DREI
Während des Flugs stellte sich Tom vor, ein Kombattant zu sein, der Amerika vor einem vernichtenden russisch-chinesischen Komplott rettete. Dann würde ihn Ms Falmouth vielleicht im Fernsehen sehen, nach Luft ringen und begreifen, dass ausgerechnet der Schüler, den sie am wenigsten gemocht hatte, ihr Land gerettet hatte. Dann würden es auch alle anderen in Rosewood erkennen.
Plötzlich hatte er den Wunsch, ihr mitzuteilen, wohin er unterwegs war, verspürte das seltsame Bedürfnis zu hören, was sie dazu sagen würde. Doch als er darum bat, Rosewood einen letzten Besuch abstatten zu dürfen, schüttelte Marsh den Kopf.
»Was Ihre Ms Falmouth angeht, so wurde sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass Sie in ein Pflegeheim eingewiesen wurden. Wir halten uns so bedeckt wie möglich, was unsere jungen Rekruten angeht, Tom. Das einzige Gesicht, das wir der Öffentlichkeit präsentieren, ist das von Elliot Ramirez. Alle anderen sind der Öffentlichkeit nur als Rufzeichen bekannt.«
Der Flug von Arizona schien eine Ewigkeit zu dauern. Als sie über Arlington, Virginia, flogen, erspähte Tom endlich das Gebäude, nach dem er seit dem Start Ausschau gehalten hatte, dem Turm des Pentagons, militärisches Hauptquartier der Intrasolaren Streitkräfte. Massig erhob er sich aus einem fünfeckigen Sockelgeschoss und schraubte sich hinauf bis zu einer glänzenden, verchromten Spitze.
Marsh klopfte mit seinem knorrigen Fingerknöchel an die Scheibe. »Früher, als ich noch ein Kind war, Tom, war dieses Gebäude nur ein riesiges, flaches Fünfeck. Möchten Sie wissen, was an der Stelle war, wo jetzt der Turm steht? Genau dort, wo man ihn hingebaut hat, befanden sich ein Innenhof und zwei innere Ringe des alten Pentagons. Den Hof nannten wir ›Ground Zero‹. Der Name stammte noch aus dem Kalten Krieg, als jeder glaubte, das Pentagon wäre der erste Ort, den die Sowjets bombardieren würden. Als die da oben beschlossen, den Turm auf dieses Stück Geschichte zu bauen, hat das eine Menge Leute verärgert, aber wir verschärften gerade den Wettlauf im All mit den Chinesen und mussten unsere Überlegenheit demonstrieren. Der Turm ist nicht bloß ein Gebäude, er ist der leistungsstärkste Sender in der westlichen Hemisphäre.«
»Was wird in dem alten Gebäude gemacht?«, fragte Tom, während vor seinem Fenster die Seitenruder hochklappten. Das Hybridflugzeug ging in den Helikopterbetrieb über, und ihre Geschwindigkeit wurde gedrosselt.
»In den verbleibenden drei Ringen sind traditionelle Militärs stationiert. Heutzutage würde man sie wohl eher als Ingenieurkorps bezeichnen. Nicht dass wir uns falsch verstehen, für den Fall, dass es zu Unruhen in der Bevölkerung oder zur Errichtung eines neuen Schurkenstaats kommt, haben wir durchaus Kampftruppen, aber die werden nie wirklich zum Einsatz kommen. Schade, denn ich gehörte seinerzeit selbst zur kämpfenden Truppe, und wir haben viel mehr unternommen als nur zu kämpfen. Wir haben Interpol dabei unterstützt, Kriminelle aufzuspüren, wir haben korrupte Regimes gestürzt, ja, wir haben sogar humanitäre Hilfe geleistet.«
»Sie sind Veteran?« Einem altgedienten Soldaten war Tom bislang noch nie begegnet. Als das Fluggerät sich dem Dach des alten Pentagons näherte, machte Toms Magen einen großen Satz. »Haben Sie auf Menschen geschossen?«
»Ich bin nicht diese Art Veteran. Ich war Pilot. Ich habe Truppen, die auf Menschen geschossen haben, in den Mittleren Osten und zurück geflogen, damals, als es in der Region zu Kämpfen kam – damals, als dort noch etwas existierte. Ob Sie es glauben oder nicht, Tom, als ich jung war, war Gewalt nicht auf einen kleinen Bereich begrenzt. Es gab immer mehrere Kriege gleichzeitig irgendwo auf der Welt, mit Gewehren und Bomben, Aufständen und allem, von dem Sie gelesen haben.«
Das Fluggerät setzte auf dem Hubschrauberlandeplatz auf. Tom und General Marsh lösten ihre Sicherheitsgurte und kletterten hinaus auf das Dach des alten Gebäudes, wo eine Reihe traditioneller Militärs strammstand. Marsh tauschte mit dem ranghöchsten Offizier Ehrenbezeugungen aus und blieb dann stocksteif stehen, damit seine Identität via Netzhautscan verifiziert werden konnte. Im Anschluss daran bedeutete er Tom, mit ihm den Aufzug zu betreten. Gemeinsam fuhren sie ins Erdgeschoss und traten in den Korridor, der das alte Pentagon mit dem Turm verband.
In dem Flur, der zum Turm führte, erwartete sie eine adrett gekleidete, dunkelhäutige Frau mit großen, leuchtenden Augen. Sie trat vor, als die beiden sie erreichten. »Thomas Raines, nehme ich an?«
Tom warf einen schnellen Blick auf General Marsh und wollte schon so salutieren, wie er es wenige Minuten zuvor bei ihm gesehen hatte.
General Marsh schüttelte den Kopf. »Nicht salutieren, Tom. Das ist Olivia Ossare. Sie ist Zivilistin.«
Die Frau strahlte ihn an. »Es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen, Tom. Der General hat recht. Ich bin Zivilist, so wie du auch. Als das Militär vor vier Jahren damit begann, Teenager für intrasolare Kampfeinsätze zu requirieren, hat der Verteidigungsausschuss des Kongresses, der die Operationen hier leitet, ein Dokument namens ›Staatliches Übereinkommen‹ verfasst.«
Tom folgte ihr in die ausgedehnte Eingangshalle des Turms, während General Marsh hinter ihnen zurückblieb. Der Eingang zum Turm war genauso atemberaubend wie das glitzernde Chrom an der Außenfassade. Von einer hohen Marmordecke schaute ein goldener Adler auf alle herab, die über die Türschwelle traten. An der Tür hing eine amerikanische Flagge, umringt von den Flaggen der derzeitigen Verbündeten des US-Militärs: Indien, Kanada, Großbritannien sowie diverse europäische und ozeanische Staaten.
Olivias Absätze klackerten über den Boden. »Die Gesetze über Kinderarbeit gelten auch für Rekruten. Obwohl du dich dem Militär anschließt, wirst du nur dann den gleichen Dienstgrad einnehmen wie traditionelle Soldaten, wenn du dich mit achtzehn neu verpflichtest. Einen formellen Rang wirst du bis dahin nicht innehaben. Das Militär ist zwar während deines Aufenthaltes hier dein gesetzmäßiger Vormund, doch laut Bundesgesetz ist dein rechtmäßiger Vormund nach wie vor dein Vater. Du gehst also nicht ins Eigentum des Militärs über.«
Toms Blick schweifte über eine Gruppe regulärer Soldaten, die in Formation an ihnen vorbeimarschierten. Olivia legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn vorwärtszudrängen.
»Wie ich selbst, Tom, wirst auch du so etwas wie ein ziviler Mitarbeiter sein. Du wirst in Diensten der Regierung stehen, doch in einem begrenzten Rahmen. Du wirst eine traditionelle Ausbildung bekommen …«
Tom zuckte zusammen. Er hatte gehofft, die Schule auf ewig hinter sich gelassen zu haben.
»… ein Stipendium, vergütet mit einem regulären Gehalt, das in einen Treuhandfonds fließt, und du wirst Calisthenics, also Fitnessübungen, sowie mindestens zwanzig Stunden Freizeit pro Woche haben. Dir stehen zwanzig Urlaubstage pro Jahr zu, einige davon während der üblichen Ferienzeiten, die anderen werden von General Marsh festgelegt. An den Wochenenden kannst du frei über deine Zeit verfügen. Du genießt Bewegungsfreiheit, solange du dafür sorgst, dass du um 22 Uhr wieder im Turm bist.«
»Und solange Sie in einem 20-Meilen-Radius rund um diese Anlage bleiben«, fiel ihr Marsh ins Wort. »Das ist die Grüne Zone, Mr Raines, und Sie entfernen sich nicht aus ihr, bevor Sie nicht von mir zuvor die Erlaubnis erteilt bekommen haben. Wenn sich ein Auszubildender aus der Grünen Zone entfernt, gehen wir davon aus, dass das russisch-chinesische Bündnis die Finger im Spiel hat, und wir gehen auf DEFCON-2.«
»DEFCON-2?«, fragte Tom verblüfft.
»So ist es. Einen Auszubildenden zu verlieren ist ein nationaler Notfall. Dann mobilisieren wir die traditionellen Militärs für eine Befreiung aus Feindeshand. So etwas ist vor Kurzem erst passiert. Der Auszubildende – ein junger Mann, der sich davongeschlichen hatte, um sich mit einem Mädchen zu treffen – war nicht glücklich über das, was ihm blühte, als wir ihn fanden. Er hat seine Bewegungsfreiheit eingebüßt. Er kann von Glück sagen, dass er noch immer hier ist, wenn man bedenkt, wie viel Arbeit nötig war, um diese Geschichte aus dem Internet herauszuhalten.«
Sie kamen in einen ausgedehnten kreisförmigen Bereich mit eleganten schwarzen Tischen.
»Das ist die Patton-Halle«, sagte Olivia. »Es ist die Kantine für junge Auszubildende und diejenigen Offiziere, die in dieser Anlage leben.« Sie manövrierte Tom in Richtung der Aufzüge. »Hier entlang kommen wir zu meinem Büro, Tom.« Sie deutete auf eine Glastür am Ende des Gangs hinter den Aufzügen.
Tom entdeckte das Schild mit der Aufschrift »Olivia Ossare«.
»Wie gesagt, ich bin kein Soldat. Ich bin staatlich geprüfte Sozialarbeiterin, und ich bin hier nur für euch Kids da. Wenn es ein Problem gibt, kannst du vertraulich mit mir sprechen. Ich bin hier als dein Rechtsbeistand, selbst dann, wenn dein Problem mit deinem militärischen Vormund zu tun hat.«
Nun übernahm General Marsh die Führung. Er zeigte Tom den Gebäudeflügel, in dem sich die Krankenstation befand, und den Lafayette Raum. Letzterer war riesig, mit vielen Bankreihen und einer erhöhten Bühne, die von einer US-Flagge und einer Flagge der sechs indo-amerikanischen Konzernverbündeten in der Koalition der Multis eingerahmt wurde: Wyndham Harks, Dominion Agra, Nobridis, Inc., Obsidian Corp., Matchett-Reddy und Epicenter Manufacturing.
Marsh wies in alle Richtungen. »Hier werden die Auszubildenden von zivilen Lehrkräften in den Kernfächern unterrichtet. Diesen Raum werden Sie ziemlich gut kennenlernen. Als Rekrut im ersten Ausbildungsjahr finden Ihre Kurse abwechselnd hier in diesem oder in der MacArthur-Halle im vierzehnten Stockwerk statt.«
Sie nahmen den Aufzug zum fünften Stock und traten in einen eleganten, fensterlosen Raum, eingerichtet mit Plüschsofas, Spielkonsolen, einem Air-Hockey-Tisch, einer Tischtennisplatte, einem Billardtisch und hohen Bücherregalen. Ringsherum befanden sich Schiebetüren. Auf einer von ihnen war eine riesige Axt sowie »Dschingis Division« gemalt worden. Auf der nächsten prangten eine Feder und »Machiavelli Division«, die übernächste zierten eine Steinschleuder und »Hannibal Division«. Weiter hinten erkannte er eine Muskete und »Napoleon Division«, und schließlich waren noch ein Schwert und »Alexander Division« zu sehen.
»Das hier ist der Gemeinschaftsraum für Rekruten«, beschied ihm Marsh. »Wollen Sie wissen, was es mit diesem Zeichen hier auf sich hat? Das sind die Türen zu den fünf Wohnbereichen der Soldaten in der Grundausbildung. Die Divisionen sind allesamt nach prominenten Figuren aus der Militärgeschichte benannt – Generälen und einem Strategen. Ein Pentagon hat fünf Ecken, also sind es fünf Divisionen. Das verleiht der Sache eine schöne Ordnung. So, ich glaube, jetzt ist es Zeit, dass Sie die Übungsräume zu sehen bekommen. Ich glaube, Sie sind bereit dafür. Stimmen Sie mit mir überein, Ms Ossare?«
Olivias Miene erstarrte. »Ich stimme mit Ihnen überein, General«, sagte sie knapp. »Der Zeitpunkt ist gekommen.« Sie ging mit großen Schritten an Tom vorbei und drückte die Fahrstuhltaste.
Sie fuhren zu den Übungsräumen für Simulationen im zwölften Stockwerk hinauf. Marsh warf einen Blick auf die Infotafeln an einer Tür und legte einen Finger auf die Lippen. »Hier hinein.«
Als er die Tür öffnete, kam ein riesiger, dunkler Raum zum Vorschein. Nachdem sich Toms Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte er eine Gruppe von etwa einem Dutzend Teenagern. Mit geschlossenen Augen und lang ausgestreckt lagen sie auf kreisförmig aufgestellten Feldbetten.
Ihr zombieartiges Schweigen, ihre Reglosigkeit und die EKG-Monitore, auf denen ausschlagende Linien ihre Herzfrequenz registrierten, brachten Tom aus der Fassung. Was machten die da? Marsh nannte es eine Simulation, aber Tom sah weder VR-Helme noch Datenhandschuhe, ja nicht einmal eine der altmodischen Sensorleisten. Niemand gestikulierte oder winkte. Eigentlich bewegte sich überhaupt niemand. Sie wirkten alle eher wie Patienten auf einer Komastation.
Schließlich bedeutete ihm General Marsh, den Raum wieder zu verlassen. »Das hier sind Rekruten«, erklärte er Tom. »Sie absolvieren gerade eine Gruppenübung. Bevor sie mit dem fortgeschrittenen taktischen Training beginnen, werden die Anfänger gründlich bei Teamworkübungen gedrillt. Außerdem gewöhnen sie sich dadurch daran, dass sich die Neuronalprozessoren in ihrem Gehirn noch mit etwas anderem verknüpfen als ihrem Körper.«
Tom brauchte einen Moment, um die Worte zu begreifen: Neuronalprozessoren … in ihrem Gehirn …
Er blieb stehen. »Moment mal, was?« Er drehte sich ruckartig um und schaute die beiden Erwachsenen an. »Was meinen Sie damit, Prozessoren in ihrem Gehirn?«
Weder Marsh noch Olivia reagierten. Es war, als hätten sie beide diese Reaktion erwartet.
Schließlich sagte Marsh: »Um hier Auszubildender zu werden, Mr Raines, müssen Sie sich einen Neuronalprozessor in den Kopf implantieren lassen. Es handelt sich dabei um einen ausgesprochen hoch entwickelten Computer, der direkt mit Ihrem Gehirn interagiert. Danach sind Sie nach wie vor ein Mensch, bloß kommt noch etwas Besonderes hinzu.«
Olivia legte ihm die Hand fest auf die Schulter. Tom entzog sich ihr. »Sie haben nichts davon gesagt, dass …«, fing er an.
»Was haben Sie denn gedacht, mein Junge?« General Marsh zog seine schmalen Brauen nach oben. »Unsere Kombattanten steuern Maschinen und bekämpfen Maschinen. Sie, Tom, haben selbst schnelle Synapsen. Aber so schnell wie eine Maschine reagiert Ihr Gehirn nicht. Noch nicht. Aber bei diesen Kids da? Deren Gehirne tun es.«
Nun verstand Tom die zombieartige Reglosigkeit dieser Jugendlichen: Die Computer befanden sich in ihrem Kopf. Die Simulation, die sie übten, lief in den Computern in ihrem Gehirn ab.
»Dieser Operation haben sich alle Auszubildende unterzogen, Tom. Sie ist ungefährlich.« Marshs Blick heftete sich auf Toms Stirn. »Was ihr Teenager reichlich habt – und wir Erwachsene nicht –, ist neurale Elastizität. Euer Gehirn ist noch anpassungsfähig. Erwachsene und Neuronalprozessoren sind nicht kompatibel miteinander. Wir haben es versucht, aber es ging übel aus. Das Gehirn von Erwachsenen konnte sich der implantierten Hardware nicht mehr anpassen. Deshalb nehmen wir nur Teenager. Aufgrund eurer Jugend ist euer Gehirn für Erweiterungen offen. Tatsache ist, dass sich indo-amerikanische Kampfmaschinen im All nicht steuern lassen, wenn man sich nicht mit ihnen vernetzen kann. Um Kombattant zu werden, muss man eine gewisse Strecke zwischen Mensch und Computer selbst überwinden.«
Tom starrte ihn an. »Also haben alle Rekruten hier – und alle mit Rufzeichen auf den Nachrichtensites – diese Neuronalprozessoren eingepflanzt bekommen? Auch Elliot Ramirez läuft mit einem Computer im Hirn herum?«
»So ist es. Selbst Elliot hat einen.«
»Und was ist mit den russisch-chinesischen Kombattanten?«
»Auch die haben welche. Diese Information ist streng geheim. Die Öffentlichkeit ist darüber nicht informiert, aber die Computer sind der Schlüssel zu allem. So wird der Krieg heute ausgetragen. Kombattanten nutzen Neuronalprozessoren, um sich mit den unbemannten Drohnen im All zu verbinden, sie zu lenken und Krieg gegen die Drohnen zu führen, die von den Neuronalprozessoren der russisch-chinesischen Kombattanten gesteuert werden.«
Tom blickte zwischen dem General und der Sozialarbeiterin hin und her. Er erinnerte sich an den Ausdruck auf Olivias Gesicht ein paar Minuten zuvor, als Marsh davon gesprochen hatte, ihm den Übungsraum zu zeigen, und nun dachte er noch einmal darüber nach. Sie hatte mit seiner Reaktion gerechnet. Sie hatten beide damit gerechnet. Das hier war der Haken. Und sie hatten beschlossen, ihn damit zu überrumpeln.
Er musste an Neil denken und daran, dass er gesagt hatte, Elliot Ramirez sei kein richtiger Mensch. Sein Dad hatte recht gehabt. Elliot war zum Teil ein Computer.
»Verändert es einen?«, fragte Tom.
»Nein«, erwiderte General Marsh.
Olivia räusperte sich.
»Ein wenig schon«, stellte Marsh richtig. »Es sind aber nur kleine Veränderungen. Für Sie nicht wahrnehmbar. Sie sind immer noch Sie selbst, jedenfalls zum größten Teil. Ihr Stirnlappen, Ihr limbisches System, Ihr Ammonshorn bleiben allesamt intakt …« Da Tom verwirrt dreinblickte, führte er weiter aus: »Wir verändern weder Ihre Gedankengänge noch Ihre Emotionen oder Ihre alten Erinnerungen. Wir ändern nichts am Kern dessen, wer Sie sind – das wäre schließlich eine Verletzung der Menschenrechte. Aber sobald wir Ihnen die Hardware im Kopf installiert haben, werden Sie schneller denken können. Sie werden einer der intelligentesten lebenden Menschen auf der ganzen Welt werden.«
»Und, Tom, wenn dir Zweifel kommen, kannst du ablehnen«, fügte Olivia hinzu.
Marsh nickte kurz. »So ist es, mein Junge. Geben Sie mir Bescheid, dann bringen wir Sie zurück zum Dusty Squanto und Ihrem alten Herrn. Sie haben im Flugzeug eine Geheimhaltungsklausel unterzeichnet. Wir nehmen Sie diesbezüglich beim Wort, dass Sie das, was Sie hier gesehen haben, für sich behalten, aber ich glaube, das wird Ihnen auch nicht schwerfallen. Wichtig ist, dass Ihnen, wenn Sie hier einsteigen, klar ist, worauf Sie sich einlassen.«
Tom brachte eine ganze Weile kein Wort heraus. Spontan kamen ihm die Worte seines Dads wieder in den Sinn: »Weißt du, wie das Militär seine Leute behandelt, Tom? Sie schlucken sie und spucken sie anschließend wieder aus. Für die bist du bloß ein Ausrüstungsgegenstand.«
Ausrüstung. Ein Computer war ein Ausrüstungsgegenstand. Er, Tom, würde Teil der Ausrüstung sein.
»Ist das die einzige Möglichkeit hier für mich?«, platzte es aus Tom schließlich heraus.
»Die einzige. Ohne Neuronalprozessor sind Sie nutzlos für uns.«
Marsh hatte gezögert, hatte bis jetzt gewartet, um die Bombe platzen zu lassen. Bis jetzt, nachdem Tom sich gegen seinen Vater gewendet und ihn dazu gedrängt hatte, die Einverständniserklärung zu unterschreiben, nachdem er quer durch das Land geflogen war und seine Hoffnungen so hochgeschraubt hatte, dass sie bis in den Himmel hinaufragten. Das war Manipulation. Um das zu erkennen, benötigte Tom keinen Computer in seinem Kopf. Falls es etwas gab, was er hasste, dann sich wie ein Trottel zu fühlen.
»Vielleicht ist es dann nichts für mich.« Tom beobachtete Marshs Gesicht, während er die Worte aussprach, und genoss die Betroffenheit, die sich auf dem Gesicht des alten Mannes zeigte. Der General hatte geglaubt, ihn am Haken zu haben, hatte geglaubt, er, Tom, hätte das Gefühl, keine Wahl mehr zu haben. Ihn eines Besseren zu belehren, verschaffte ihm eine innere Befriedigung.
»Tja, mein Junge. Das kommt jetzt unvermutet. Das ist, nun …« Marsh schien nach Worten zu ringen.
»Er hat seine Entscheidung getroffen«, sagte Olivia mit triumphierendem Ton in der Stimme. »Bringen Sie ihn nach Hause, Terry.«
Diese Worte jagten Tom einen Heidenschrecken ein. Denn er wollte dieses Leben im Turm des Pentagons. Er wollte es unbedingt. Aber er wollte kein Trottel sein, den man mit einem Trick dorthin gebracht hatte, wo man ihn haben wollte. So etwas würde er sich nie verzeihen. Eher würde er sich die Augen ausstechen, als Marsh damit davonkommen zu lassen, ihn manipuliert zu haben.
Marsh musterte ihn angespannt. Dann sagte er: »Ich sag Ihnen was, Tom. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen ein wenig Zeit gebe, damit Sie in Ruhe darüber nachdenken können?«
Tom hätte am liebsten gelacht. Er hatte geblufft und gewonnen. Er hatte Marsh dazu gezwungen, ein kleines Stück nachzugeben. Die Spannung in seinen Muskeln ließ nach. Er hatte nicht zugelassen, dass der General ihn vollkommen einwickelte. »Gut. Ich werde darüber nachdenken.«
Nun schien sich auch Marsh zu entspannen. Er hielt ihm eine glänzende schwarze Schlüsselkarte entgegen, während er mit seinen wässrigen Augen in Toms Gesicht nach Zeichen suchte, wie ernst es dem Jungen wohl damit war, kein Rekrut zu werden. »Ms Ossare, begleiten Sie Tom doch hinunter in die Kantine. Auf dieser Karte sind ein paar Essenspunkte gespeichert. Essen Sie ein bisschen was, Tom. Es geht auf mich. Wenn Sie sich bereit dazu fühlen, Ihre Entscheidung zu treffen, dann klicken Sie auf den Pager.«
Tom schaute auf die Schlüsselkarte und drehte sie aus reiner Effekthascherei um. »Und wenn ich Nein sage, kann ich gehen?«
»Ja, Raines.« Marshs Stimme klang barsch.
»Er ist gesetzlich dazu verpflichtet, es zu genehmigen«, fügte Olivia hinzu.
Tom blickte zu ihr auf und erwiderte kurz ihr Lächeln. »Schön. Ich hoffe, hier sind eine Menge Punkte drauf. Ich sterbe vor Hunger.«
Marshs irritierter Blick machte alles noch besser.
Tom setzte sich an einen Tisch in der Kantine direkt vor einer Reihe von Bildschirmen im Schlummermodus und einem großen Ölporträt eines Mannes mit einem Orden, der ihn als General George S. Patton auswies. Vor ihm stand ein leeres Tablett auf dem Tisch, doch Tom starrte nur zu dem schroffen Gesicht des Generals hinauf. Ihm war nicht wirklich danach zumute, das Tablett zu nehmen und Essen zu bunkern. Er hatte Kopfschmerzen und wünschte sich, sein Dad wäre bei ihm.
Andererseits, wäre Neil dabei gewesen, als General Marsh vorhin die Nummer – »Ach, das mit dem Computer in Ihrem Kopf habe ich ganz vergessen zu erwähnen.« – abgezogen hatte, wäre er explodiert, hätte ihn womöglich geschlagen. Und das wäre wohl alles andere als hilfreich gewesen.
Tom strich sich mit der Hand durch das Haar. Was war mit ihm los? Diese Sache hier konnte er nicht einfach ablehnen. Und er sollte es nicht persönlich nehmen. Wahrscheinlich ging Marsh nach einem standardmäßigen Rekrutierungsverfahren vor: Nimm die Kids ihren Eltern weg, bring sie zum Turm, bausche ihre Hoffnungen auf und ziehe dann die große Überraschungsnummer mit der Hirnoperation aus dem Hut.
Er hielt die Schlüsselkarte in die Höhe, drehte sie gedankenverloren hin und her und beobachtete, wie sie im Licht glitzerte. Zu erkennen, dass er manipuliert wurde, führte auch nicht dazu, dass er sich besser dabei fühlte.
»Wenn du diese Essenspunkte nicht verwendest, kann ich es dann tun?«
Beim Klang dieser Stimme schreckte er hoch. Tom hob ruckartig den Kopf und hielt den Atem an. »Das war also wirklich kein Avatar.«
»Nö.« Heather Akron war unglaublicherweise noch hübscher als ihr Avatar; Strähnen ihres dunkelblonden Haares hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst, ihre gelbbraunen Augen hatten einen Farbton, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Dieses Mal trug sie die Hose eines Kampfanzugs und eine schwarze Uniformjacke. Auf ihrem Kragen prangte der Weißkopfseeadler, das Abzeichen der Intrasolaren Streitkräfte, und darunter waren vier Dreiecke übereinander angebracht wie die Spitzen von nach oben sausenden Pfeilen. »Du bist auch kein Avatar«, neckte sie ihn.
»Nein«, gab Tom kurz angebunden zurück. Dass sie ihn nun von Nahem sehen konnte, fand er nicht so lustig.
»Darf ich?« Sie wies auf die Schlüsselkarte.
»Sie gehört dem General. Hab keine Hemmungen.«
Augenzwinkernd nahm Heather sie an sich. »Danke. Ich habe meine Essenszuweisung für diese Woche mit lauter Caffè Latte verjubelt. Die schmecken hier zwar scheußlich, aber ich kann manchmal einfach nicht widerstehen.«
»Das brauchst du auch nicht. Widerstehen, ich meine … den Kaffees.« Er geriet ins Stottern, als sie sich noch näher zu ihm vorbeugte, so nahe, dass ihm ihr Atem über die Haut strich.
»Was hältst du davon, wenn General Marsh uns beiden etwas zu trinken ausgibt, Tom?«
»Das ist eine super Idee.« Solange Heather seinen Namen aussprach und dabei so lächelte, würde er auch den Sprung in das Kühlbecken eines Kernreaktors als super Idee bezeichnen.
Heather zwinkerte mit den Augen. »Perfekt!« Schon sauste sie zum Kaffeeautomaten auf der anderen Seite der Kantine.
Er sah zu, wie ihre Hüften schwangen, und sann darüber nach, welche geistreichen Sachen er sagen konnte, wenn sie endlich wieder da sein würde, auch wenn er wusste, dass sie danach verschwinden würde. Hübsche Mädchen hingen nicht mit hässlichen Typen mit übler Akne herum und unterhielten sich auch nicht mit ihnen.
Umso erstaunter war er, als sie sich kurz darauf ihm gegenüber am Tisch niederließ und ihm einen Drink zuschob. Ihre Finger steckten in Handschuhen, die so ähnlich aussahen wie Motorradhandschuhe. Auch auf ihrem Handteller sah er nun das Abzeichen der Intrasolaren Streitkräfte. Wie dieses Abzeichen mit dem weißköpfigen Seeadler aussah, wusste er in- und auswendig. Er hatte es im Internet gesehen, in den Nachrichten – und es war für ihn etwas, das immer in unerreichbarer Ferne gewesen war. Er wusste, dass es verrückt war zu zögern, so wie er es gerade tat.
»Ich weiß, ich sollte kürzertreten damit«, klagte Heather, während sie an ihrem Getränk nippte, »aber ich bin ein dermaßener Kaffeejunkie. Ich stehe einfach total darauf, wie er mich auf Touren bringt.«
»Ja«, stimmte ihr Tom zu, unsicher, was er damit bejahte, und nahm einen übergroßen Schluck dessen, was sie ihm mitgebracht hatte. Die heiße Flüssigkeit versengte ihm die Zunge.
»Und, wie sieht es aus, Tom? Wirst du bald Rekrut?«
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Oh, ich habe gesehen, wie du mit dieser Panzersimulation fertiggeworden bist«, fuhr Heather fort. »Bestimmt wirst du nicht lange Rekrut bleiben. Zweimal im Jahr gibt es Beförderungen, und ich wette, dass du schnell in den Mittleren Dienst aufsteigen wirst. Danach kommt der Gehobene Dienst und dann, wenn du dich mit den richtigen Leuten vernetzt und einen Firmensponsor findest, trittst du der Kombattantengruppe bei – der Camelot Company. CamCo nennen wir sie hier.«
Tom richtete sich auf. »Wir?«
»Ja. Ich bin Mitglied der Camelot Company.«
Er starrte sie an. Wahrscheinlich hatte er sie auch schon im Einsatz gesehen, vielleicht Clips mit ihr im Internet angeschaut. »Wie lautet dein Rufzeichen? Habe ich von dir gehört?«
»Tja, ich bin noch nicht so lange Kombattantin, aber vielleicht hast du das ja. Ich firmiere unter Enigma.«
Enigma. Er hatte wirklich von ihr gehört! Sie wurde von Wyndham Harks gesponsert, und Tom erinnerte sich an eine Sache auf dem Jupitermond Io … oh, und das auf dem Saturnmond Titan, als … Ihm schossen ein halbes Dutzend Kämpfe durch den Kopf, die im vergangenen Monat geführt worden waren. »Ich kann es nicht glauben. Du bist eine der Besten. Ich weiß noch, wie ihr auf Titan gekämpft habt, als du …«
Heather lachte und packte seine Hand, um ihn zum Schweigen zu bewegen. Der körperliche Kontakt war ein ziemlicher Schock für Tom, weil es anders als in der VR war.
»Tom, das ist total süß von dir, so etwas zu sagen, aber hier geht es jetzt nicht um mich. Es geht um dich. Es geht darum, zu welcher Entscheidung du heute kommen wirst.«
»Richtig. Richtig.« Seine Aufmerksamkeit war ganz davon in Anspruch genommen, wie sie mit dem Daumen über seine Knöchel fuhr.
»Ich denke, ich weiß, warum Du zögerst. Du hast noch nicht unterzeichnet, weil dich diese Sache hier umgehauen hat, nicht wahr?« Sie tippte sich an die Stirn, auf den implantierten Prozessor deutend.
»Umgehauen würde ich nicht sagen. Mich hat es nicht umgehauen.«
Ihre Stimme wurde sanfter, während ihre Berührung nach wie vor einen Schauer bei ihm verursachte. »Bist du sicher? Mir kannst du es ruhig sagen. Ich kann dir alle Fragen beantworten.«
Plötzlich wusste Tom, warum sie zufällig hier war. Ausgerechnet sie, von allen Menschen im Turm des Pentagons. Er wusste es.
Er zog die Hand zurück und ergriff seine Tasse. Sahneklümpchen schmolzen in der hellbraunen Flüssigkeit. Er erkannte nun, dass Marsh auch hier seine Hand im Spiel hatte. Der Alte hatte Heather hierhergeschickt. Ein hinreißendes Mädchen, das Tom dazu überreden sollte, sich den Schädel aufschlitzen zu lassen. Das hier war erneut Marshs Werk. Er wollte ihn für dumm verkaufen.
»Ich weiß, was du gerade denkst.« Heather legte eine Pause ein und biss sich auf die Lippe. Unwillkürlich stierte Tom auf die rosafarbene Haut und bekam plötzlich einen trockenen Mund. »Ich habe mir deswegen auch Sorgen gemacht. Ich dachte, dass, wenn ich mir den Neuronalprozessor einsetzen lasse, danach die Stimme in meinem Gehirn verschwinden und von irgend so einem Roboter ersetzt werden könnte, so in der Art von: ›Guten Morgen, Dave‹ im Film 2001: Odyssee im Weltraum.«
Sie war hinreißend und dazu auch noch ein Science-Fiction-Freak. Sie war eine lebende Fantasiegestalt.
»Aber so ist das nicht, Tom. Ich bin immer noch ich. Ich bin bloß ein besseres Ich.«
»Hör zu«, sagte Tom zu ihr, bevor sie weitere Sprüche abspulen konnte, »es ist nicht der Computer selbst, mit dem ich ein Problem habe. Ich mache mir noch nicht einmal allzu viele Sorgen darüber, ein anderer Mensch zu werden. Es ist bloß … Marsh hat mir diese Sache mit der Gehirn-OP erst erzählt, als er sich ziemlich sicher war, dass ich mitmachen werde. Es ist die Art, wie er mich überzeugen wollte.«
Der Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen blieb auf ihn geheftet. »Du hast das Gefühl, manipuliert zu werden?«
»Ich habe das Gefühl, als ob er versucht, mich zu manipulieren. Ich meine, würdest du jetzt mit mir sprechen, wenn er dich nicht geschickt hätte?«
»Natürlich versucht er, dich zu manipulieren, Tom.«
Tom blinzelte, überrascht darüber, dass sie es soeben zugegeben hatte.
»General Marsh hat mir sogar befohlen, dich dazu zu überreden, genau wie du es vermutet hast. Kannst du es ihm übel nehmen? Er will nicht, dass du das hier ablehnst, nachdem du das große Geheimnis der Neuronalprozessoren erfahren hast.« Nachdenklich tippte sie sich mit dem Finger auf die Lippen und musterte ihn dabei. »Gut, dass du nicht ablehnen wirst.«
»Werde ich nicht?«, sagte Tom, der sich allmählich mit ihr überfordert fühlte.
»Hm, nein. Wirst du nicht«, stellte Heather sachlich fest. »Wenn du hierherkommst, weißt du genau, was es bedeutet. Die stecken dir einen multimillionendollarschweren Computer in den Kopf. Sie investieren weitere Zigmillionen in deine Ausbildung. Dann überlassen sie dir die Kontrolle über Milliarden Dollar teure Militärausrüstung und übertragen dir eine entscheidende Rolle bei den Kriegsanstrengungen des Landes. Du bist wertvoll. Also ja, das Militär hat eine Agenda, wenn es darum geht, mit dir zu verhandeln. Und General Marsh auch. Aber genau damit musst du dich abfinden, wenn du einer von uns werden willst. Die Frage ist, Tom, willst du einer von uns werden?« Sie beugte sich dichter zu ihm vor. »Möchtest du jemand Bedeutendes werden?«
Und das war es.
Das war es.
Tom lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und prostete Heather zu – in Wirklichkeit aber, um den Hut vor dem Mann zu ziehen, der zwar nicht anwesend war, dieses Spiel jedoch soeben gewonnen hatte. Gut gespielt, General Marsh. Gut gespielt.
Denn mehr als alles andere wollte Tom etwas tun. Etwas anderes tun, als von Kasino zu Kasino zu ziehen, etwas anderes werden als nur seinem Dad immer ähnlicher.
Er würde alles dafür tun, um jemand Bedeutendes zu werden.