31

Mariam

Tagsüber ließ sich das Mädchen kaum blicken. Mariam konnte es meist nur hören, am Knarren der Bettfedern und den tapsenden Schritten im Flur. Auf der Toilette rauschte Wasser, im Schlafzimmer klirrte ein Teelöffel an Glas. Mitunter erhaschte Mariam auch einen Blick von ihm, wenn es mit fliegendem Kleid und schlappenden Sandalen die Treppe hinaufhastete.

Es konnte jedoch auf die Dauer nicht ausbleiben, dass sich die beiden häufiger über den Weg liefen. Mariam begegnete ihr auf den Treppenstufen, im engen Flur, in der Küche oder an der Tür, wenn sie aus dem Hof ins Haus zurückkehrte. Dann machte sich jedes Mal eine unangenehme Spannung bemerkbar. Das Mädchen raffte den Rock, flüsterte ein oder zwei Worte der Entschuldigung und eilte errötend vorüber. Manchmal nahm Mariam wahr, dass Raschid bei ihr gewesen war. Sie konnte seinen Schweiß auf der Haut des Mädchens riechen, seinen Tabak, seine Gier. Das Kapitel ehelichen Verkehrs war für sie gnädigerweise abgeschlossen, schon lange. Allein der Gedanke an jene qualvollen Episoden, in denen Raschid auf ihr gelegen hatte, bereiteten ihr Übelkeit.

An den Abenden aber waren diese aufeinander abgestimmten Ausweichmanöver nicht möglich. Raschid sagte, sie seien eine Familie, und bestand darauf, dass sie gemeinsam zu Tisch saßen.

»Was soll das?«, fragte er und klaubte mit den Fingern Fleisch von einem Knochen – seine Scharaden mit Löffel und Gabel hatte er schon eine Woche nach der Hochzeit aufgegeben. »Habe ich etwa zwei Ölgötzen geheiratet? Los, Mariam, gap bezan, unterhalte dich mit ihr. Wo sind deine guten Manieren geblieben?«

Während er noch Mark aus dem Knochen lutschte, sagte er zu dem Mädchen: »Mach dir nichts daraus. Sie hat noch nie viel gesprochen. Was im Grunde ein Segen ist, denn, wallah, wenn jemand nicht viel zu sagen hat, ist es besser, er geizt mit Worten. Wir zwei, du und ich, sind Stadtmenschen, aber sie ist eine dehati, ein Mädchen vom Dorf. Ach was, nicht einmal das. Sie ist in einer kolba aus Lehm aufgewachsen, am Rande eines Dorfes. Ihr Vater hat sie dort ausgesetzt. Hast du ihr eigentlich schon gesagt, dass du eine harami bist, Mariam? Ja, das ist sie. Aber sie hat, wenn man’s bedenkt, durchaus auch ihre guten Seiten. Die werden dir auch noch auffallen, Laila jan. Sie ist zum Beispiel ziemlich strapazierfähig, eine gute Arbeiterin und ohne jeden Dünkel. Mal so gesagt: Wenn sie ein Auto wäre, wäre sie ein Wolga.«

Mit ihren dreiunddreißig Jahren war Mariam inzwischen eine alte Frau, doch als harami bezeichnet zu werden, verletzte sie nach wie vor. Sie kam sich dann vor wie eine Krankheit oder Ungeziefer und erinnerte sich an Nana, wie sie sie bei den Handgelenken gepackt gehalten hatte. »Du ungeschickter kleiner harami. Das ist wohl der Dank für das, was ich alles ertragen musste. Zerbrichst mir mein Erbe, du ungeschickter kleiner harami.«

»Du«, sagte Raschid zu dem Mädchen, »du dagegen wärst ein Benz. Ein brandneuer, blitzblanker Benz der A-Klasse. Wah, wah. Aber …« – er hob den fettigen Zeigefinger der rechten Hand –, »einen solchen Benz muss man mit Vorsicht behandeln. Schon allein aus Respekt vor seiner Schönheit und Technik, verstehst du? Oh, ihr müsst jetzt nicht denken, dass ich verrückt bin. Ich behaupte nicht, dass ihr Autos seid. Ich wollte nur was klarmachen.«

Für das, was er nun vorbringen wollte, legte Raschid das Reisbällchen, das er soeben mit den Fingern geformt hatte, auf dem Tellerrand ab, ließ die Hände über seinem Essen schweben und schaute nachdenklich vor sich hin.

»Über Tote soll man ja nicht schlecht reden, schon gar nicht über shaheed. Und ich meine es wirklich nicht böse, wenn ich sage, dass ich gewisse … Vorbehalte … habe, was deine Eltern angeht, Allah möge ihnen vergeben und einen Platz im Paradies gewähren. Ich finde, sie waren dir gegenüber viel zu nachsichtig. Tut mir leid.«

Der kalte, hasserfüllte Blick, den das Mädchen Raschid entgegenschleuderte, entging Mariam nicht, im Gegensatz zu Raschid, der auf seinen Teller stierte.

»Wie dem auch sei. Ich bin jetzt dein Ehemann, und als solcher fällt mir die Aufgabe zu, nicht nur über deine, sondern vor allem über unsere Ehre zu wachen, ja, über unseren nang und namoos. Das ist die Pflicht eines Ehemanns. Und lass sie meine Sorge sein. Bitte. Du bist die Königin, die malika, und dieses Haus ist dein Schloss. Wenn du irgendetwas brauchst, bitte Mariam darum. Sie wird es richten. Nicht wahr, Mariam? Und wenn dir was gefällt, so werde ich es dir besorgen. Du wirst sehen, ich bin ein guter Ehemann.

Als Gegenleistung erwarte ich lediglich, dass du dieses Haus nicht verlässt, es sei denn in meiner Begleitung. Das ist alles. Mehr nicht. Falls du irgendetwas erledigen musst, wenn ich nicht da bin, ich meine, wenn es so dringend ist, dass du nicht auf mich warten kannst, dann schick Mariam, und sie wird tun, was du verlangst. Das mag dir vielleicht seltsam erscheinen: Sie darf das Haus verlassen, du aber nicht. Nun, einen Wolga fährt man auch nicht so wie einen Benz. Das wäre doch töricht, oder? Und noch etwas: Wenn wir zusammen ausgehen, möchte ich, dass du eine Burka trägst. Zu deinem eigenen Schutz, versteht sich. Es ist besser so. In der Stadt halten sich neuerdings viele Männer auf, die es in ihrer Lüsternheit nur darauf anlegen, verheiratete Frauen zu entehren. So. Das wär’s.«

Er hustete.

»Wenn ich nicht zu Hause bin, macht Mariam stellvertretend für mich Augen und Ohren auf.« Er warf Mariam einen flüchtigen Blick zu, der so hart war wie ein Tritt mit eisenbeschlagener Schuhspitze. »Nicht, dass ich misstrauisch wäre. Im Gegenteil. Ich halte dich für sehr viel klüger, als man es von einer so jungen Frau erwarten kann. Aber du bist nun einmal eine junge Frau, Laila jan, eine dokhtar e jawan, und junge Frauen neigen dazu, übermütig zu werden. Wie dem auch sei, auf Mariam ist Verlass. Und falls es zu einem Fehltritt kommen sollte …«

Er redete und redete. Mariam beobachtete das Mädchen aus den Augenwinkeln, während Raschids Forderungen und Ansprüche über sie hereinbrachen wie die Raketen auf Kabul.

Am nächsten Tag war Mariam im Wohnzimmer damit beschäftigt, einige von Raschids Hemden zusammenzufalten, die sie kurz zuvor von der Wäscheleine im Hof abgenommen hatte. Als sie eines der Hemden zur Hand nahm und in der Luft ausschüttelte, sah sie plötzlich das Mädchen in der Tür stehen, die Hände um ein Teeglas gewölbt.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte das Mädchen. »Verzeihung.«

Mariam schaute sie nur an.

Sonnenlicht fiel dem Mädchen aufs Gesicht, auf die großen grünen Augen, die glatte Stirn, auf die hohen Wangenknochen und die kräftigen, wunderschön geschwungenen Augenbrauen, um die Mariam es am meisten beneidete. Sein helles, in der Mitte gescheiteltes Haar war an diesem Morgen ungekämmt.

Das Mädchen hatte die Schultern eingezogen, und an der Art, wie es das Glas hielt, glaubte Mariam erkennen zu können, dass es nervös war. Mariam hatte den Eindruck, dass es mit sich rang.

»Die Blätter werden braun«, sagte das Mädchen in geselligem Tonfall. »Schon gesehen? Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit. Ich mag den Geruch, der entsteht, wenn die Leute das Laub in ihren Gärten verbrennen. Meine Mutter liebte den Frühling am meisten. Kanntest du meine Mutter?«

»Nicht wirklich.«

Das Mädchen hielt die Hand hinters Ohr. »Wie bitte?«

Mariam sprach lauter. »Ich sagte, nein. Ich kannte deine Mutter kaum.«

»Oh.«

»Willst du irgendwas?«

»Mariam jan. Es ist wegen gestern Abend. Er hat da Dinge gesagt …«

»Darüber wollte ich auch mit dir sprechen«, fiel ihr Mariam ins Wort.

»Ja, bitte«, antwortete das Mädchen erwartungsvoll und trat einen Schritt vor. Es wirkte fast erleichtert.

Draußen trällerte eine Goldamsel. Jemand schob einen Karren. Mariam hörte die Deichsel knarren und die eisernen Radreifen klappern. In der Nähe krachten Schüsse, zuerst einer, gefolgt von dreien, dann weiteren.

»Ich werde nicht deine Dienerin sein«, sagte Mariam. »Das kommt überhaupt nicht in Frage.«

Das Mädchen fuhr zusammen. »Nein. Natürlich nicht.«

»Es soll wohl sein, dass du in diesem Palast die malika bist und ich eine dehati, aber ich werde keine Befehle von dir entgegennehmen. Ausgeschlossen. Du kannst dich bei ihm beschweren, und vielleicht wird er damit drohen, mir die Kehle aufzuschlitzen. Aber ich werde nicht deine Dienerin sein. Hast du gehört?«

»Ja. Ich habe auch gar nicht erwartet …«

»Und wenn du glaubst, du könntest mich mit deinem hübschen Aussehen vertreiben, liegst du falsch. Ich war hier zuerst. Ich lasse mich nicht rauswerfen, schon gar nicht von dir.«

»Das will ich doch gar nicht«, erwiderte das Mädchen kleinlaut.

»Wie ich sehe, sind deine Verletzungen verheilt. Es hält dich also nichts mehr davon ab, mir im Haus zur Hand zu gehen.«

Das Mädchen nickte eifrig und verschüttete dabei ein paar Tropfen Tee, was ihm aber nicht auffiel. »Ja, das ist der andere Grund, warum ich gekommen bin; dafür zu danken, dass du dich um mich gekümmert hast.«

»Leider«, versetzte Mariam. »Ich hätte es nicht getan, wenn ich gewusst hätte, dass du mir den Mann ausspannst.«

»Ausspannst …?«

»Ich werde nach wie vor kochen und das Geschirr spülen, die Wäsche machen und die Zimmer ausfegen. Mit allen anderen Aufgaben werden wir uns täglich abwechseln. Und noch etwas. An deiner Gesellschaft ist mir nicht gelegen. Ich will sie nicht. Ich will allein sein. Du wirst mich in Ruhe lassen, und ich lasse dich in Ruhe. Nur so kommen wir miteinander klar. Das sind die Regeln.«

Während Mariam dies sagte, hämmerte ihr das Herz; der Mund war wie ausgedörrt. So schroff hatte sie noch nie gesprochen, noch nie hatte sie ihren Willen so deutlich zum Ausdruck gebracht. Diese neue Standfestigkeit hätte ihr Auftrieb geben können, doch ihre Genugtuung hielt sich angesichts des Mädchens, das in Tränen aufgelöst vor ihr stand, in Grenzen.

Sie reichte ihm die Hemden.

»Leg sie in die almari, nicht in den Kleiderschrank. Er möchte die weißen in der oberen Schublade haben, die anderen in der Mitte, zusammen mit den Socken.«

Das Mädchen setzte das Teeglas auf dem Boden ab und streckte die Arme aus, die Handfläche nach oben gewendet. »Es tut mir alles schrecklich leid«, krächzte es.

»Das sollte es auch«, erwiderte Mariam. »Dazu hast du allen Grund.«