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Mariam

In der Folgezeit besorgten Mariam und Laila den Haushalt gemeinsam. Sie saßen in der Küche und rollten Teig aus, schnitten Frühlingszwiebeln, hackten Knoblauch und gaben Aziza, die mit Löffeln klapperte, Gurkenstückchen zu naschen. Wenn sie sich im Hof aufhielten, lag Aziza warm angezogen und mit einem Wollschal um den Hals in einer Korbwiege. Mariam und Laila behielten sie im Auge, wenn sie Seite an Seite Hemden, Hosen und Windeln auf dem Waschbrett rieben.

Mariam gewöhnte sich allmählich an das vorsichtige, aber angenehme Miteinander. Dass sie nach getaner Arbeit mit Laila chai im Hof trank, wurde zu einem allabendlichen Ritual, auf das sie sich schon den ganzen Tag lang freute. Morgens wartete sie immer sehnsüchtig auf das Schlappen der durchgetretenen Latschen auf der Treppe, wenn Laila zum Frühstücken nach unten kam, und auf Azizas helles Lachen, den Anblick ihrer acht Zähnchen und den milchigen Duft ihrer Haut. Wenn Laila und Aziza länger im Bett blieben, wurde Mariam unruhig. Sie spülte dann Geschirr, das gar nicht gespült zu werden brauchte, ordnete die Sitzkissen im Wohnzimmer oder wischte Staub auf staubfreien Fensterbänken. Sie beschäftigte sich irgendwie, bis Laila endlich mit der Kleinen auf der Hüfte die Küche betrat.

Wenn Aziza Mariam morgens erblickte, gingen ihre Augen weit auf. Sie gluckste dann und wand sich im Arm ihrer Mutter, streckte die Arme nach Mariam aus, öffnete und schloss die kleinen Hände und drängte danach, von Mariam gehalten zu werden, das Gesicht voller Bewunderung und Erregung.

»Was für ein Aufstand«, sagte Laila dann und gab die Kleine frei, damit sie auf Mariam zukrabbeln konnte. »Was für ein Aufstand! Beruhige dich. Khala Mariam geht nirgendwohin. Sie ist da, deine Tante. Siehst du? Na, geh schon zu ihr.«

Und kaum dass sie in Mariams Armen war, schnellte der Daumen in den Mund, und sie schmiegte ihr Gesicht an Mariams Hals.

Ein wenig verlegen, aber mit dankbarem Lächeln auf den Lippen wiegte sie dann das Kind. So vorbehaltlos und unmittelbar waren ihr gegenüber noch nie liebende Gefühle zum Ausdruck gebracht worden.

Mariam hätte vor Rührung weinen können.

»Warum hängst du dein kleines Herz an eine so alte, hässliche Schachtel, wie ich es bin?«, flüsterte Mariam in Azizas Haar. »He? Wer bin ich denn schon? Eine dehati. Was könnte ich dir geben?«

Doch Aziza brabbelte bloß und schmiegte sich noch enger an sie. Und wenn sie das tat, war Mariam so überwältigt, dass ihr die Augen feucht wurden. Und sie fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass sie nach all den Jahren trüber Einsamkeit und gescheiterter Beziehungen zu diesem kleinen Wesen eine erste, wahre Verbindung gefunden hatte.

Zu Beginn des folgenden Jahres, im Januar 1994, wechselte Dostum tatsächlich die Seiten. Er schloss sich Gulbuddin Hekmatyar an und bezog Stellung bei Bala Hissar, der alten Festungsanlage im Koh-e-Shirdawaza-Gebirge hoch über der Stadt. Mit vereinten Kräften beschossen sie Massouds und Rabbanis Truppen, die sich im Verteidigungsministerium und im Königspalast verschanzt hatten. Die Gefechte eskalierten. Die Straßen von Kabul waren buchstäblich übersät mit Toten, Schutt und Metallteilen. Es wurde geplündert, gemordet und – zur Einschüchterung der Zivilbevölkerung und Belohnung der Milizionäre – in unvorstellbarem Ausmaß vergewaltigt. Mariam hörte von Frauen, die sich aus Angst vor Schändung selbst das Leben genommen hatten, und von Männern, die im Namen der Ehre Frauen und Töchter töteten, die von Milizionären vergewaltigt worden waren.

Das unablässige Donnern der Mörsergranaten verschreckte Aziza. Um sie abzulenken und zu beruhigen, schüttete Mariam Reis auf den Boden und formte mit den Körnern die Umrisse eines Hauses, eines Hahns oder eines Sterns, um sie anschließend von Aziza wieder verwischen zu lassen. Sie zeichnete für die Kleine Elefanten, wie es ihr von Jalil beigebracht worden war, mit einem Strich und ohne den Stift abzusetzen.

Von Raschid war zu hören, dass tagtäglich Dutzende von Zivilisten den Kämpfen zum Opfer fielen. Krankenhäuser und Gebäude, in denen medizinisches Material lagerte, standen unter Beschuss. Versorgungstransporte, so sagte er, würden vor der Stadt abgefangen, ausgeplündert und in Brand gesteckt. Mariam fragte sich, ob auch in Herat mit gleicher Wut gekämpft wurde und wie, wenn dies der Fall wäre, Mullah Faizullah zurechtkäme, falls er denn noch lebte, und wie es Bibi jo, ihren Söhnen, Schwägerinnen und Enkelkindern ergehen mochte. Und natürlich Jalil. Ob er sich irgendwo versteckt hielt?, fragte sie sich. Oder war er mit Frauen und Kindern außer Landes geflohen? Sie hoffte, dass er sich in Sicherheit befand und dem Krieg hatte entkommen können.

Der Kämpfe wegen musste Raschid eine Woche lang zu Hause bleiben. Er verriegelte die Außenpforte, installierte Sprengfallen und verbarrikadierte die Haustür mit der Couch. Rauchend ging er durchs Haus, spähte durch die Fenster nach draußen und hielt seine Pistole schussbereit. Zweimal feuerte er sie auf die Straße ab und behauptete, dass jemand versucht habe, über die Mauer zu steigen.

»Sie zwingen Halbwüchsige mitzukämpfen«, sagte er. »Die Mudschaheddin. Bei helllichtem Tag und unter vorgehaltenen Waffen entführen sie junge Burschen. Und wenn die von der Gegenseite gefangen genommen werden, blüht ihnen Folter. Ich habe gehört, dass man ihnen Elektroschocks verpasst und die Hoden mit Kneifzangen quetscht. Das habe ich gehört. Diese Jungen werden dazu gezwungen, die Soldaten zum Haus ihrer Eltern zu führen, wo diese dann einbrechen, die Väter töten und die Schwestern und Mütter vergewaltigen.«

Raschid fuchtelte mit der Pistole herum. »Sollen sie es nur wagen, in mein Haus einzubrechen. Dann werde ich denen die Eier zerquetschen. Ich werde diesen Hurensöhnen die Köpfe wegpusten. Wisst ihr eigentlich, wie gut ihr es habt, von einem Mann beschützt zu werden, dem nicht einmal der Shaitan Angst einjagen könnte?«

Er blickte zu Boden und sah das Kind vor seinen Füßen. »Verzieh dich!«, blaffte er und fuchtelte verscheuchend mit der Pistole. »Lass mich in Frieden und hör auf, mir deine Pratzen entgegenzustrecken. Ich heb dich nicht auf. Verschwinde. Verschwinde, bevor ich auf dich trete.«

Aziza schreckte zusammen. Verängstigt krabbelte sie auf Mariam zu. Auf ihren Schoß zurückgekehrt, steckte sie den Daumen in den Mund und beobachtete Raschid mit verstörter Miene. Manchmal blickte sie zu Mariam auf, wie um sich von ihr rückversichern zu lassen.

Doch was Väter anbelangte, konnte Mariam ihr keine Sicherheit bieten.

Als die Kämpfe nachließen, war Mariam vor allem darüber erleichtert, dass Raschid wieder seiner Arbeit nachgehen konnte und nicht länger den Hausfrieden störte.

In diesem Winter erbot sich Laila eines Tages, Mariam die Haare zu flechten.

Mariam saß auf einem Stuhl und schaute im Spiegel dabei zu, wie Laila ihr mit schlanken Fingern und konzentrierter Miene die Haare teilte und feste Zöpfe flocht. Aziza lag zusammengerollt auf dem Boden und schlief, im Arm eine Puppe, die Mariam ihr genäht und mit Bohnen ausgestopft hatte. Sie trug ein im Teesud gefärbtes Kleid und eine Kette aus leeren kleinen Garnspulen.

Als Aziza im Schlaf pupste, fing Laila zu lachen an, und Mariam stimmte mit ein. Lachend betrachteten sie einander im Spiegel, was sie immer mehr erheiterte, so dass schließlich ihre Augen tränten. Dieser Moment war so unbeschwert und natürlich, dass Mariam plötzlich und wie selbstverständlich von früher zu erzählen anfing, von Jalil, Nana und dem Dschinn. Laila stand reglos hinter ihr, die Augen auf Mariams Spiegelbild gerichtet. Sie sah die Worte heraussprudeln wie Blut aus einer geöffneten Arterie. Mariam erzählte von Bibi jo, Mullah Faizullah, den Demütigungen in Jalils Haus und von Nanas Selbstmord. Sie berichtete von Jalils Frauen, der überstürzten nikka mit Raschid, der Reise nach Kabul, ihren Schwangerschaften, dem endlosen Kreis von Hoffnung und Enttäuschung und Raschids Übergriffen.

Danach setzte sich Laila vor Mariams Stuhl auf den Boden. Selbstvergessen zupfte sie eine Fluse aus Azizas Haar.

»Ich habe dir auch etwas zu erzählen«, sagte Laila nach langem Schweigen.

In dieser Nacht fand Mariam keinen Schlaf. Sie saß auf ihrem Bett und beobachtete das lautlose Schneegestöber vor dem Fenster.

Eine Jahreszeit war auf die andere gefolgt; in Kabul waren Präsidenten vereidigt und ermordet worden; ein Großreich zerfiel; alte Kriege waren zu Ende gegangen, neue ausgebrochen. Doch von alldem hatte Mariam kaum Notiz genommen. Es war ihr einerlei gewesen. Sie hatte die Jahre in trister Abgeschiedenheit verbracht, wunsch- und klaglos, jenseits von Träumen und Enttäuschungen. Die Zukunft zählte nicht, und die Vergangenheit hatte ihr nur diese eine Einsicht hinterlassen: dass die Liebe ein gefährlicher Fehler ist und ihre Komplizin, die Hoffnung, eine trügerische Illusion. Und wann immer diese giftigen Zwillingsblumen in der Einöde ihres Alltags zu sprossen versuchten, riss sie sie aus. Sie jätete sie aus, bevor sie Wurzeln schlagen konnten.

Während der vergangenen Monate jedoch waren ihr Laila und Aziza, die, wie sich herausstellte, wie sie ein harami war, ans Herz gewachsen. In der Aussicht darauf, ohne sie auskommen zu müssen, erschien ihr das Leben, das sie so viele Jahre stoisch ertragen hatte, plötzlich nicht länger erträglich.

Wir werden noch in diesem Frühjahr Kabul verlassen. Aziza und ich. Komm mit uns, Mariam.

Mariam hatte schwere Zeiten mitgemacht. Aber vielleicht warteten auf sie noch ein paar freundliche Jahre, ein neues Leben, das Versprechungen bereithielt, von denen Nana gesagt hatte, dass sie einem harami vorenthalten blieben. Ganz unerwartet waren zwei neue Blumen gewachsen. Den fallenden Schnee vor Augen, dachte Mariam an Mullah Faizullah und stellte sich vor, wie er sich, seine tasbeh-Perlen befingernd, zu ihr beugte und ihr mit seiner weichen zittrigen Stimme zuflüsterte: »Es ist Gott, der sie gepflanzt hat, Mariam jo. Und es ist sein Wille, dass du sie pflegst. Es ist sein Wille, mein Mädchen.«