderte Schagrat. »Und er muss in sicherem Gewahrsam bleiben, sonst sind wir alle so gut wie tot.«
»Na schön! Aber wenn ich du wäre, würde ich den Großen fangen, der noch frei herumläuft, ehe du einen Bericht nach Lugbúrz schickst. Es würde nicht allzu hübsch klingen, wenn du sagst, du hast das Kätzchen gefangen und die Katze entwischen lassen.«
Die Stimmen wurden allmählich leiser. Sam hörte, dass sich Schritte entfernten. Er erholte sich von seinem Schreck, und jetzt packte ihn eine wilde Wut. »Alles habe ich verkehrt gemacht!«, rief er. »Ich wusste, dass ich das tun würde. Jetzt haben sie ihn, die Teufel, die Drecksäcke! Niemals deinen Herrn verlassen, niemals, niemals: Das war mein richtiger Grundsatz. Und ich wusste es in meinem Herzen. Möge mir verziehen werden! Jetzt muss ich zu ihm zurück. Irgendwie, irgendwie!«
Er zog sein Schwert wieder und schlug mit dem Heft an den Stein, aber es gab nur einen dumpfen Klang. Das Schwert leuchtete indes so hell, dass er in dem Schein ein wenig sehen konnte. Zu seiner Überraschung merkte er, dass der große Block die Form einer schweren Tür hatte und nicht einmal doppelt so hoch wie er groß war. Darüber war ein dunkler leerer Raum zwischen der Oberkante und dem niedrigen Gewölbe des Durchgangs. Wahrscheinlich sollte das nur ein Hindernis sein, damit Kankra hier nicht eindrang, und war auf der Innenseite mit einem Riegel oder Bolzen außerhalb der Reichweite ihrer List gesichert. Mit aller Kraft, die er noch hatte, sprang Sam hoch, packte die Oberkante, zog sich hinauf und ließ sich fallen; und dann rannte er, als wäre er besessen, das leuchtende Schwert in der Hand, um eine Biegung und einen sich windenden Gang hinauf.
Die Nachricht, dass sein Herr noch am Leben war, beflügelte ihn zu einer letzten Anstrengung, und er dachte nicht mehr an seine Müdigkeit. Vor sich konnte er nichts sehen, denn dieser neue Gang ging ununterbrochen um die Ecke; aber er glaubte, die beiden Orks einzuholen; ihre Stimmen klangen wieder näher. Jetzt schienen sie ganz dicht vor ihm zu sein.
»Genau, das werde ich tun«, sagte Schagrat in zornigem Ton. »Ihn in die oberste Kammer stecken.«
»Wozu?«, brummte Gorbag. »Hast du unten keine Gefängnisse?«
»Er kommt auf Nummer Sicher, das sage ich dir«, antwortete Schagrat. »Verstehst du? Er ist wertvoll. Ich traue nicht allen meinen Jungs, und keinem von deinen; und dir auch nicht, wenn du auf Spaß versessen bist. Er kommt dahin, wo ich ihn haben will, und wo du nicht hinkommst, wenn du nicht höflich bleibst. Ganz nach oben, sage ich. Da wird er sicher sein.«
»Wird er das?«, sagte Sam. »Du vergisst den großen, mächtigen Elbenkrieger, der noch frei herumläuft!« Und damit rannte er um die letzte Ecke und musste feststellen, dass er durch irgendeine Täuschung des Ganges oder des Gehörs, das der Ring ihm verlieh, die Entfernung falsch eingeschätzt hatte.
Die beiden Orks waren immer noch ein Stück voraus. Er konnte sie jetzt sehen, schwarz und gedrungen vor einem roten Feuerschein. Der Gang verlief endlich gerade, eine Steigung hinauf; und an seinem Ende waren große Doppeltüren, die weit offen standen und wahrscheinlich in die tiefen Kammern weit unter dem hohen Horn des Turms führten. Die Orks mit der Last waren schon hindurchgegangen. Gorbag und Schagrat näherten sich dem Tor.
Sam hörte plötzlich heiseres Singen, Hörnerblasen und das Dröhnen von Gongs, ein abscheulicher Lärm. Gorbag und Schagrat waren schon auf der Schwelle.
Sam schrie und schwang Stich, aber seine kleine Stimme ging in dem Getöse unter. Niemand achtete auf ihn.
Die großen Türen schlugen zu. Bum. Die eisernen Riegel schnappten ein. Klong. Das Tor war geschlossen. Sam warf sich gegen die verriegelten ehernen Torflügel und fiel besinnungslos auf den Boden. Er war draußen in der Dunkelheit. Frodo war am Leben, aber vom Feind gefangen.