EINS
Neue Stadt, neues Kasino – der gleiche alte Plan. Das Dusty Squanto Casino in Arizona machte es Tom Raines aber auch leicht. Denn hier musste er noch nicht einmal Eintritt zahlen für die Virtual-Reality-Spielhalle. Tom schlüpfte hinein, ließ sich auf eine Couch in der Ecke fallen und warf einen Blick auf die Gruppe der Gamer, um sich nach und nach ein Bild von jedem Einzelnen zu machen. Sein Blick heftete sich auf die beiden Männer in der Ecke gegenüber und blieb dort hängen.
Die sind es, dachte Tom.
Die Männer trugen VR-Helme und pressten ihre Datenhandschuhe in der Luft zusammen. Ihre Rennsimulation wurde auf einem Deckenbildschirm für diejenigen übertragen, die auf den Ausgang wetten wollten. Auf dieses Rennen wollte allerdings kein Mensch wetten. Einer der Männer war ein guter Fahrer und lenkte sein Auto mit dem Geschick eines erfahrenen Gamers über die virtuelle Strecke. Der andere dagegen fuhr grottenschlecht. Der Kotflügel seines Wagens schrammte an der Wand der Rennbahn entlang, und die simulierten Zuschauer sprangen ihm schreiend aus dem Weg.
Als sein Auto über die Ziellinie raste, stieß der siegreiche Fahrer ein triumphierendes Lachen aus. Mit stolzgeschwellter Brust wandte er sich dem anderen zu und forderte seine Wettschuld ein.
Tom, der allein auf der Couch saß, lächelte.
Genieße es, solange du noch kannst, Freundchen.
Er wählte den Zeitpunkt genau richtig und wartete ab, bis der Gewinner damit begann, seine Geldscheine zu zählen. Dann stand Tom auf und schlenderte auf ihn zu. Er nahm sich geräuschvoll ein VR-Set aus dem Sammelbehälter und zog sich die Datenhandschuhe, Unbeholfenheit vortäuschend, verkehrt herum an. Mühsam streifte er sie dann richtig über, sodass Stoff und Verkabelung seine Arme bis zu den Ellbogen umschlossen. Aus den Augenwinkeln erspähte er, dass ihn der Rennfahrer, der gerade gesiegt hatte, beobachtete.
»Spielst du gerne, Junge?«, fragte ihn der Mann. »Willst du es auch mal versuchen?«
Tom bedachte ihn mit jenem unschuldigen Blick, von dem er wusste, dass er ihn viel jünger wirken ließ, als er in Wirklichkeit war. Trotz seiner vierzehn Jahre war er klein und mager und hatte eine solch schlimme Akne, dass die Leute sein tatsächliches Alter für gewöhnlich nicht einschätzen konnten.
»Ich schaue bloß zu. Mein Dad sagt, ich darf nicht spielen.«
Der Mann leckte sich die Lippen. »Oh, da mach dir mal keine Sorgen. Dein Dad muss ja nichts davon erfahren. Mach ein paar Dollar locker, und wir gönnen uns ein tolles Rennen. Vielleicht gewinnst du ja. Wie viel Geld hast du denn?«
»Bloß fünfzig Dollar.«
Tom hütete sich davor, eine höhere Summe zu nennen. Bei mehr als fünfzig wollten die Leute das Geld sehen, bevor sie sich auf die Wette einließen. Tatsächlich hatte er nur etwa zwei Dollar in der Tasche.
»Fünfzig Dollar?«, wiederholte der Mann. »Das reicht. Das hier ist bloß ein Autorennen. Du kannst doch Autorennen fahren?« Er bewegte die Hände so, als würde er an einem unsichtbaren Lenkrad drehen. »Ist kein Kunststück. Und wenn du mich schlägst, verdoppele ich diese fünfzig.«
»Echt?«
»Echt, Junge. Na los.« Er kicherte herablassend. »Wenn du gewinnst, zahle ich, da kannst du dir sicher sein.«
»Aber wenn ich verliere …« Tom ließ die Worte in der Luft hängen. »Das ist alles, was ich habe. Ich … Ich kann nicht.« Während er so tat, als würde er gehen, wartete er auf die magischen Worte.
»Na schön, Junge«, rief der Mann. »Doppelt oder nichts.«
Ha!, dachte Tom.
»Wenn ich gewinne, bekomme ich fünfzig«, schlug der Mann nochmals vor, »und wenn du gewinnst, bekommst du hundert. Besser geht’s nicht. Versuch dein Glück.«
Langsam drehte Tom sich um und kämpfte gegen das aufkommende Lachen an. Dieser Kerl musste glauben, seine fünfzig Dollar praktisch schon in der Tasche zu haben, so bereitwillig war er auf die Nummer hereingefallen. In den meisten Spielkasinos gab es ein oder zwei Gamer, die in den VR-Hallen mehr oder weniger ihr Leben verbrachten und sich für Götter hielten, weil sie jeden Dummkopf besiegen konnten, der das Pech hatte, ihr Revier zu betreten. Tom genoss die Art, wie sie ihn betrachteten, nämlich als einen knochigen, dummen kleinen Jungen, den sie leicht hereinlegen konnten. Noch mehr genoss er es zu sehen, wie ihr Lächeln verblasste, wenn er dann mit ihnen Schlitten fuhr.
Nur um auf Nummer sicher zu gehen, zog Tom seine Show weiter durch. Ungeschickt setzte er sich den Helm auf. »Okay, ich denke, Sie können dann.«
In der Stimme des Mannes schwang ein Gefühl des Triumphs mit. »Wir können.«
Und los ging es. Die Motoren ihrer Autos röhrten auf, und diese rasten wie wild die Strecke entlang. Im Sinn hakte Tom die Runden ab, wobei er die Sache kühl überlegt anging. Hier und da fabrizierte er absichtlich ein paar Fahrfehler, aber nie so viele, dass er ernsthaft zurückgefallen wäre. Voller Zuversicht und siegesgewiss wirbelte der Mann sein Lenkrad mit schwungvollen Bewegungen seiner Datenhandschuhe herum. Als die Ziellinie in Sicht kam und der Wagen des Mannes im richtigen Winkel darauf zuhielt, lächelte Tom kurz auf.
Eine einzige schnellende Bewegung mit seinem Handschuh erfüllte ihren Zweck. Tom trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und fuhr mit seinem Wagen auf den anderen auf, sodass er dessen Heckkotflügel streifte. Wütend und ungläubig brüllte der Mann auf, als sein Auto Funken sprühend zur Seite ausbrach.
Toms Auto rauschte über die Ziellinie, während der Wagen seines Gegners in den Graben der Rennstrecke krachte und dort explodierte.
»Was … was«?, stotterte der Mann.
Tom nahm seinen Helm ab. »Hoppla. Ich glaube, ich habe dieses Spiel doch schon mal gespielt.« Er streifte sich die Handschuhe ab. »Dann lassen Sie mal die hundert Mäuse rüberwachsen, ja?«
Fasziniert sah er zu, wie auf der Stirn des Mannes eine Ader pulsierend hervortrat. »Du kleiner … du kannst doch nicht … du …«
»Sie wollen also nicht bezahlen?« Tom warf einen trägen Blick auf die Couch in ihrer Nähe, auf der das jüngste Opfer des Mannes saß. Der miserable Fahrer zeigte plötzlich Interesse an ihrer Unterhaltung. Tom erhob seine Stimme, damit der Mann jedes Wort verstehen konnte. »Ich schätze mal, hier spielt man gar nicht um Geld … Ist es das?«
Der Gamer folgte Toms Blick zu seinem vorherigen Opfer und verstand die Anspielung: Falls er Tom nicht bezahlte, dann hätte der andere ihn auch nicht bezahlen müssen.
Der Mann stotterte ein wenig herum, ähnlich wie der Motor seines kaputten Autos, zog dann jedoch einhundert Dollar aus einem Bündel Geldscheine in seiner Tasche. Er stopfte die Scheine Tom in die Hand und murmelte dabei etwas von einer Revanche.
Tom genoss die Wut des Mannes in vollen Zügen, während er das Geld abzählte. »Wenn Sie eine Revanche wollen, bin ich dabei. Wieder doppelt oder nichts? Zweihundert Dollar könnte ich echt gut gebrauchen.«
Der Mann lief puterrot an, ließ die Sache auf sich beruhen und verließ fluchtartig die Spielhalle. Der Anfänger auf der Couch signalisierte Tom dankbar seine Zustimmung. Tom erwiderte die Geste und verstaute die Geldscheine in seiner Tasche. Einhundert Dollar. Normalerweise musste er diese Wette noch mit weiteren Gamern durchziehen, um genug für eine Übernachtung zusammenzukratzen, denn bei VR-Simulationen wurden nur niedrige Einsätze gesetzt. Doch in einer Absteige wie dem Dusty Squanto Casino würden hundert Mäuse für ein Zimmer ausreichen.
In Gedanken malte er sich bereits die Annehmlichkeiten des vor ihm liegenden Abends aus. Ein Bett. Fernsehen. Klimaanlage. Eine richtige Dusche. Er hätte sogar die Möglichkeit, hierher zurückkehren und bloß aus Spaß zu spielen.
Doch als er sich zur Tür wandte, wurde ihm mit einem Schlag klar: Er befand sich in einem Spielkasino mit einer VR-Halle. Und damit gab es definitiv keine Ausrede, heute Nachmittag die Schule zu schwänzen.
Tom blieb in der VR-Halle und loggte sich zum ersten Mal seit zwei Wochen in der Simulation der Sonderschule Rosewood ein. In seinen vier Jahren in Rosewood hatte er noch nie eine so lange Zeit die Schule versäumt, und auch heute hatte er bereits wieder den größten Teil des Unterrichts verpasst. Schon allein der Anblick von Ms Falmouths Avatar und ihrer virtuellen Schultafel auf seiner Datenbrille erstickten jedwedes Triumphgefühl im Keim.
Sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. »Tom Raines«, sagte sie. »Vielen Dank, dass du uns heute mit deiner Anwesenheit beehrst.«
»Gern geschehen«, erwiderte Tom. Er wusste, dass diese Bemerkung sie verärgern würde, aber er hatte ja auch keinen guten Ruf zu verlieren.
Die Wahrheit war, dass er den Unterricht sehr häufig schwänzte, jedoch nicht absichtlich. Meistens versäumte er die Schule, weil er keinen Zugang zum Internet hatte. So etwas passierte, wenn man einen Vater hatte, der Glücksspieler war.
Normalerweise sorgte Toms Dad Neil für so viel Geld, dass sie sich ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen vom Kiosk leisten konnten. Doch vor ein paar Tagen hatte er an den Pokertischen totalen Schiffbruch erlitten. In den letzten Jahren kam so etwas immer häufiger vor, da ihn das Glück mehr und mehr verließ. Wenn Neil ihr Geld verspielte und Tom keinen Trottel fand, gegen den er in den VR-Hallen wetten konnte, mussten sie sogar auf den kleinen Luxus eines Hotelzimmers verzichten. Sie landeten dann in einem Park, an einer Bushaltestelle oder legten sich in einem Bahnhof auf Wartebänke.
Da ihn nun Ms Falmouth und seine gesamte Klasse beobachteten, versuchte Tom, sich eine Ausrede für sein Fehlen auszudenken, die komplett neu war, denn versehentlich hatte er schon ein paarmal dieselben benutzt. Er hatte bereits mehrmals wahrheitswidrig behauptet, er habe an den Beerdigungen aller nur möglicher Großeltern und sogar einiger Urgroßeltern teilgenommen, und er konnte auch nicht fortwährend beteuern, er sei »in einen Brunnen gefallen« oder habe sich »im Wald verirrt« oder sei »am Kopf verletzt worden und habe einen Gedächtnisverlust erlitten«, ohne selbst das Gefühl zu haben, sich wie ein Vollidiot anzuhören.
»Es gab einen massiven Cyberangriff auf sämtliche VR-Hallen in der Gegend. Russisch-chinesische Hacker, verstehen Sie? Das Heimatschutzministerium hat sich eingeschaltet und musste innerhalb eines Zehn-Meilen-Radius jeden befragen. Ich hatte nicht einmal Zugang zum Internet«, gab er hastig von sich.
Ms Falmouth schüttelte bloß den Kopf. »Spar dir deine Worte, Tom.«
Wider alle Vernunft enttäuscht ließ Tom sich auf einen Stuhl fallen. Dabei war das dieses Mal sogar eine richtig gute Lüge gewesen.
Die Avatare im Klassenzimmer machten sich wie immer über ihn lustig, über Tom, den Versager, der nie wusste, welche Aufgaben fällig waren, der nie seine Hausaufgaben abgab, der es meist noch nicht einmal schaffte, in seiner Online-Klasse aufzukreuzen.
Er blendete seine Klassenkameraden aus und übte sich darin, einen Schreibstift in einer Hand im Kreis zu drehen – was in VR kniffliger war, als die meisten Leute glaubten. Die Sensoren der Datenhandschuhe reagierten merkwürdig verzögert, und Tom vermutete, dass es ihm bei zukünftigen Spielen nur helfen konnte, wenn er seine Geschicklichkeit verbesserte.
Da hörte er neben sich jemanden flüstern. »Mir hat deine Ausrede gefallen.«
Tom warf einen gleichgültigen Blick auf das Mädchen neben ihm. Sie musste irgendwann im Laufe der vergangenen zwei Wochen in die Klasse gekommen sein. Ihr Avatar war eine umwerfende Brünette mit beeindruckenden gelbbraunen Augen. »Danke. Hübscher Avatar.«
»Ich bin Heather.« Ein Lächeln blitzte auf. »Und das hier ist kein Avatar.«
Natürlich nicht, dachte Tom. Wenn man kein Promi war, sah man im echten Leben auch nicht wie einer aus. Dennoch nickte er. »Ich bin Tom. Und ob du es glaubst oder nicht, das hier …« – er deutete auf sich, so als wäre er stolz darauf, wie hübsch er war – »… ist auch kein Avatar.«
Heather gluckste, weil sein Avatar genauso aussah wie er selbst – Akne, dürre Glieder. Es war mit Sicherheit keine Figur, mit der man online irgendwen hätte beeindrucken wollen.
Ms Falmouth drehte sich um und richtete ihren Blick auf die beiden. »Tom, Heather, habt ihr den Unterricht jetzt genug gestört, oder braucht ihr noch ein wenig Zeit für eure Unterhaltung?«
»’tschuldigung«, sagte Tom. »Wir sind durch.«
Seit er an seinem ersten Schultag als Lord Krull aus dem Spiel Celtic Quest aufgekreuzt war, war Tom noch nie einer Meinung mit Ms Falmouth gewesen. Er sei unverschämt, hatte sie ihn vor allen anderen angebrüllt, weil sie dachte, es wäre Teil eines ausgefeilten Plans gewesen, um ihre Klasse zu verspotten. Dabei hatte ihm Lord Krull einfach nur gefallen, das war alles.
Seitdem kam Tom immer als er selbst in die Klasse. Sonst meldete er sich möglichst nie ohne Avatar im Internet an. Aber wenn er in Rosewood als der gleiche hässliche, bleichgesichtige blonde Thomas Raines auftauchte, der in der echten Welt seinem Dad hinterherlief, fühlte sich das so an, als hätte er seinen richtigen Körper zurückgelassen. Er glaubte keine Sekunde daran, dass das neue Mädchen neben ihm in Wirklichkeit so aussah wie ihr wunderschöner dunkelhaariger Avatar. Und Serge Leon hinten in der Ecke war viel zu angeberisch, als dass er im richtigen Leben ein Koloss von einem Meter achtzig gewesen wäre. Wahrscheinlich war er kaum größer als eins zwanzig und dazu auch noch ein Fettsack.
Aber für diese beiden interessierte sich Ms Falmouth gar nicht. Immer wenn Tom zugegen war, hatte sie ihn auf dem Kieker.
»Unser Thema ist der gegenwärtige Krieg, Tom. Vielleicht kannst du ja zu unserer Diskussion beitragen. Was ist ein ausgelagerter Konflikt?«
Seine Gedanken schnellten zu den Ausschnitten, die er in den Nachrichten und im Internet gesehen hatte, mit im All kämpfenden Schiffen, gelenkt von den streng geheimen Kombattanten, die lediglich durch ihre Rufzeichen identifiziert werden konnten. »Ein ausgelagerter Konflikt ist ein Krieg, der nicht auf der Erde ausgetragen wird. Er findet im All oder auf einem anderen Planeten statt.«
»Und der Himmel ist blau, und die Sonne geht im Osten auf. Ich möchte mehr von dir hören als das Offensichtliche.«
Tom hörte auf damit, den virtuellen Schreibstift zu drehen, und konzentrierte sich. »Moderne Kriege werden nicht von Menschen geführt. Ich meine, irgendwie werden sie schon von Menschen geführt, weil Menschen auf der Erde automatisierte Drohnen fernsteuern, aber den eigentlichen Kampf übernehmen die Maschinen. Wenn unsere Maschinen nicht von den russisch-chinesischen zerstört werden, gewinnt unser Land die Schlacht.«
»Und wer ist an dem gegenwärtigen Konflikt beteiligt, Tom?«
»Die ganze Welt. Deshalb heißt er ›Dritter Weltkrieg‹.« Sie erwartete scheinbar mehr, sodass Tom die bedeutendsten Teilnehmer mit seinen virtuellen Fingern abzählte: »Indien und Amerika sind Alliierte, auch der euro-australische Block hat sich uns angeschlossen. Russland und China sind ebenfalls Alliierte. Sie werden von den afrikanischen Staaten und der südamerikanischen Föderation unterstützt. Die Koalition multinationaler Konzerne, die zwölf mächtigsten Unternehmen der Welt, spaltet sich zu gleichen Teilen zwischen den beiden Seiten auf. Und … ja. Das wäre es in etwa.«
Das war so ziemlich alles, was er über den Krieg wusste. Was sie sonst noch hören wollte, war ihm nicht genau klar. All die winzig kleinen Staaten, die mit einer der beiden Seiten verbündet waren, hätte er nicht aufzählen können, und er bezweifelte, dass es sonst jemand in der Klasse gekonnt hätte. Es gab einen Grund dafür, warum Rosewood eine Sonderschule war – die meisten Schüler hier waren nicht gut genug für eine richtige Schule in einem richtigen Gebäude.
»Möchtest du vielleicht eine herausragende Eigenschaft dieses ausgelagerten Konflikts benennen, die im Gegensatz zu Kriegen in früheren Zeiten steht?«
»Nein?«, versuchte er es hoffnungsvoll.
»Das war nicht wirklich eine Bitte. Nun beantworte die Frage.«
Tom fing wieder damit an, den Stift zu drehen. So ging Ms Falmouth immer vor. Sie fragte ihn so lange, bis er sein gesamtes Wissen durchforstet hatte, es vermasselte und wie ein Idiot dastand. Dieses Mal würde er Klartext mit ihr reden. »Keine Ahnung. Sorry.«
Ms Falmouth seufzte, so als hätte sie auch nicht mehr von ihm erwartet, und nahm sich ihr nächstes Opfer vor. »Heather, ihr beiden scheint euch ja schnell miteinander angefreundet zu haben. Wenn du schon an deinem ersten Tag im Unterricht störst, kannst du ja vielleicht für Tom eine herausragende Eigenschaft nennen.«
Heather bedachte Tom mit einem raschen Blick von der Seite und erwiderte dann: »Indem wir Krieg auf anderen Planeten führen und Kämpfe auf der Erde vermeiden, lösen wir zwar Probleme gewaltsam, vermeiden aber einen Großteil der Folgen herkömmlicher Kriegsführung, zum Beispiel schwerwiegende Verletzungen, Todesfälle, Zerstörungen der Infrastruktur und Umweltbelastung. Das waren jetzt vier herausragende Eigenschaften. Möchten Sie, dass ich noch weitere aufzähle, Ms Falmouth?«
Ms Falmouth schwieg einen kurzen Moment. Womöglich war sie überrascht, mit welcher Leichtigkeit Heather die Frage beantwortet hatte. »Das genügt, Heather. Sehr gut formuliert. Ausgelagerte Konflikte sind sowohl in sozialer als auch in ökologischer Hinsicht von Vorteil.« Sie trat mit großen Schritten an die Tafel. »Ich möchte, dass ihr euch alle einmal Gedanken darüber macht, wie das Wesen des Konflikts die Folgen, mit denen wir konfrontiert werden, verändert hat …«
Heather nutzte die Gelegenheit, um Tom zuzuflüstern: »Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«
Tom lachte leise und schüttelte den Kopf. »Du hast mich nicht in Schwierigkeiten gebracht. Ms Falmouth will mich bloß wissen lassen, wie sehr sie mich vermisst hat.«
Seine Datenhandschuhe vibrierten und signalisierten damit, dass jemand physischen Kontakt mit seinem Avatar aufgenommen hatte. Überrascht warf Tom einen Blick nach unten und erkannte, dass ihre Hand auf seinem Arm ruhte. Ihre Stimme war leise. »Bist du sicher?«
Tom starrte sie an, während Ms Falmouths fortfuhr: »… ausgelagerte Konflikte dienen mehreren Zwecken …«
»Ich bin mir sicher«, antwortete er ihr. Dabei wurde er sich ihrer Berührung so bewusst, als säße sie im richtigen Leben ebenfalls neben ihm und berührte ihn.
Heathers Hand fuhr an seinem Arm hinab und stahl sich dann wieder davon, bis sie auf ihrem Pult wieder auftauchte. Tom überlegte, wie sie wohl in Wirklichkeit aussah. Ihr Avatar wirkte nicht wie der einer Neuntklässlerin – war sie älter als er?
»Mit den Waffen, die wir heutzutage einsetzen«, sagte Ms Falmouth, während sie neben der Tafel stand, »könnten wir die Ionosphäre zerstören, den Planeten verstrahlen und die Meere verdunsten lassen. Indem wir und Russland und China unsere Kriege auf, sagen wir mal, dem Saturn statt auf der Erde führen, können wir unsere Streitigkeiten um die Verteilung von Ressourcen ohne die zerstörerischen Konsequenzen herkömmlicher Kriege austragen, wie Heather es uns gerade erklärt hat. In früheren Epochen glaubten die Menschen, der Dritte Weltkrieg bedeute das Ende der Zivilisation. Ein berühmtes Zitat von Albert Einstein lautet: Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen. Nun befinden wir uns mitten im Dritten Weltkrieg und sind weit davon entfernt, die Zivilisation zu vernichten.«
Ms Falmouth schnippte mit dem Finger, woraufhin sich die Tafel in einen Bildschirm verwandelte. »Jetzt möchte ich den Fokus auf die Intrasolaren Streitkräfte richten. Ich möchte, dass ihr eure Gedanken auf jene Jugendlichen richtet, die dort draußen sind und für die Zukunft eures Landes kämpfen. Wir werden uns dazu einen kurzen Videoclip anschauen.«
Tom setzte sich aufrecht und sah, wie auf dem Bildschirm erst eine Außenansicht des Pentagons und dem aus seiner Mitte herausragenden Turm erschien und dann ein Nachrichtenstudio, in dem neben einer Reporterin ein berühmter Teenager saß.
Es war Elliot Ramirez.
Tom ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Hinter ihm stieß Serge Leon bestürzt aus: »Nicht wieder dieser Idiot Ramirez!«
Elliot Ramirez war allgegenwärtig. Jeder kannte ihn – den gut aussehenden, lächelnden, durch und durch amerikanischen Siebzehnjährigen, der für die Zukunft der indo-amerikanischen Vorherrschaft im Sonnensystem stand. Er trat in Werbespots auf, und sein Bild war an Wänden plakatiert; er ließ sein breites Grinsen und seine funkelnden Augen auf Müslischachteln, Vitaminflaschen und T-Shirts aufblitzen. Immer wenn in den Nachrichten wieder ein indo-amerikanischer Sieg verkündet wurde, erschien Elliot vor der Kamera, gab ein Interview und sprach darüber, dass Amerika nun sicher gewinnen werde! Und natürlich tauchte Elliot an vorderster Front bei den Pressemitteilungen von Nobridis Inc. auf, weil die ihn sponserten. Er war einer der jungen Auszubildenden, die amerikanische Maschinen im Weltraum steuerten, einer jener Amerikaner, die sich der Aufgabe widmeten, die russisch-chinesische Allianz zu besiegen und das Sonnensystem für die indo-amerikanischen Verbündeten zu erobern.
»Warum haben Sie das Rufzeichen Ares bekommen? Ares ist der griechische Gott des Krieges. Das sagt eine Menge über Ihre Kühnheit auf dem Schlachtfeld aus«, meinte die Reporterin gerade zu Elliot.
Elliot kicherte und ließ dabei seine weißen Zähne aufblitzen. »Ich habe mir das Rufzeichen nicht selbst ausgesucht. Meine Waffenbrüder hielten es für das richtige für mich. Sie baten mich inständig, es anzunehmen. Die dringliche Bitte meiner Kameraden konnte ich nicht abschlagen.«
Tom lachte. Er konnte nicht anders. Mehrere weibliche Avatare wirbelten herum und bedeuteten ihm, er solle still sein.
Es folgte ein Schnitt, und jetzt war auf dem Bildschirm eine Schlachtszene im Weltraum zu sehen. Ein mit dem Namen »Ares« gekennzeichnetes Schiff flog auf einen verstreuten Haufen Schiffe zu. Die Bildunterzeile lautete »Die Schlacht vor Titan«. Währenddessen fuhr die Reporterin fort: »… eine Menge Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren, Mr Ramirez. Wie kommen Sie mit der Begeisterung der Öffentlichkeit für Ihre Person zurecht?«
»Um die Wahrheit zu sagen, sehe ich mich gar nicht als großen Helden, so wie viele es tun. Es sind die Maschinen, die im Weltraum das Kämpfen übernehmen. Ich lenke sie nur. Man könnte sagen« – an dieser Stelle wurde wieder das Bild von Elliot eingeblendet, der in die Kamera zwinkerte – »ich bin bloß ein Jugendlicher, der gerne mit Robotern spielt.«
Tom konnte sich immer noch an das einzige Interview mit Elliot Ramirez erinnern, das er vor diesem hier bis zu Ende ertragen hatte. Sein Vater war mit ihm in einem Hotelzimmer gewesen und hatte darauf bestanden, dass sie das ganze Interview mehrmals anschauten, weil er davon überzeugt war, dass der berühmte Elliot Ramirez gar kein echter Mensch war. Er weigerte sich umzuschalten, bevor er nicht auch Tom davon überzeugt hatte.
»Das ist kein echter Junge. Das ist eine Computersimulation«, hatte Neil erklärt.
»Aber es gibt Leute, die ihn in Fleisch und Blut gesehen haben, Dad.«
»So verhält sich kein Mensch! Schau doch, wie er haargenau alle fünfzehn Sekunden blinzelt. Miss die Zeit. Und dann schau dir mal an, wie er die Brauen hebt, jedes Mal genau auf die gleiche Art und Weise. Jedes einzelne Mal. Und dann dieses Lächeln. Immer gleich breit. Das ist die computergenerierte Simulation eines Menschen. Das garantiere ich dir.«
»Und mit wem spricht dann die Reporterin?«
»Die steckt mit denen unter einer Decke. Wem gehören denn die Mainstream-Medien? Den Konzernen. Die stecken dahinter.«
»Aber sicher doch. Dann schätze ich mal, dass die Firma Wheaties das Bild eines gefakten Jugendlichen auf ihre Schachteln druckt und Nobridis – der Unternehmenssponsor, den Elliot jedes Mal erwähnt, wenn er interviewt wird – mit einem Kerl wirbt, dem sie noch nie begegnet sind? Und jeder Senator und jeder Promi, der einen Pressetermin mit ihm hatte – die sind alle bloß digital reinkopiert? Oh, und nicht zu vergessen die ganzen Leute im Internet, die behaupten, sie hätten ein Autogramm von ihm … Die sind auch alle eingeweiht, nicht wahr?«
Neil schäumte vor Wut. »Tom, wenn ich es dir sage, dieser Elliot ist kein echter Junge. So funktioniert das in der Konzernoligarchie. Die wollen nur ein hübsches Gesicht, damit ihre Absichten in den Augen der Massen gut rüberkommen. Ein echter Mensch handelt unvorhersehbar. Aber mit einem computergenerierten Menschen, der deine Organisation repräsentiert, hast du alles unter Kontrolle, was dieses Repräsentieren angeht. Er ist nichts anderes als ein Logo, eine Actionfigur, ein Teil eines Abzeichens.«
»Und du bist der Einzige auf der ganzen Welt, der das mitgekriegt hat.«
»Was denn, glaubst du etwa, die Amerikaner würden die Verfilzung von Unternehmen und Politik kritisch hinterfragen? Sie sind viel zu beschäftigt damit, ihre patriotische Pflicht zu erfüllen und ihr eigenes Land auszuweiden, um einen Krieg zu finanzieren, bei dem es darum geht, welcher Firmenboss sich in diesem Jahr die größte Jacht leisten kann. Wach auf, Tom! Ich will nicht, dass mein Sohn an diese Establishmentpropaganda glaubt.«
»Das tue ich nicht. Ich nicht«, hatte Tom protestiert.
Er wünschte sich, dass sein Dad recht hatte. Das wollte er wirklich. Selbst in diesem Augenblick musterte er Elliot und bemühte sich, etwas Computersimuliertes an ihm zu entdecken. Doch er sah bloß einen Jungen mit einem gekünstelten Lächeln, der in sich selbst verliebt war und viel zu sehr über seine eigenen Witze lachte.
»Welche Botschaft möchten Sie unseren Zuschauern heute Abend mitgeben, Mr Ramirez?«
»Ich möchte, dass sie wissen, dass wir Jugendlichen im Turm des Pentagons kein großes Opfer bringen. Das Land zu retten kann Spaß machen! Sie selbst sind es, die amerikanischen Steuerzahler, die dafür sorgen, dass der Kampf um unsere Nation weitergeführt werden kann. Und dank Nobridis, Inc. ist die indo-amerikanische Allianz …«
»Das. Land. Retten.« Ms Falmouth schaltete die Videoübertragung ab, als Elliot damit begann, für Nobridis zu werben. »Wenn ihr das nächste Mal glaubt, ihr hättet zu viele Hausaufgaben zu erledigen, möchte ich, dass ihr über die Last nachdenkt, die auf den Schultern dieses jungen Mannes ruht. Elliot Ramirez kämpft dort draußen, um unserer Nation eine Zukunft zu ermöglichen, die Ressourcen des Sonnensystems für uns zu sichern. Und ihn hört ihr nicht jammern, oder?«
Das Läuten der Glocke durchdrang die Simulation. Ms Falmouth bekam gar nicht erst die Gelegenheit, sie zu entlassen. Ein Schüler nach dem anderen verschwand.
Normalerweise gehörte Tom zu den Ersten, die sich ausloggten. Dieses Mal tat er es nicht, denn gerade als er die Hand hob, um sich den VR-Helm abzunehmen, sprach Heather ihn an. »Loggst du dich schon aus?«
Sie klang enttäuscht.
Tom ließ die Hand wieder sinken. »Noch nicht.«
Sie rutschte mit ihrem simulierten Pult zu ihm herüber, sodass sie nun direkt nebeneinander saßen. Tom spürte, wie seine Hände in den Datenhandschuhen schweißnass wurden.
»Kann man Elliot Ramirez Glauben schenken?«, fragte Heather, während sie sich das dunkle Haar aus dem Gesicht strich. »Sein Ego springt einem ja fast aus dem Bildschirm entgegen, findest du nicht? Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich ducken und in Deckung gehen.«
»Ich kann nicht glauben, dass du ein echtes Mädchen und trotzdem nicht über beide Ohren verliebt in Elliot Ramirez bist«, sagte Tom anerkennend. Dann kam es ihm in den Sinn: Vielleicht war sie ja gar kein echtes Mädchen. Am Ende war sie ein Kerl, der einen Stimmenwandler benutzte und das Schulprogramm gehackt hatte.
»Sagen wir einfach, ich glaube genug über Elliot zu wissen, um nicht auf diesen Hype hereinzufallen.« In ihrer Stimme schwang etwas Neckisch-Verschämtes mit, sodass er sich fragte, ob ihm hier ein Scherz entging.
»Bist du wirklich ein Mädchen?«, konnte sich Tom nicht verkneifen zu fragen.
»Ja klar!«
»Tja, schön, aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«
»Ist das deine Art, mich zu einem Videochat einzuladen?«, scherzte Heather.
Tom war es gar nicht in den Sinn gekommen, sie darum zu bitten. Er erholte sich jedoch schnell von seiner Überraschung. »Wollen wir?«
Heather zwirbelte eine Locke ihres dunklen Haares um einen Finger. »Das hier ist also eine Online-Schule«, stellte sie mit gespielter Unschuld fest. »Entspricht das Videochatten in Rosewood einem Date?«
Tom machte den Mund auf und dann wieder zu. Sie klang nicht so, als verabscheute sie die Vorstellung. »Sollte es das denn deiner Meinung nach sein?«
Heather lächelte. »Unter welcher Netzwerkadresse wirst du morgen zu erreichen sein, Tom?«
Er war total verwirrt, als er ihr seine Netzwerkadresse gab und versprach, er werde morgen, wenn sie sich treffen würden, darunter zu erreichen sein. Es war ihm egal, dass sie sich verdammt früh treffen würden – zwei Stunden vor Schulbeginn. Heather sagte, Grund dafür sei die Zeitzone, in der sie sich befand. Tom beschloss, die ganze Nacht wach zu bleiben, wenn es sein musste. Ihm brummte der Kopf. Er hatte ein Date … oder so etwas Ähnliches. Mit einem richtigen, lebendigen Mädchen … das hoffte er jedenfalls.
Als sie sich ausloggte, blieb er noch neben seinem Pult stehen – obwohl er in Wirklichkeit stocksteif auf der Couch in der VR-Halle saß – und starrte bloß die leere Stelle an, wo sie bis eben gewesen war. Immer wieder ging ihm durch den Kopf, dass er zum ersten Mal ein Mädchen um eine Verabredung gebeten und das Mädchen dazu Ja gesagt hatte. Und dabei hatte er geglaubt, heute würde ein ganz normaler Tag werden …
Jemand räusperte sich.
Plötzlich bemerkte Tom, dass Ms Falmouth und er die Einzigen waren, die sich noch in dem virtuellen Klassenraum befanden.
»Ich wollte mich gerade ausloggen«, sagte Tom hastig und langte in der echten Welt nach seinem Helm.
»Noch nicht, Tom«, sagte Ms Falmouth. »Bleib noch einen Moment. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.«
Oh.
Eine bleierne Schwere lastete auf Tom, weil er so etwas mehr oder weniger schon erwartet hatte. Und das war nicht gut.
»Gehen wir in mein Büro.« Ms Falmouth schnippte mit den Fingern, woraufhin sich die Umgebung in ein privates Büro verwandelte. Sie nahm an der einen Seite des imposanten Schreibtischs Platz. Tom steuerte den Stuhl auf der anderen Seite an und wartete auf einen Hinweis, was sie hören wollte, bevor sie ihn dieses Mal vom Haken lassen würde.
»Tom«, begann sie und faltete die Hände auf dem Schreibtisch zusammen, »ich mache mir Sorgen wegen deiner Fehlzeiten.«
Tom stieß den Atem aus. »Das dachte ich mir schon.«
»Du wurdest an diese Institution überwiesen, weil dein Vater es zuließ, dass du elf Jahre alt wurdest, ohne dass er dich in einer Schule angemeldet hat. Wir haben uns bemüht, dir den Anschluss zu ermöglichen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass du die gleichen Fortschritte machst wie die übrigen Schüler. Wenn man bedenkt, dass du überhaupt nur sehr selten am Unterricht teilnimmst, finde ich die Situation sogar unhaltbar.«
»Vielleicht brauche ich eine alternative Schule«, schlug Tom vor.
»Das hier ist eine alternative Schule. Das hier ist deine letzte Chance.«
»Ich bemühe mich ja.«
»Nein, tust du nicht. Und schlimmer noch, dein Vater bemüht sich auch nicht. Ist dir eigentlich klar, dass du vergangene Woche zwei Tests und ein Geschichtsreferat versäumt hast?«
»Es ließ sich nicht vermeiden.«
»Russisch-chinesische Hacker, nicht wahr?«, sagte sie. »Vielleicht bist du ja auch wieder von Terroristen als Geisel genommen oder auf das Meer hinausgeschwemmt worden und bist auf einer einsamen Insel ohne Internetzugang gestrandet?«
»Das nun nicht gerade.« Aber diese Ausrede in der Zukunft einmal zu verwenden würde ihm helle Freude bereiten.
»Tom, du nimmst das hier nicht ernst – und das ist dein Problem. Das ist kein albernes Spielchen, es geht um deine Zukunft, und du wirfst sie mit beiden Händen weg. Vor einem Monat hast du mir versprochen, du würdest nie wieder den Unterricht versäumen.« Ms Falmouths Avatar starrte ihn mit einer unnatürlichen Eindringlichkeit an. »Wir haben einen Ausbildungsvertrag unterschrieben, hast du das schon vergessen?«
Tom wies nicht darauf hin, dass sie ihn hatte versprechen lassen, nicht wieder den Unterricht zu versäumen. Was hatte sie denn erwartet, etwa dass er ihr die Wahrheit sagen würde? Hätte er etwa offen zugeben sollen, dass er wahrscheinlich nur selten in der Schule aufkreuzen würde? Sie hätte ihn bloß wieder angeschrien, er wäre »unverschämt«.
»Es geht hier nicht um mich«, fuhr Ms Falmouth fort. »Es geht auch nicht um deinen Vater, es geht um dich, Tom. Dir sollte klar sein, dass ganz gleich, welche Maßnahmen ich jetzt ergreife, es nur zu deinem Besten geschieht. Ich kann mich nicht zurücklehnen und zulassen, dass das Leben eines vierzehnjährigen Jungen von einem verantwortungslosen Erziehungsberechtigten zerstört wird.«
Tom richtete sich sowohl in der Simulation als auch in der VR-Halle auf. »Was soll das überhaupt bedeuten – ›welche Maßnahmen Sie jetzt ergreifen‹?«
»Da du aufgrund eines richterlichen Beschlusses die Schule besuchen musst, sie aber nicht besuchst, habe ich es in der vergangenen Woche dem Jugendamt gemeldet. Das bedeutet es.«
Tom sackte in sich zusammen, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Das hier würde kein gutes Ende nehmen. Vielleicht würde ihm sein Leben mit Neil nicht zu den Gipfeln des Erfolgs führen, aber im Heim würden mit Sicherheit nicht Milch und Honig fließen.
Und auf keinen Fall würde er bei seiner Mom wohnen.
Auf gar keinen Fall.
Dalton, ihr Freund, bezahlte ihr eine schicke Wohnung in New York City. Tom hatte sie einmal besucht, bloß einmal, und dabei war er ihm begegnet. Dalton Prestwick besaß eine Jacht und arbeitete als gut verdienender Manager bei Dominion Agra, irgendeinem der multinationalen Konzerne. Sein Job war es, ihre Urheberrechte geltend zu machen oder so etwas.
Dalton hatte ihn gemustert, als wäre er etwas Widerwärtiges, das ihm unter den Lederschuhen klebte. Er hatte zu ihm gesagt: »Meine Anwälte haben sämtliche Wertsachen in diesem Haus dokumentiert, du Niete. Falls etwas fehlt, lasse ich dich in die Jugendstrafanstalt stecken.«
Ach ja, und Dalton hatte schon eine Frau. Und schon eine Freundin. Na klar, und dann noch Toms Mom.
»Ich kann sonst nirgends hin, Ms Falmouth. Ich weiß, dass Sie glauben, Sie tun mir einen Gefallen, aber so ist das nicht, das versichere ich Ihnen.«
»Du bist vierzehn, Tom. Was willst du später anfangen, wenn du deinen Lebensunterhalt selbst bestreiten musst? Hast du vor, ein umherziehender Zocker zu werden wie dein Vater?«
»Nein«, entgegnete Tom sofort.
»Ein umherziehender Gamer bei Computerspielen?«
Wie viel Ms Falmouth über seine Aktivitäten als Gamer wusste, war ihm nicht klar, aber er erwiderte nichts. Hätte sie ihn gefragt, was er werden wollte, hätte er vielleicht genau dies gesagt und verkündet, er werde seinen Lebensunterhalt eines Tages auf genau die gleiche Weise bestreiten wie jetzt schon.
Bloß war der Gedanke, so wie jetzt immer zu leben, der Gedanke, im Leben nirgendwohin zu kommen …
Der Gedanke, so zu werden wie sein Vater …
Plötzlich wurde Tom irgendwie schwindelig, und sein Magen zog sich zusammen.
Ms Falmouth lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Du stehst im Wettbewerb mit Konkurrenten in einer globalen Wirtschaft. Einer von drei Amerikanern ist arbeitslos. Du brauchst einen Schulabschluss, wenn du Ingenieur oder Programmierer werden oder dich sonst wie für die Verteidigung nützlich machen willst. Du brauchst einen Schulabschluss, wenn du Buchhalter oder Anwalt werden willst, und du brauchst Verbindungen, um in Regierungskreisen oder in Unternehmen einsteigen zu können. Wer, glaubst du, wird einen jungen Mann wie dich einstellen, wenn es so viele leistungsstarke Kandidaten dort draußen gibt, die unbedingt arbeiten wollen?«
»Das ist doch noch Jahre hin.«
»Tu so, als wäre es morgen. Was wirst du dann anfangen? Was kannst du gut?«
»Ich kann gut …« Er hielt inne.
»Was?«
Da ihm nichts anderes einfiel, sagte er es einfach. »Spielen.«
Das Wort blieb zwischen ihnen in der Luft hängen und hörte sich in seinen Ohren plötzlich zutiefst traurig an.
»Das kann dein Vater auch, Tom. Und wo steht er jetzt?«