Ich ging zum Friedhof, schuldbewusst, weil ich nicht bei Codys Beerdigung gewesen war. Und was bringt man mit?
Ein bisschen spät für Blumen, und ein echtes Blumenkind war er nie gewesen. Die Band Franz Ferdinand hatte er toll gefunden, also kaufte ich eine von deren CDs, und der Mann im Plattenladen sagte mir: »Ihre beste Zeit haben die hinter sich.«
Als hätte ich gefragt.
Ich wollte hinzufügen: »Genau wie Cody.«
Es regnete. Bei Friedhöfen gibt es, glaube ich, ein Statut, dass Regen Pflicht ist. Während ich inmitten der Totenkreuze wandelte, tat ich mein Bestes, die Inschriften nicht zu lesen. Ich schleppte genug Verstorbene mit mir herum, um einen Konvent im steten Gebet zu halten. Staunte wieder, dass wir auf der Insel immer noch die einzige Begräbnisstätte mit einer protestantischen und einer katholischen Seite haben.
Da wunderten sie sich, warum es im Norden mit dem Frieden nicht voranging, und hier waren sogar die Toten getrennt.
Ich fand das Grab innerhalb von fünf Minuten, einfach ein provisorisches Schild mit Codys Namen und Todesdatum. Man darf ein Jahr lang keinen Grabstein errichten. Warum nicht? Als würde man es sich anders überlegen und sagen: »Jetzt hatte ich Bedenkzeit und mich gegen das Gedenken entschieden.«
Das Grab war ein Gewirr aus Blumen, Ministatuen von sämtlichen Heiligen im Kalender, winzigen Kuscheltieren, bereits gut vom Regen vollgesuppt, und einem gerahmten Foto von Cody. Es sah ihm nicht ähnlich, und ich war irgendwie erleichtert. Es war ein gestelltes Foto, und für eine förmliche Studie solcher Art hätte er nie lange genug stillgehalten. Ich kenne mich nicht aus bei der Etikette an Gräbern. Kniet man, betet man, blickt man als Teil der Regelung untröstlich drein, wie, was?
Ich kniete.
Scheiß drauf.
Meine Hosenbeine zogen gierig Gras und Schmutz an – krieg das erst mal wieder sauber –, ich legte die CD zu den anderen Spenden und sagte: »Du hättest ein Anwärter sein können. Auf alles.«
Sagte es mit amerikanischem Akzent, den hatte er so gemocht. Ich glaube, ich meinte es ernst, obwohl es sich im Zentrum – wie die besten Gebete – hohl anhörte. Nicht die Worte, die waren so gut, wie Worte eben sind, unecht eben.
Ich stand wieder auf, die Knie taten mir weh, und hörte: »Mr Taylor.«
Drehte mich um und sah Codys Mutter. Ich hatte sie nur das eine Mal gesehen, als ihr Mann mir ins Gesicht spuckte. Sie trug einen schweren schwarzen Mantel, so dunkel wie die Schatten unter ihren Augen. Ich nickte, mir fehlten wahrhaft die Worte.
Sie sah auf das Päckchen, das ich hinterlegt hatte, und ich sagte: »Eine CD.« Kam mir nicht nur knickerig, sondern lächerlich vor.
Sie nickte, sagte: »Er hat Musik geliebt.«
Kann eine Stimme müde, abgenutzt sein?
Ihre war es.
Sie streckte die Hand aus, und ich zuckte zurück, erwartete einen Schlag. Sie berührte mich sanft am Arm, sagte: »Er hat Sie so bewundert.«
O Gott.
Ich musste es sagen, so schwach es auch war.
»Es tut mir so schrecklich leid.«
Sie starrte sein Foto an, in ihren Augen alle Trauer, die man je zu sehen kriegen würde.
Sie sagte: »Wenn man sein Kind verliert, verliert das Leben alle Bedeutung.«
Bevor ich irgendeine grässliche Plattitüde äußern konnte, setzte sie hinzu: »Sie sind ein Mensch, der von Verlusten umgeben ist.«
Und einen entsetzlichen Moment lang dachte ich, ich drehe durch.
Sie fügte hinzu: »Ich hasse Sie nicht, Mr Taylor, Sie haben unserem Cody für kurze Zeit einen echten Lebenssinn gegeben.«
Ich wollte Danke sagen, aber meine Stimme hatte mich verlassen.
Sie sprach weiter: »Wenn ich meine Gebete noch spräche, würde ich sogar versuchen, für Sie zu beten. Aber wie bei mir, glaube ich, kommt auch bei Ihnen Gottes Hilfe zu spät.«
Ich war schon oft von Experten verflucht worden, aber wenige Äußerungen haben mich so verdammt wie diese. Es war die stille Tonart tiefer Überzeugung.
»Bitte, gehen Sie jetzt, ich möchte mit meinem Jungen allein sein.«
Im Davonschlurfen sagte ich zu mir selbst, als wäre ich im Korridor auf dem Weg von der Todeszelle zum elektrischen Stuhl: »Toter Mann unterwegs.«
Ich traf mich mit Wellewulst in Jury’s Hotel, unten in der Quay Street. Sie hatten eine Kaffeebar und waren stolz auf deren Klasse. Das war das Angebot, und ich weiß nicht, ich glaube kaum, dass der Erwerb eines Kaffees einem Klasse verleiht, egal, wie viel man für das Mistzeug zahlt, aber was zum Teufel weiß ich denn schon. Ich bestellte einen doppelten Espresso, aber die Maschine war kaputt, also nahm ich eine Diät-Coca.
Wellewulst erschien und sah besser beieinander aus als letztens noch. Sie trug eine Lederjacke, eins dieser kurzen Bomberpilotenteile, und einen Rock!
Ich starrte ihre Beine an, und sie gab mir den bösen Blick.
Ich sagte: »Ja und? Sie tragen ständig Jeans, da hab ich mich nur gefragt, was Sie verstecken.«
Sie war zornig, aber, weil Frau, auch neugierig. Fragte: »Und …?«
Wenn man nett zu ihr war, barg das immer seine Gefahren, also beließ ich es bei: »Hab schon schlimmere gesehen.«
Sie starrte meine Hörhilfe und meine zerschrammten Hände an. »Soll das ein ganz neues Image werden? Hoffen Sie, für eine weitere Fortsetzung von Rocky entdeckt zu werden?«
Ich musterte sie finster, sagte: »Sie reißen Witze, trinken am helllichten Vormittag – ich glaube, Sie ziehen gerade selbst eine einwandfreie Midlife-Crisis durch.«
Ich hatte ihr das Material gegeben, das Keegan mir aus London geschickt hatte, und von meinem Treffen mit Gail berichtet. Jetzt fragte ich: »Wann wird sie verhaftet?«
Sie blickte beiseite, antwortete nicht, und in mir brandete die schiere Fassungslosigkeit auf.
»Sie haben alles, was Sie brauchen, jetzt sagen Sie mir bitte, dass Sie handeln werden.«
Sie atmete tief ein.
»Das sind alles Indizien, es gibt keine harten Beweise, und man muss berücksichtigen, dass diese englische Familie in Irland einen schweren Verlust erlitten hat; wenn man sie ohne Anhaltspunkte dieser entsetzlichen Verbrechen anklagt, würde das dem Tourismus schaden, die Beziehungen zwischen uns und dem Vereinigten Königreich belasten und – «
Ich stoppte sie mit: »Ja, ich weiß, wie es funktioniert, aber um des lieben Jesu Christi willen!«
Ich hatte nicht die Worte, um meiner Frustration Luft zu machen. Klar, mit dem System war man sowieso, sagen wir mal, gearscht, aber sie musste doch, Allmächtiger Gott, nachdem ich ihr den gesamten Fall auf einem Silbertablett überreicht hatte, in der Lage sein, etwas zu unternehmen.
Wütig patschte ich mir mit der Hand gegen die Stirn. Ich wollte nur noch schreien.
»Ich liefere Ihnen den ganzen Sums unterzeichnet und gelöst frei Haus, und was – nichts?«
Ihr Gesicht spiegelte meine Bestürzung, und mir wurde klar, dass es nichts brachte, wenn ich ihr Vorwürfe machte. Ich versuchte, die Wut verrauchen zu lassen. Mein ganzes Leben lang, Gott vergebe mir und Eoin Heaton bitte ebenfalls, hatte ich auf den falschen Hund eingeprügelt.
Ich quengelte: »Ach, scheiß drauf … scheiß doch auf alles drauf.«
»Wir werden sie scharf beobachten. Die offizielle Linie lautet: Abstreiten, dass irgendwelche neuen Hinweise gefunden wurden.«
Heiland, hatte ich es satt.
»Jemals was von Claud Cockburn gehört?«, fragte ich.
»Von wem?«
»Er hat gesagt: ›Nie etwas glauben, bevor es offiziell dementiert wurde.‹«
Ich musste fragen.
»Die Tests, Sie, äh … machen sich doch Sorgen um Ihre, äh … Gesundheit. Schon was gehört?«
Meine Zögerlichkeit, was das Aussprechen des Wortes Brüste betraf, amüsierte sie, und es tat mir gut, sie lächeln zu sehen.
Sie sagte: »Ich hatte eine Biopsie – ziemliche Tortur übrigens –, und mir wurde versichert, dass bald die Resultate kommen.«
Sie machte sich Sorgen, fügte hinzu: »Aber Sie, Jack, passen Sie bitte auf sich auf, okay?«
Ich sah mich in der Kaffeebar vom Jury’s um und sagte: »Ich? Nein, ich werde Klasse an den Tag legen.«
Draußen trat ich frustriert gegen eine Mauer, und ein Passant witzelte: »Wieder nix im Lotto, was?«
Eine ganze Stadt voller gottverdammter Scheißkabarettisten.
Drei Tage später brannte Kings Lagerhaus bis auf die Grundmauern ab. Noch vor zwölf Uhr mittags kamen die Polizisten, um mich abzuholen, zwei Stück, in Uniform, mit den neuen Jacken und natürlich den Standardschuhen mit der dicken Sohle. Passte zum Ausdruck in ihren Augen.
Nummer eins, ein älterer Typ, sagte: »Der Polizeipräsident möchte mit Ihnen sprechen.«
Nummer zwei sah aus, als wollte er mich vermöbeln.
Als ich in den Streifenwagen stieg, fragte ich den Älteren: »Was nagt denn an Ihrem Partner?«
Er zuckte die Achseln. »Er mag Sie nicht.«
Ich sah den Typ an, Ende zwanzig, voll Spucke und Essig, wie man hier sagt, die neue Züchtung, ging wahrscheinlich auf die Abendschule.
»Er kennt mich nicht mal«, sagte ich.
Der Ältere lachte. »Viel schlimmer, er kennt Ihre Akte.«
Ich wandte mich an den Jungspund. »Ich nehme nicht an, dass Sie mir sagen wollen, weshalb ich verhört werden soll?«
Er war ein Knoten unterdrückten Zorns, sagte: »Halten Sie den Mund.«
Die irische Version der Rechtsbelehrung.
Sie brachten mich direkt in Clancys Büro, zu El Motz Supremo, dem Herrn Polizeipräsidenten. Einst mein bester Kumpel, wir sind zusammen Streife gegangen, haben die Anfangsgründe der Polizeiarbeit gelernt. Und dann kam meine Entlassung, mein jäher Absturz, und dann wurde die Spülung betätigt. Und er, er stieg die Karriereleiter hinauf, Dienstgrad um Dienstgrad, langsam und sicher. Er war aus Roscommon – dort wissen sie, wie das Spiel gespielt wird, und wenige wussten es, wie er es wusste. Über die Jahre war unser Verhältnis in regelrechten Krieg ausgeartet. Hin und wieder ließ er mich verhaften, versuchte, mich wenn schon nicht kaltzustellen, so doch einzuschüchtern.
Er saß hinter einem riesigen Schreibtisch, heute mal ganz in Blau, Orden und Ehrenzeichen auf der Brust wie beim Festival des schlechten Geschmacks. Sein Gesicht war neuerdings eingefallen, und tiefe Furchen waren in jedes erreichbare Fetzchen Haut geätzt. Ich glaube, das Spiel hat seinen eigenen Preis. Er sah nicht einen Moment lang von der Ansammlung an Papier auf seinem Schreibtisch auf, ließ schließlich einen Ordner zuschnappen, blickte hoch und sagte: »Timmins, Sie können gehen.«
Das war der ältere Polizist. Und zu dem Jungspund sagte er: »Sie bleiben bei Mr Taylor und mir.«
Clancy zeigte auf den ungepolsterten Stuhl vor seinem Schreibtisch und bedeutete mir, ich solle mich setzen.
Ich setzte mich.
Der Jungspund stand hinter mir.
Ich wartete.
Clancy lehnte sich auf seinem Drehsessel zurück, sagte: »Du hast schon wieder Aufsehen erregt.«
Ich sagte: »Ich brauche etwas mehr Anhaltspunkte.«
Zwischen ihm und dem jungen Typ wurde ein Blick getauscht, und ich wusste, wer der neue Vollstrecker war – der junge Typ, der mich offensichtlich nicht leiden konnte. Es gibt immer einen, den Typ, der die Drecksarbeit machen wird, den Befiehl-ich-folge-Roboter.
Clancy sagte: »Mr King, ein herausragender Geschäftsmann, eine Säule des Gemeinwesens – sein Lagerhaus ist ausgebrannt, und es war kein Unfall.«
Ich tat, als ließe ich mir das durch den Kopf gehen, fragte dann: »Und wenn ich eine kühne Vermutung anstellen kann, ist er Mitglied im Golfklub, einer deiner Kumpels?«
Ich spürte, wie der Jungspund hinter mir sich regte, widerstand aber dem Impuls, mich umzudrehen.
Clancy ignorierte das, fuhr fort.
»Vor ein paar Tagen besuchte ihn ein Mann vom Gesundheitsamt, ein Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dir aufweist und nur mäßig verschleierte Drohungen ausstieß. Und zuvor hatte ein Alki, ein in Unehre gefallener Expolizist, ebenfalls ganz ähnliche Drohungen ausgestoßen. Was die beiden gemeinsam hatten, war die durchgeknallte Theorie, Mr King strecke seine Ware mit Bestandteilen von Hundekadavern.«
Der Typ hinter mir brach in schallendes Gelächter aus, anders lässt es sich nicht beschreiben.
Clancy wartete auf meine Reaktion, aber ich starrte ihn einfach an.
Dann fragte er: »Was bist du jetzt – Haustierdetektiv? Es reicht dir nicht, ein Kind umzubringen, den Tod eines unschuldigen jungen Mannes zu verursachen, jetzt belästigst du die unbescholtenen Bürger?«
Ich zwang mich, die Kommentare unkommentiert zu lassen, und fragte: »Stehe ich unter Arrest?«
Er stand auf.
»Wir haben uns mit dem Gesundheitsamt in Verbindung gesetzt, und wenn sie Anklage erheben wollen, werden wir gern behilflich sein. Einstweilen ein beherzigenswerter Rat – halte dich zum Teufel aus Polizeiangelegenheiten raus. Wenn du was untersuchen willst, warum findest du nicht heraus, wer den jungen Mann erschossen hat, für dessen Wohlergehen du verantwortlich warst?«
Ich musste die Zähne zusammenbeißen. »Oh, das kommt schon noch.«
Er kam um den Schreibtisch herum und beugte sich richtig nah zu mir herab. Sein Aftershave war teuer. Und überwältigend.
»Wir haben es bereits herausgefunden, und weißt du was? Überraschung, Überraschung, es war die Mutter des kleinen Mädchens, das du umgebracht hast.«
Ich versuchte, meine Verblüffung nicht zu zeigen. »Und? Habt ihr sie verhaftet?«
Er straffte sich, schüttelte sich etwas Mulm von den Schultern. »Sobald wir sie lokalisiert haben. Wir hegen aber irgendwie die Hoffnung, sie könnte einen weiteren Versuch unternehmen, sodass wir sie in flagranti erwischen, nachdem sie die … schmutzige Tat begangen hat.«
Und dann war er weg.
Bevor ich aufstehen konnte, um zu gehen, schlug mir der junge Typ mit ungeheurer Wucht aufs Ohr, der Hieb haute mich vom Stuhl, und meine Hörhilfe fiel heraus. Er trat mit dem Absatz drauf, drehte ihn, bückte sich dann und rief: »Können Sie mich hören, Arschloch? Halten Sie sich scheißenochmal aus Polizeiangelegenheiten raus.«
Ich konnte ihn hören.