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Laila

Tarik berichtete von einem Mithäftling, dessen Vetter öffentlich ausgepeitscht worden war, weil er Flamingos malte. Er, dieser Vetter, hatte anscheinend eine ausgeprägte Vorliebe für diese Tiere.

»Ganze Skizzenbücher hatte er damit gefüllt«, sagte Tarik. »Dutzende von Ölgemälden, auf denen sie in Scharen durch Lagunen waten oder in Marschlandschaften sonnenbaden. Ich fürchte, er hat auch welche gemalt, die dem Sonnenuntergang entgegensegeln.«

»Flamingos«, wiederholte Laila, die Augen auf Tarik gerichtet, der an der Wand hockte und sein gesundes Bein angewinkelt hatte. Es drängte sie wieder, ihn in die Arme zu nehmen, wie es sie auch schon vor der Tür gedrängt hatte, als sie auf ihn zugelaufen war. Es war ihr peinlich, daran zu denken, wie sie sich ihm an die Brust geworfen, geweint und mit schluchzender Stimme immer und immer wieder seinen Namen gestammelt hatte. War sie womöglich zu überschwänglich gewesen, fragte sie sich. Vielleicht. Aber sie hatte sich einfach nicht zurückhalten können. Und jetzt sehnte sie sich wieder danach, ihn zu berühren, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er nicht bloß ein Traum, eine Erscheinung war, sondern in Fleisch und Blut vor ihr saß.

»In der Tat«, murmelte Tarik.

Die Taliban, so sagte er, hätten Anstoß genommen an den langen nackten Beinen der Vögel. Man hatte dem Maler die gefesselten Füße blutig geschlagen und ihn vor die Wahl gestellt, entweder seine Gemälde zu vernichten oder die Flamingos auf züchtige Weise darzustellen. Daraufhin hatte er zum Pinsel gegriffen und jedem einzelnen Vogel Hosen gemalt.

»Das gibt’s nun also auch, islamische Flamingos«, frotzelte Tarik.

Laila hätte laut auflachen mögen, hielt sich aber zurück. Sie schämte sich ihrer gelben Zähne und für den fehlenden Schneidezahn, ebenso auch wegen ihres gealterten Gesichts und der geschwollenen Lippen. Sie bedauerte, keine Gelegenheit gehabt zu haben, sich zu waschen oder wenigstens die Haare zu kämmen.

»Aber er wird zuletzt lachen, dieser Maler«, sagte Tarik. »Er hat nämlich für die Hosen Wasserfarben verwendet. Wenn die Taliban weg sind, wird er die Bilder nur abzuwaschen brauchen.« Er lächelte, und Laila bemerkte, dass auch ihm ein Zahn fehlte. Er schaute auf seine Hände. »In der Tat.«

Er hatte einen pakol auf dem Kopf, trug Wanderstiefel und einen schwarzen Wollpullover, den er unter den Bund der grauen Leinenhose gestopft hatte. Er deutete ein Lächeln an und nickte bedächtig. Laila konnte sich nicht erinnern, dass er früher so häufig »in der Tat« gesagt hätte; auch die nachdenkliche Art, mit der er die Fingerspitzen aneinanderlegte und nickte, erschien ihr neu an ihm. Ja, Tarik war jetzt erwachsen, ein fünfundzwanzigjähriger Mann mit langsamen Bewegungen und einem müden Lächeln, groß gewachsen, bärtig, schlanker als in ihren Träumen von ihm, aber mit kräftigen Händen, den Händen eines Arbeiters, auf denen sich pralle Venen abzeichneten. Sein Gesicht war immer noch schmal und hübsch, die Haut allerdings nicht mehr so hell. Die Sonne hatte ihm zugesetzt; Nacken, Stirn und Wangen waren dunkelbraun gebrannt wie bei einem Wanderer am Ende einer langen, beschwerlichen Reise. Sein pakol war nach hinten gerutscht, und sie sah, dass das Haar nicht mehr ganz so dicht war wie früher. Die haselnussbraunen Augen schienen an Glanz verloren zu haben, was aber auch am Licht im Wohnzimmer liegen mochte.

Laila dachte an Tariks Mutter, an ihre Gelassenheit, das verschmitzte Lächeln und die stumpfe violette Perücke. Und an seinen Vater, der immer mit den Augen geblinzelt hatte, an seinen trockenen Humor. Vor der Tür hatte sie Tarik mit tränenerstickter Stimme und gestammelten Worten erklärt, was ihr über ihn und seine Eltern zu Ohren gekommen war, worauf er kopfschüttelnd geantwortet hatte, dass von alldem nichts wahr sei. Also fragte sie ihn jetzt, wie es seinen Eltern gehe, bereute aber sogleich, die Frage gestellt zu haben, denn Tarik blickte betreten zu Boden und sagte leise: »Sie sind gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Tja. Mir auch. Hier, sieh mal.« Er zog eine kleine Papiertüte aus der Tasche und gab sie ihr. »Mit herzlichen Grüßen von Alyona.« In der Tüte befand sich ein Käsestück, in Folie einwickelt.

»Alyona. Ein hübscher Name.« Laila versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Deine Frau?«

»Meine Ziege.« Er lächelte und sah sie erwartungsvoll an.

Da erinnerte sie sich. Der russische Film. Alyona war die Tochter des Kapitäns gewesen, das Mädchen, das sich in den ersten Offizier verliebt hatte. Am Morgen vor dem gemeinsamen Kinobesuch hatten sie die sowjetischen Panzer und Jeeps aus Kabul abziehen sehen; Tarik trug damals diese groteske russische Pelzmütze auf dem Kopf.

»Ich habe ihr ein Gehege gebaut«, sagte Tarik. »Wegen der Wölfe. Das Bergland, in dem ich wohne, hat ausgedehnte Wälder, vor allem aus Kiefern, aber auch Fichten und Zedern. Da halten sie sich meist auf, aber frei laufende Ziegen locken sie auch ins Freie. Darum das Gehege.«

Laila wollte mehr über dieses Bergland wissen.

»Pir Panjal. Pakistan«, sagte er. »Rund zwei Stunden von Islamabad entfernt. Der Ort, an dem ich wohne, heißt Murree und zieht im Sommer viele Urlauber an, denn er ist hoch gelegen und hat, weil grün und luftig, ein wohltuend kühles Klima. Perfekt für den Tourismus.«

Die in Rawalpindi stationierten Briten, so erklärte er, hätten dort einen Vorposten eingerichtet, wohin sie sich vor der Hitze im Flachland zurückziehen konnten. Aus der Kolonialzeit sei noch einiges erhalten geblieben, sagte Tarik, zum Beispiel die Holzhäuser, Bungalows mit Blechdächern, sogenannte Cottages, und dergleichen mehr. Die Stadt selbst sei klein und angenehm. An der Hauptstraße, der sogenannten Mall, gebe es ein Postamt, einen Basar, ein paar Restaurants und Geschäfte, in denen Touristen überteuerte Nippes aus bemaltem Glas und handgeknüpfte Teppiche kauften. Verrückterweise sei diese Mall eine Einbahnstraße, auf der der Verkehr in der einen Woche von links nach rechts und in der anderen in umgekehrter Richtung geführt werde.

»Die Einheimischen behaupten, dass es in vielen irischen Ortschaften ähnlich zugeht«, sagte Tarik. »Keine Ahnung. Aber wie dem auch sei, es ist sehr nett dort. Ziemlich einfach, aber mir gefällt’s. Ich wohne gern in Murree.«

»Mit deiner Ziege. Mit Alyona.«

Laila wollte mit dem, was unbeabsichtigterweise wie ein Scherz klang, eigentlich in Erfahrung bringen, ob er sich außer der Ziege auch noch um andere Sorgen machen musste. Aber Tarik nickte nur mit dem Kopf.

»Auch um deine Eltern tut’s mir leid«, sagte er.

»Du hast davon gehört?«

»Ich hatte schon Gelegenheit, mit Nachbarn zu sprechen«, erwiderte er, und Laila fragte sich, was er sonst noch von denen erfahren haben mochte. »Von damals habe ich niemanden wiedererkannt.«

»Sie sind alle fort. Es ist keiner mehr da, den du kennen könntest.«

»Auch Kabul ist nicht wiederzuerkennen.«

»Für mich auch nicht«, sagte Laila. »Dabei bin ich nie weg gewesen.«

»Mami hat einen neuen Freund«, sagte Zalmai nach dem Abendessen. »Einen Mann.«

Raschid blickte auf. »Ach ja?«

Tarik fragte, ob er rauchen dürfe.

Er erzählte, dass er eine Zeit lang im Flüchtlingslager Nasir Bagh bei Peschawar zugebracht habe, unter sechzigtausend Afghanen, die sich dort bereits aufhielten, als er mit seinen Eltern angekommen sei.

»Es war da nicht so schlimm wie in manchen anderen Lagern, wie zum Beispiel in Jalozai«, sagte er und streifte Zigarettenasche auf einem Unterteller ab. »Während des kalten Krieges war es sogar ein Musterlager, auf das der Westen immer verwies, wenn es darum ging, der Welt zu beweisen, dass man nicht nur Waffen nach Afghanistan schmuggelte.«

Doch das sei noch zur Zeit des sowjetischen Krieges gewesen, in den Tagen des Dschihad, der weltweit Interesse erregt, für großzügige Spenden gesorgt und zu mehreren Staatsbesuchen von Margaret Thatcher geführt habe.

»Den Rest kennst du ja, Laila. Nach dem Krieg ist die Sowjetunion auseinandergefallen, und der Westen hat sich zurückgezogen. Für den Westen stand in Afghanistan nichts mehr auf dem Spiel. Also blieb auch finanzielle Hilfe aus. Nasir Bagh ist jetzt eine Wüste aus Zelten und offenen Abwasserkanälen. Einmal am Tag gibt es was zu essen. Als wir dort angekommen sind, hat man uns eine Stange und eine Zeltplane gegeben, mit denen wir uns dann selbst behelfen mussten.«

Tarik und seine Eltern hatten ein ganzes Jahr im Lager zugebracht. Wenn er sich an Nasir Bagh zu erinnern versuche, sagte er, komme ihm vor allem die Farbe Braun in den Sinn. »Braune Zelte. Braune Menschen. Braune Hunde. Brauner Brei.«

Tag für Tag war er auf einen abgestorbenen Baum geklettert, hatte sich auf einen Ast gesetzt und die Flüchtlinge beobachtet, die mit schwärenden Wunden und amputierten Gliedmaßen ungeschützt in der Sonne lagen. Er sah kleine ausgehungerte Jungen in Benzinkanistern Wasser schleppen, Hundekot einsammeln, um Feuer damit zu machen, mit stumpfen Messern aus Holzstücken Spielzeuggewehre schnitzen und Säcke voller Mehl, das zum Brotbacken völlig ungeeignet war, über den Boden schleifen. Ständig ging ein Wind durchs Lager, der an den Zelten rüttelte, Staub und welkes Unkraut aufwirbelte, aber auch bunte Drachen über dem ansonsten trostlosen Ort am Himmel tanzen ließ.

Jede Woche sei mindestens einer gestorben, sagte er, meist ein Kind.

»Die Kinder hatten besonders zu leiden. Ruhr, Tb, Hunger, was auch immer. Vor allem die verdammte Ruhr. Himmel, Laila. Wie oft ich da gesehen habe, wie Kinder begraben wurden. Etwas Schlimmeres kann man sich nicht vorstellen.«

Er schlug die Beine übereinander. Es blieb für eine Weile still zwischen ihnen.

»Mein Vater hat den ersten Winter nicht überlebt. Er starb im Schlaf. Ich glaube, er hat kaum Schmerzen gehabt.«

Im selben Winter sei seine Mutter an einer Lungenentzündung erkrankt, an der sie bestimmt gestorben wäre, hätte ihr nicht ein Arzt aus einem UNHCR-Camp geholfen, der mit einem zu einer mobilen Klinik umgebauten Lieferwagen ins Lager kam. Sie habe nächtelang wach gelegen, hohes Fieber gehabt, schrecklich gehustet und rostfarbenen Schleim ausgeworfen. Die Patienten hätten vor der mobilen Klinik Schlange gestanden, sagte er, zitternde, stöhnende und hustende Menschen; manchen sei der Durchfall an den Beinen heruntergelaufen, andere hätten vor lauter Mattigkeit und Hunger kein Wort mehr herausgebracht.

»Aber er war ein guter Mann, dieser UNHCR-Arzt. Er hat meine Mutter behandelt, ihr Medikamente gegeben und über den Winter geholfen.«

In diesem Winter habe er einen Jungen überfallen, gestand Tarik.

»Zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich habe ihm eine Glasscherbe an den Hals gedrückt und seine Wolldecke abgenommen, um sie meiner Mutter zu geben.«

Nach der überstandenen Krankheit seiner Mutter hatte er gelobt, keinen weiteren Winter in dem Lager zu verbringen, und den Entschluss gefasst, eine Arbeit anzunehmen und Geld zu sparen, um dann mit ihr in Peschawar eine Wohnung mit Heizung und fließendem Wasser zu beziehen. Als der Frühling kam, suchte er nach Arbeit. Von Zeit zu Zeit kam frühmorgens ein Lastwagen ins Lager, sammelte zwanzig bis dreißig junge Burschen ein und lieferte sie an einem Ort ab, wo es etwas für sie zu tun gab: ein Feld, das von Steinen befreit werden sollte, oder eine Obstplantage, auf der Äpfel zu pflücken waren. Zum Lohn dafür bekamen sie ein wenig Geld, manchmal auch nur eine Decke oder ein Paar Schuhe. Ihn aber habe niemand gewollt, sagte er.

»Ein Blick auf mein Bein, und das war’s dann.«

Es gab noch andere Jobs. Gräben ausheben, Hütten bauen, Wasser schleppen oder Sickergruben leeren. Die jungen Männer rissen sich um solche Verdienstmöglichkeiten, und Tarik ging immer leer aus.

Im Herbst 1993 lernte er dann einen Geschäftsmann kennen.

»Ich sollte für ihn einen Ledermantel nach Lahore bringen, wofür er mir Geld anbot, nicht viel, aber genug, um eine Wohnung für einen, vielleicht sogar zwei Monate anmieten zu können.«

Der Geschäftsmann habe ihm einen Busfahrschein gegeben und die Adresse einer Straßenecke nahe der Eisenbahnstation von Lahore, wo er den Mantel einem Freund seines Auftraggebers übergeben sollte.

»Ich ahnte natürlich, dass an der Sache was faul ist. Ich wusste es«, gestand er. »Er sagte, dass ich ganz allein auf mich gestellt sein würde, wenn man mich erwischte, und ich solle immer daran denken, dass er wisse, wo meine Mutter zu finden sei. Aber ich habe dem Geld nicht widerstehen können. Und es war bald wieder Winter.«

»Wie weit bist du gekommen?«, fragte Laila.

»Nicht sehr weit«, sagte Tarik und lachte verschämt. »Noch nicht einmal bis in den Bus. Aber ich hielt mich für immun, verstehst du? Ich dachte, mir kann nichts passieren. Als gäbe es da oben einen, der Buch führt, einen netten alten Mann mit Bleistift hinterm Ohr, der alles aufrechnet und Bilanz zieht, der auf mich herabschaut und sagt: ›Was soll’s, das lassen wir ihm durchgehen. Er musste schon sein Teil bezahlen und hat was gut.‹«

Das Haschisch war im Saum versteckt und fiel auf die Straße, als die Polizei mit einem Messer Nachforschungen anstellte.

Tarik lachte wieder, als er das sagte. Es war ein aufsteigendes, zittriges Lachen, das Laila noch von früher kannte und das immer dann von ihm zu hören gewesen war, wenn er versucht hatte, eine Dummheit wiedergutzumachen.

»Er hinkt«, sagte Zalmai.

»Ist es der, von dem ich glaube, dass er’s ist?«

»Er war nur zu Besuch«, antwortete Mariam.

»Du hältst dich da raus«, blaffte Raschid und drohte mit dem Finger. Und an Laila gewandt: »Na, wie sieht’s aus? Laila und Madschnun wieder vereint? Wie in alten Zeiten?« Sein Gesicht war wie versteinert. »Du hast ihn also hereingelassen. In mein Haus. Du hast ihm die Tür geöffnet. Er war hier mit meinem Sohn.«

»Du hast mich hinters Licht geführt, mich belogen«, entgegnete Laila mit Wut in der Stimme. »Du hast diesen Mann angeheuert … Du wusstest, dass ich dich verlassen würde, wenn ich hätte glauben können, dass er noch lebt.«

»Und du? Hast du mich etwa nicht belogen?«, brüllte Raschid. »Glaubst du, ich bin blind und sehe nicht, dass du mir einen harami ins Nest gelegt hast? Hältst du mich für einen Trottel, du Hure?«

Je länger Tarik sprach, desto mehr fürchtete Laila den Moment, wenn er zu reden aufhören würde. Denn dann wäre sie aufgefordert, Rechenschaft abzulegen und mit eigenen Worten zu erklären, was er wahrscheinlich schon wusste. Ihr schnürte sich jedes Mal das Herz zusammen, wenn er eine Pause einlegte. Sie wich seinen Blicken aus und betrachtete seine Hände, auf denen sich in den vergangenen Jahren dunkle Haare gebildet hatten.

Von der Zeit im Gefängnis erzählte Tarik kaum etwas; er erwähnte nur, dass er dort Urdu zu sprechen gelernt hatte. Als Laila mehr wissen wollte, zeigte er sich ungehalten und schüttelte den Kopf. In dieser Geste glaubte Laila, rostige Gitterstäbe und ungewaschene Körper erkennen zu können, gewalttätige Männer, überfüllte Korridore und Zellendecken voller Schimmel. Sie las seiner Miene ab, dass er unsägliche Erniedrigung und Verzweiflung hatte erleiden müssen.

Tarik sagte, seine Mutter habe versucht, ihn im Gefängnis zu besuchen.

»Sie ist dreimal gekommen, wurde aber jedes Mal abgewiesen«, berichtete er. »Die Wärter verlangten eine ›Besuchsgebühr‹, die wir nicht aufbringen konnten.«

Er hatte ihr Briefe geschrieben, obwohl er wusste, dass sie sie nicht erreichen würden.

»Auch dir habe ich geschrieben.«

»Wirklich?«

»Oh ja, Bände«, antwortete er. »Ergüsse, die deinen Freund Rumi vor Neid hätten erblassen lassen.« Er lachte wieder, lauthals diesmal, verblüfft, wie es schien, über seine Offenherzigkeit und zugleich verlegen.

Oben fing Zalmai zu plärren an.

»Also wie in alten Zeiten«, sagte Raschid später. »Ihr zwei. Schätze, du hast ihn dein Gesicht sehen lassen.«

»Ja«, sagte Zalmai. Und zu Laila: »Das hast du, Mami. Ich hab dich gesehen.«

»Dein Sohn hat nicht viel für mich übrig«, bemerkte Tarik, als Laila nach unten zurückgekehrt war.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Das ist es nicht. Er hat bloß … Ach, was soll’s?« Laila schämte sich für das, was ihr über Zalmai zu sagen auf der Zunge lag; er war ja noch ein Kind, ein kleiner Junge, der seinen Vater liebte und eine durchaus verständliche Aversion gegen diesen Fremden hatte.

Auch dir habe ich geschrieben.

Bände.

»Wie lange wohnst du schon in Murree?«

»Noch nicht ganz ein Jahr«, antwortete Tarik.

Er habe sich im Gefängnis mit einem älteren Mann angefreundet, einem Pakistani namens Salim, der früher ein guter Feldhockeyspieler gewesen sei. Er hatte schon häufig wegen kleinerer Vergehen eingesessen, büßte jetzt aber zehn Jahre ab, weil er einen Informanten der Polizei niedergestochen hatte. Tarik erklärte, dass wohl jedes Gefängnis einen Mann wie Salim habe, jemanden, der sich auch hinter Gittern zu helfen wisse und gute Beziehungen unterhalte, der einem sehr gefährlich werden, aber auch nützlich sein könne. Dieser Salim hatte für Tarik Erkundigungen über seine Mutter einholen lassen und ihm schließlich mit väterlich sanfter Stimme beigebracht, dass sie an Unterkühlung gestorben sei.

Tarik hatte sieben Jahre im Gefängnis verbracht. »Damit bin ich glimpflich davongekommen«, sagte er. »Ich hatte Glück. Mein Richter war milde. Vielleicht lag’s daran, dass er eine afghanische Schwägerin hatte. Ich weiß es nicht.«

Nach Ablauf seiner Haft zu Beginn des Winters 2000 hatte Salim ihm die Adresse und Telefonnummer seines Bruders gegeben. Sein Name war Sajid.

»Er sagte, Sajid sei Besitzer eines kleinen Hotels in Murree. Mit zwanzig Zimmern und einer Lounge. Eine Touristenherberge. Ich sollte ihn aufsuchen und mich auf Salim berufen.«

Schon auf den ersten Blick war Tarik von Murree angetan gewesen, von den verschneiten Kiefern und der kalten, frischen Luft, den Holzhäusern mit ihren Fensterläden und Schornsteinen, aus denen der Rauch aufstieg.

Hier bin ich richtig, hatte Tarik gedacht und an Sajids Tür geklopft. Dieser Ort war Welten entfernt von dem Elend, das er hinter sich zurücklassen wollte. Allein der Gedanke an Not und Kummer schien ihm hier fehl am Platz zu sein.

»Ich dachte mir, das ist ein Ort, an dem ich was aus mir machen kann.«

Tarik wurde als Hausmeister angestellt, absolvierte eine einmonatige Probezeit, in der er zum halben Lohn arbeitete, und konnte sich, wie er sagte, bewähren. Während Tarik sprach, stellte sich Laila den Hotelbesitzer Sajid als einen Mann mit eng stehenden Augen und rötlichem Gesicht vor, der am Fenster in der Rezeptionshalle stand und Tarik beim Holzhacken und Schneeschaufeln zuschaute. Sie sah ihn über Tarik stehen, der unter einem Waschbecken am Boden lag und das undichte Abflussrohr reparierte, und sie sah, wie er in der Registrierkasse nachprüfte, ob womöglich Geld fehlte.

Er selbst, sagte Tarik, habe eine Hütte neben dem kleinen Bungalow der Köchin bezogen, einer matronenhaften alten Witwe namens Adiba. Beide Hütten gehörten zum Hotel, dessen Hauptgebäude von Mandelbäumen abgeschirmt wurde, unter denen im Sommer aus einem pyramidenförmigen Brunnen den ganzen Tag lang Wasser sprudelte. Laila malte sich aus, wie Tarik in seiner Hütte auf dem Bett hockte und durchs Fenster auf eine Welt voller Blüten und Blätter blickte.

Nach der Probezeit bezog Tarik das volle Gehalt. Darüber hinaus hatte er freie Kost und Logis. Sajid schenkte ihm sogar einen Wollmantel und versprach, ihm eine neue Prothese anpassen zu lassen. Tarik sagte, die Freundlichkeit dieses Mannes habe ihn zu Tränen gerührt.

Mit seinem ersten Monatslohn in der Tasche war Tarik auf den Markt gegangen, wo er Alyona erstanden hatte.

»Ihr Fell ist ganz und gar weiß«, sagte er lächelnd. »Wenn es in der Nacht geschneit hat und ich morgens aus dem Fenster schaue, sehe ich von ihr nur zwei Augen und die Nüstern.«

Laila nickte. Es wurde wieder still. Oben hatte Zalmai damit angefangen, seinen Ball gegen die Wand zu werfen.

»Ich dachte, du wärst tot«, flüsterte Laila.

»Ich weiß. Das sagtest du bereits.«

Ihr blieb die Stimme weg. Sie räusperte sich, nahm Haltung an. »Der Mann, der mir die Nachricht brachte, wirkte so ernst … Ich habe ihm geglaubt, Tarik. Leider. Wären mir doch Zweifel gekommen! Aber ich fühlte mich so allein und hatte schreckliche Angst. Sonst hätte ich nie eingewilligt, Raschid zu heiraten. Auf keinen Fall hätte ich …«

»Lass gut sein. Du musst mir nichts erklären«, sagte er ruhig und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Seine Worte waren ohne jeden Vorwurf oder Anklänge von Enttäuschung.

»Doch, ich muss es dir erklären. Es gab einen sehr gewichtigen Grund, warum ich ihn geheiratet habe. Es gibt da etwas, das du wissen solltest. Ich muss es dir sagen.«

»Hast du auch mit ihm gesprochen?«, fragte Raschid Zalmai.

Zalmai schwieg. Er war merklich verunsichert. Es schien, als spürte er, etwas ausgeplappert zu haben, das Schaden anzurichten drohte.

»Ich habe dich was gefragt, Junge.«

Zalmai schluckte. »Ich war oben und hab mit Khala Mariam gespielt.«

»Und deine Mutter?«

Der Kleine war den Tränen nahe und blickte flehend zu seiner Mutter auf.

»Keine Bange, Zalmai«, sagte Laila. »Sag die Wahrheit.«

»Sie war … hier unten und hat mit dem Mann gesprochen«, sagte er mit dünner Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.

»Verstehe«, knurrte Raschid. »Teamarbeit.«

Als er aufbrach, um zu gehen, sagte Tarik: »Ich will sie sehen. Ich möchte zu ihr.«

»Das lässt sich einrichten«, erwiderte Laila.

»Aziza. Aziza.« Lächelnd ließ er sich die Silben auf der Zunge zergehen. Wenn Raschid den Namen aussprach, klang er ungeschlacht, fast vulgär. »Aziza. Ein schöner Name.«

»Schön wie das Kind. Du wirst sehen.«

»Ich zähle die Minuten.«

Fast zehn Jahre waren seit ihrem letzten Stelldichein vergangen, seit den heimlichen Küssen in der kleinen Gasse und auf dem Boden des Wohnzimmers. Laila fragte sich, welchen Eindruck sie jetzt wohl auf ihn machte. Ob sie ihm noch gefiel? Oder fand er sie verbraucht, erbärmlich oder gar abstoßend? Fast zehn Jahre. Doch als sie im hellen Sonnenlicht neben Tarik vor der Tür stand, war ihr für einen Moment, als hätte es all diese Jahre nicht gegeben. Den Tod ihrer Eltern, die Eheschließung mit Raschid, die zahllosen Kriegsopfer, die Raketen, die Taliban, die Schläge, den Hunger oder auch ihre Kinder. All das erschien ihr fast wie ein Traum, ein bizarres Intermezzo zwischen dem letzten Nachmittag mit ihm und dem heutigen Wiedersehen.

Plötzlich wurde Tariks Miene ernst. Sie kannte diesen Ausdruck. Der war auch damals, vor Ewigkeiten, auf seinem Gesicht zu sehen gewesen, als er sein Bein abgeschnallt und Khadim damit verdroschen hatte. Er streckte nun die Hand aus und berührte ihren Mundwinkel.

»Er behandelt dich schlecht«, sagte er wütend.

Von seiner Berührung erregt, erinnerte sich Laila an den Nachmittag voller Leidenschaft, als sie Aziza empfangen hatte. Sie meinte, seinen Atem im Nacken zu spüren, die angespannten Muskeln seiner Hüften, den Druck seines Körpers auf ihren Brüsten, die ineinander verschränkten Hände.

»Ach, hätte ich dich doch mit mir genommen«, flüsterte Tarik. Laila musste gegen die Tränen ankämpfen und blickte zu Boden.

»Ich weiß, du bist eine verheiratete Frau und Mutter. Und ich kreuze nach all den Jahren, nach alldem, was passiert ist, vor deinem Haus auf. Vielleicht war es nicht richtig, vielleicht ist es unfair, aber ich bin den weiten Weg gekommen, um dich zu sehen und … Oh, Laila, hätte ich dich doch nie allein gelassen.«

»Hör auf«, krächzte sie.

»Ich hätte hartnäckiger sein sollen. Ich hätte dich heiraten sollen, als es noch möglich war. Dann wäre alles anders gekommen.«

»Sprich nicht so. Bitte. Es tut mir weh.«

Er nickte, trat einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen. »Mir ist klar, dass ich keine Ansprüche stellen kann. Es steht mir auch nicht zu, aus dem Nichts aufzutauchen und dein Leben auf den Kopf zu stellen. Wenn du willst, dass ich verschwinde und nach Pakistan zurückkehre, brauchst du es nur zu sagen, Laila. Ich meine es ehrlich. Sag’s, und ich gehe, ohne dich jemals wieder zu belästigen. Ich werde …«

»Nein!«, sagte Laila, schärfer als beabsichtigt. Sie ergriff seinen Arm, klammerte sich daran fest und senkte den Kopf. »Nein. Geh nicht, Tarik. Bitte bleib.«

Tarik nickte.

»Er arbeitet von zwölf bis acht Uhr abends. Komm morgen Nachmittag zurück. Dann werden wir zusammen Aziza besuchen.«

»Denk nicht, dass ich Angst vor ihm hätte.«

»Ich weiß. Komm morgen Nachmittag.«

»Und dann?«

»Und dann … Wer weiß? Ich muss nachdenken. Es ist …«

»Ich weiß, was ist«, erwiderte er. »Ich verstehe. Es tut mir leid. Mir tut vieles leid.«

»Gräm dich nicht. Du hast versprochen zurückzukehren und dein Versprechen gehalten.«

Seine Augen wurden feucht. »Es ist gut, dich zu sehen, Laila.«

Sie stand zitternd da und schaute ihm nach. Bände von Briefen, dachte sie, von einem Schauer geschüttelt, in dem Trauer und Verlorenheit schwangen, gleichzeitig aber auch so etwas wie waghalsige Hoffnung.