Zurück in meiner Wohnung, bereitete ich mich auf meine Siesta vor. Ich hatte meine eigene Version von Mittagsschlaf: was zu essen runterkriegen und unten behalten, eine halbe Schmerz-/Beruhigungstablette und Sayonara, ihr Blödsäcke. Zog ein langes T-Shirt mit dem Logo THE JAMES DEANS an, putzte mir die Zähne und schaute kurz bei Sky News rein. Vielleicht war die Welt besser geworden.

War sie nicht.

Der Parteikongress der Republikaner fand in New York statt. Christopher Hitchens hatte geschrieben, es würde ein knappes Rennen werden, und ich glaubte ihm. Tschetschenische Rebellen hatten eine Schule gekapert und drohten, sie würden dreihundert Kinder umbringen, wenn ihre Kämpfer nicht freigelassen wurden. Eins der kleinen Mädchen wurde in Sicherheit gebracht, und ich schwöre, es sah Serena May ähnlich wie gespuckt. Teil dieses ganzen Bergs an Schuld, an Reue war, dass mich jedes kleine Mädchen an sie erinnerte. Wie denn auch nicht?

Ich schaltete schnell aus, schluckte die Arznei herunter, wartete, dass sie sich in der Blutbahn meldete, und murmelte: »Gott, ich weiß, dass Du mich gründlich und wahrscheinlich für alle Zeiten gearscht hast, aber lass mich jetzt mal kurz in Ruhe – keine Träume von dem Kind, oder weißt Du was? Ich fang wieder an zu saufen.«

Ja, Gott bedrohen, richtig brillante Idee, als wäre Ihm nicht sowieso alles scheißegal. Aber scheiß der Hund drauf.

Als zusätzlichen Vermerk schob ich nach: »Habe ich etwa keinem Pfarrer geholfen, zählt das etwa nicht?«

Wahrscheinlich nicht.

Es klopfte an der Tür.

»Scheiße.«

Konnte ich es mir leisten, das zu ignorieren? Der Schlaf kroch bereits meine Nerven entlang. Weiteres Klopfen, und ich seufzte, machte auf.

Wellewulst.

Sie war in Uniform, sah ernst, einschüchternd aus.

Ich sagte: »Ich habe meine Fernsehgebühren bezahlt, Herr Wachtmeister.«

Sie war nicht amüsiert, das war sie aber sowieso selten. Unser Verhältnis war meist kämpferisch, aggressiv, und wie sehr wir es auch versuchten, wir konnten uns nie voneinander befreien. Bevor Cody abgeknallt wurde, hatten wir eine Art Wärme erreicht. Sie war in einer festen Beziehung, und es sah aus, als könnten wir uns in einer Art Freundschaft einrichten.

Ich hatte sie vor einem sehr bösartigen Stalker gerettet, und ich wusste, wie sehr sie das schätzte, aber sie reagierte feindselig darauf, dass sie jetzt in meiner Schuld stand, und das verstand weiß Gott niemand besser als ich. Du hilfst mir, ich schulde dir, und bis der Deckel bezahlt ist, ist mir unbehaglich, bin ich hibbelig, und was ich am besten kann, ist feindselig sein. Die schreckliche Wahrheit, und wir wussten es beide, war, dass wir aneinandergekoppelt sein mussten, dass wir aneinandergekoppelt waren, und irgendwo in diesem ganzen Kuddelmuddel hatten wir beide Angst, einander zu verlieren.

Ist das eine verfahrene Scheißsituation? Klar. Oder vielleicht ist es auch nur ziemlich irisch.

Ich dachte oft, wenn sie nur nicht lesbisch wäre, gäbe es dann was?

Wenn ich kein Alkoholiker wäre. Wenn … wenn … wenn.

In den zurückliegenden Jahren hatten wir einander mehr als sonst jemandem geholfen. Dann hatten wir eine Hochebene annähernder Intimität erreicht, und einer von uns beiden oder alle beide sind davongehoppelt, um sich zu verstecken. Da bricht einem doch das Herz. Meins brach ganz bestimmt, und was Wellewulst betraf, so stand ihr ein gründlich zerdeppertes Herz quer übers Gesicht geschrieben, falls man Gesichter lesen konnte.

Aber die Schüsse hatten alles geändert. Und meine Bitterkeit konnte den dünnen Faden, der uns schon fast verbunden hatte, nicht reparieren.

Sie sagte anklagend: »Sie stehen jetzt erst auf?«

Ihr Gesicht entriet jeden Make-ups, und sie sah angespannt aus.

»Eigentlich wollte ich mich gerade hinlegen.«

Sie sah mit großem Aufwand auf ihre Uhr. »Es ist halb zwei Uhr nachmittags.«

Ich war versucht, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen und Ööh, verpissen Sie sich! zu rufen, beließ es aber bei: »Sie sind extra hergekommen, um mir zu sagen, wie spät es ist? Ich habe eine Armbanduhr.«

Sie schob an mir vorbei und marschierte ins Wohnzimmer.

Ich schloss die Tür, sagte: »Es wird mich bei den Nachbarn nicht gerade beliebt machen, wenn Bullen vor der Tür stehen.«

Sie sah sich um, sah nichts, was ihre Laune bessern konnte, also fragte ich: »Darf ich was anbieten? Ein Bier, einen großen Whiskey?«

Stichel, stichel.

Sie sagte: »Ich hätte gedacht, Witze über Alkoholismus wären kaum angebracht.«

So standen wir da, Feindseligkeit umschwirrte uns, bis ich fragte: »Sie haben sich also gedacht: ›Ich geh ihn mal besuchen und gehe ihm einfach gepflegt auf den Sack‹? Mit Verkehrsregeln nicht ausgelastet? Ja, ja, die bösen, bösen Ampeln.«

Bei ihr schien allmählich die Luft raus zu sein. Sie plumpste auf einen Sessel, fragte: »Wissen Sie, wie schwer es ist, Polizist zu sein?«

Ich wollte rufen: »Hallo, ich war selbst mal einer«, sagte aber nichts.

Sie fuhr fort: »Und wenn man eine Frau ist – eine lesbische Frau –, dann finden sie das besonders gut. Man weiß einfach, dass man auf keiner Beförderungsliste steht. Voriges Jahr haben sie Röcke an uns ausgegeben, um unser Image sanfter zu gestalten, als würde ein Schurke den Unterschied zu würdigen wissen, das Messer fallen lassen und sagen: ›Tut mir leid, mir war nicht klar, dass Sie einen Rock tragen.‹ Keine der anderen Frauen trägt einen. Ich habe meinen Schlagstock und einen Gürtel für die Handschellen, mit Fach für das Funkgerät, Gesichtsschutz für Mund-zu-Mund-Beatmung und Latexhandschuhe für Gesundheit und Sicherheit, besonders, wenn man eine Leiche durchsuchen muss.«

Sie schauderte leicht, als sie das sagte, fügte dann hinzu: »Make-up ist erlaubt, haben Sie das gewusst? Solang es kein roter Lippenstift oder was Knalliges ist. Das Haar muss eine ganz bestimmte Länge haben. Da gibt es eine Zicke, mein Sergeant, die misst mir die Haare nach, da habe ich mir einen Pferdeschwanz gebunden, und da hat sie gesagt, der muss unter die Mütze.«

Es war, als hätte sie sich noch nie wirklich gestattet, die Einzelheiten ihres Jobs zu überprüfen, und ich fragte mich, worauf das hinaussollte. Sie war noch nicht fertig.

»Wir sollen uns im Streifenwagen abwechseln, und das ist immer zu zweit. Auf Fußstreife ist man oft ganz allein. Wissen Sie, wie oft ich Streife fahre?«

Ich musste etwas sagen, versuchte es mit: »Nicht oft, rate ich mal.«

»Nie. Ist das gerecht? Aber was sage ich. Um gerecht geht es gar nicht. Ständig klebe ich auf der Revierwache. Ich hasse das, es ist wie im Büro, die Leute suchen ihren Führerschein, ihren Pass, melden einen Diebstahl. Es ist so langweilig. Dann bringen sie einen Besoffenen rein, viele Besoffene …«

Sie fasste mich ins Auge. Ich fiel offenkundig unter diese Kategorie.

Am liebsten hätte ich gesagt: »Och, die arme kleine Wellewulst, darf nicht im großen Auto mitfahren.«

Aber ich beherrschte mich, und sie fuhr fort: »Ich bin nämlich liebend gern Polizistin, aber wenn ich nicht bald befördert werde, muss ich überlegen, ob ich kündige.«

Ihr Gesicht, als sie das sagte, war eine Tragödie in Miniatur. Der Schlaf versuchte, seine Ansprüche auf mich anzumelden, und ich wollte, dass sie endlich die Flatter macht, also sagte ich: »Tun Sie, was Sie tun müssen, egal, was es ist, um die Beförderung zu kriegen.«

Sie sah mich direkt an, und mir wurde klar, dass wir zum eigentlichen Grund für ihren Besuch gekommen waren.

Sie sprach: »Mir macht ein Gesundheitsproblem große Sorge, und ich weiß nicht, wem ich das sagen kann.«

Manchmal führt nur Schlichtheit ans Ziel, also sagte ich: »Sagen Sie’s mir.«

Sie atmete tief ein.

»Ich habe einen Knoten in der Brust gefunden. Es könnte nur Gewebe sein, aber – «

Ich zögerte nicht.

»Das müssen Sie untersuchen lassen.«

Einen Augenblick lang ging es bei ihr nicht weiter, vielleicht, wer weiß, stellte sie sich schreckliche Konsequenzen vor.

Ich machte weiter Druck. »Wellewulst, versprechen Sie mir, dass Sie einen Arzttermin vereinbaren.«

Sie stellte ihre Brennweite wieder ein.

»Okay, mach ich, aber es gibt noch etwas anderes.«

Ich wartete. Sie fragte: »Sie wissen von der Kreuzigung?«

Ich nickte, obwohl ich herzlich wenig wusste.

Sie sagte: »Er war achtzehn Jahre alt, John Willis, sie haben ihn ans Kreuz genagelt und das Ding auf dem Hügel über der städtischen Müllkippe aufgestellt. Wir dachten, es hätte vielleicht was mit Drogen zu tun, wäre vielleicht eine Warnung gewesen oder vielleicht sogar was Politisches. Ist es nicht. Er kommt aus einer respektablen Familie, sollte aufs College gehen und hat keine Vorstrafen.«

Sie wartete auf meinen Beitrag.

Ich war verblüfft, schockiert, angewidert. In meinem Kopf hatte ich Visionen von Cody, und ich dachte, vielleicht übergebe ich mich.

Brauchte geschlagene fünf Minuten, bevor ich keuchen konnte: »Irgendwelche Hinweise?«

Sie fasste sich, zügelte den Aufruhr, den der Fall in ihr auslöste. »Wir haben nichts – keine Hinweise, nichts, keinerlei Anhaltspunkt, Schweigen im Walde. Aber wenn jemand da etwas Licht ins Dunkel bringen könnte, das wäre sehr karriereförderlich.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich kapierte.

»Och nö, Sie wollen, dass ich herumschnüffle. Sie sind es doch, die mir immer sagt, ich soll die Finger von diesem ekligen Geschäft lassen, Sie sagen doch immer, es wird mich umbringen.«

Sie hatte immerhin genug Anstand, beschämt auszusehen, sagte dann: »Ich will nicht, dass Sie irgendwas Gefährliches machen, aber Sie haben ein unheimliches Talent, Fäden aufzuspüren.«

Bevor ich ablehnen konnte – und ich hatte vor abzulehnen –, zog sie einen Zettel hervor und sagte: »Hier ist der Name, er hat im Claddagh gelebt, ich lasse den Zettel hier. Denken Sie nur darüber nach, okay? Um mehr bitte ich Sie gar nicht, Jack.«

Jack.

Sie benutzte sonst nie meinen Vornamen. Daran konnte man ihre Verzweiflung ablesen.

Als sie zur Tür ging, sagte sie: »Sie sehen erschöpft aus, gönnen Sie sich ein bisschen Ruhe.«

Mit allem Sarkasmus, den ich aufbringen konnte, sagte ich: »Ihre Besorgnis rührt mich. Wenn ich Sie nächstes Mal sehe, will ich hören, dass Sie sich haben untersuchen lassen.« Ich versuchte, es leichthin klingen zu lassen, nicht zu zeigen, wie beunruhigt ich war.

Sie war auf dem Flur, einen Lichtstrahl auf den goldenen Knöpfen ihrer Uniform. Fast eindrucksvoll sah sie aus, und verletzlich, und sie sagte: »Ich bin nicht besorgt, ich habe nur versucht, höflich zu sein.«

Ich rief ihr nach: »Das war noch nix. Legen Sie mehr rein.«

Ich knallte die Tür zu, damit die Nachbarn wussten, dass ich wieder da war, in aller Wildheit wieder da war. Hob den Zettel auf, las:

John Willis

3, Claddagh Park

Galway

Ich setzte mich auf den Sessel, und bevor ich auch nur mit Nachdenken anfangen konnte, fielen mir die Augen zu, und der Schlaf schnappte mich weg.

Herbert Spencer schrieb: »Es gibt ein Prinzip, das eine Sperre gegen jede Information, ein Beweis gegen alle Argumente ist und jeden unfehlbar in immerwährender Unwissenheit hält – dies Prinzip lautet: Erst verachten, dann ermitteln.«

Ich habe natürlich keine Ahnung, wie Spencer aussah, aber er erschien in meinem benebelten Schlaf, hielt Hammer und Nägel bereit, zitierte Obiges und rief dann, dieser Fall werde nie gelöst werden, da ich nicht in der richtigen Geistesverfassung sei. Er sah ein bisschen wie mein Vater aus, und dann brüllte er auf Irisch: »Bhí cúramach!«

Sei vorsichtig.

Wellewulst kam auch in dem Traum vor, aber ihre Rolle weiß ich nicht mehr, außer dass sie extrem unglücklich war. Serena May, das tote Kind, erschien natürlich, hatte mich mit seinen traurigen Augen fest im Blick, bis ich aufwachte, winselnd, in Schweiß gebadet.

Meine Wohnung war dunkel, und ich fummelte meine Armbanduhr zurecht … Heiland, sieben Uhr, ich war fünf Stunden lang weg gewesen. Fasste den Vorsatz, meinen Schlaftablettenkonsum drastisch herunterzufahren. Was die Bitterkeit betraf, so fasste ich keinen solchen Vorsatz – sie war mein einziger Treibstoff.

Jack Taylor auf dem Kreuzweg
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