FÜNF

Die Patton-Kantine war bereits proppenvoll. Auf den rechteckigen Tischen standen Tabletts vor jedem Platz. Die Auszubildenden bildeten eine wogende Masse aus Schwarz und Tarnfarbe. Tom ließ seinen Blick über die Menge schweifen und identifizierte dabei die unterschiedlichen Divisionsabzeichen auf den Ärmeln: ein Federkiel bei den Machiavellis, eine Axt bei den Dschingissen, ein Schwert bei den Alexanders, eine Muskete bei den Napoleons und ein Katapult bei den Hannibals.

Vik stieß ihn mit dem Ellbogen an und bedeutete ihm mit einer Bewegung seines Kopfes, ihm zu folgen. Sie gingen auf einen Tisch zu, den Toms Neuronalprozessor als den der weiblichen Mitglieder der Hannibal Division identifizierte. Die Mädchen saßen alle an einem Ende des Tisches und unterhielten sich miteinander. Keines schenkte dabei einem schlaksigen Mädchen mit glanzlosem dunkelblondem Haar Beachtung, das mit hochgezogenen Schultern allein am anderen Ende saß und verstohlen zwischen den Mädchen und ihrem Tablett hin und her schaute.

»Hey, Enslow!«, rief Vik.

Das Mädchen schaute auf, die Augenbrauen in ihrem ernsten ovalen Gesicht dicht zusammengezogen. Toms Gehirn identifizierte sie als

Name: Wyatt Enslow

Einheit: US-Intrasolare Streitkräfte, Rekrut, Hannibal Division

Herkunft: Darien, Connecticut

Besondere Leistungen: Mathlete des Jahres, Riven Middle School; zweimaliger Jahressieger beim Scholar Mathlete Award; Goldmedaille bei der Internationalen Mathematikolympiade; erster Platz beim James-Lowell-Putnam-Wettbewerb

IP: 2053:db7:lj71::335:ll3:6e8

Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-3

»Hilfst du immer noch bei Profilen weiter?«, fragte Vik sie.

Wyatt presste die Lippen zusammen. »Brüll ruhig noch lauter, Vik. Bestimmt hat Lieutenant Blackburn dich auf der Offiziersetage nicht richtig gehört. Und nein, das tue ich nicht mehr. Letztes Mal hätten sie mich fast erwischt.«

»Komm schon, Enslow«, drängte Vik. »Hilf Tom. Yuri möchte, dass du es tust.«

»Und warum bittet Yuri mich dann nicht selbst?«

»Der schleppt sich gerade mit Beamer ab.«

»Was wollt ihr denn verändert haben?« Ihr Blick ruhte auf Tom. »Ach das

»Ja, das«, sagte Vik. »Jemand hat vergessen, Toms gewaltige Zahl besonderer Leistungen einzuprogrammieren.«

Tom warf ihm einen schnellen Blick zu und unterdrückte dabei ein Kichern. Na sicher doch, seine vielen großartigen Leistungen. Er spielte jede Menge Videogames und hatte sogar mal zwei Pizzen in nur fünf Stunden verputzt.

»Tom hier ist es peinlich, dass er so ungebildet daherkommt«, sagte Vik und stach mit dem Daumen in Toms Richtung.

»Das muss auch peinlich sein«, sagte Wyatt ernst. »Man könnte annehmen, dass du nichts geleistet hast, um dir deinen Platz hier zu verdienen. Na gut, wenn Yuri sich das von mir wünscht, werde ich das ändern, aber wenn Blackburn dahinterkommt, darfst du mich nicht verraten. Das musst du mir schwören!«

»Ich schwöre dir, dass ich dich nicht verraten werde«, gelobte Tom.

Sie biss sich auf die Lippe und zog sich dann mit einem Ruck den Ärmel hoch, um an die tragbare Tastatur, die sie sich um den rechten Unterarm geschnallt hatte, zu gelangen. »Was soll ich denn für dich eingeben?«

Vik schaute Tom mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und?«

Tom war sich nicht sicher, welche besonderen Leistungen er sich ausdenken sollte. »Rasenbowlingmeister?«, schlug er versuchshalber vor.

Wyatt sah ihn finster an. »Rasenbowling?«

»Aber ja doch«, stimmte Vik ihm zu. »Gäbe es eine Rasenbowlingolympiade, hätte Tom garantiert die Goldmedaille gewonnen. Außerdem ist er Landesmeister im Buchstabierwettbewerb.«

Wyatt nickte knapp, da sie dies offenbar als respektable Leistung betrachtete. »Viele Leute können nicht buchstabieren. Das ist ganz schön traurig.«

In der Hoffnung, sie damit zu schockieren, fügte Tom hinzu: »Außerdem habe ich maßgeblich beigetragen zum weltgrößten Ball aus …«

»Bindfaden?«, schlug Vik vor.

»Nicht doch, Vikram«, sagte Tom. »Ohrenschmalz.«

Wyatt ließ ihre Tastatur ein wenig sinken. »Denkst du dir das gerade aus?«

»Natürlich nicht«, sagte Vik.

»Das mit dem Buchstabierwettbewerb werde ich eingeben, aber ich verpasse deinem Profil keine Ohrenschmalzkugel. Und auch kein Rasenbowling. Ich weiß nicht einmal, was das ist.«

»Nicht jeder kann ein Mathegenie sein. Mach dich nicht über Toms besondere Leistungen lustig«, sagte Vik.

»Ja, nett ist das nicht«, grummelte Tom.

»Schön, dann gebe ich Rasenbowling ein, okay?« Energisch hämmerte Wyatt auf ihrer Tastatur herum.

Während ihre Finger über die Tasten tänzelten, starrte Tom ihre linke Hand an. Ihre Handteller waren sehr breit und ihre Finger lang. Die Hand wirkte zu groß für ihren Körper.

»So«, verkündete Wyatt.

»Schon fertig?«, fragte Tom überrascht.

»Ja, alles erledigt.« Sie starrte ihn ausdruckslos an, so als wäre ihm etwas ganz Offensichtliches entgangen. »Und sagt Yuri, dass ich so etwas jetzt zum letzten Mal getan habe. Lieutenant Blackburn sucht immer noch denjenigen, der bei der letzten Beförderungsrunde die Personaldatenbank gehackt hat. Der bringt mich um.«

»Enslow, er wird dich schon nicht umbringen«, beruhigte Vik sie. »Er wird dich bloß bei General Marsh anschwärzen.«

Wyatts Augen weiteten sich.

»Danke«, sagte Tom hastig.

»Bedankt euch nicht bei mir«, sagte Wyatt ernst und verschränkte die Arme vor der Brust. »Geht einfach weg und sprecht mich nicht mehr an.«

Seltsamerweise klang es aus ihrem Mund gar nicht gehässig. Es klang eher so, als könne sie sich nicht vorstellen, dass es unhöflich war. Tom und Vik gingen weg und sprachen sie nicht mehr an.

»Die ist ja vielleicht freundlich«, sagte Tom zu Vik, während sie sich durch die Menschenmenge schlängelten.

»Das ist bloß Enslow. Männername, Hände so groß wie Bratpfannen, aber keinen echten Sinn für Humor. Außerdem ist sie total unfähig, mit anderen Leuten auf einem normalen menschlichen Level zu kommunizieren. Es gibt einen Grund dafür, dass Yuri der Einzige im Turm ist, der freiwillig in seiner Freizeit etwas mit ihr unternehmen will – ich glaube, sie tut ihm leid. Aber dieses Hacken, dem wir da gerade zusehen durften? Sie braucht nur dreißig Sekunden für etwas, wofür andere Stunden benötigen würden, so gut ist sie.«

Sie gelangten zu dem Tisch, an dem die männlichen Mitglieder der Alexander Division saßen. Beamer hielt sich kerzengerade auf seinem Stuhl, und Yuris Kopf ragte wie ein Turm aus der Menge heraus. Als er Tom sah, winkte er ihm freundlich zu. Dabei blitzten seine geraden Zähne so makellos weiß, und sein dunkelblondes Haar wellte sich so ordentlich über seinen hübschen, symmetrischen Gesichtszügen, dass er einen Moment tatsächlich aussah wie ein Android.

»Yuri, wir haben Wyatt Enslow dazu gebracht, etwas für uns zu tun, indem wir behauptet haben, du hättest uns geschickt«, informierte Vik ihn. »Ich glaube, jetzt ist sie sauer auf dich. Du solltest zu ihr gehen und dich entschuldigen.«

Yuri schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus. »Sehr nett bist du nicht zu Wanda, Viktor.«

»Ich habe kein Problem mit Bratpfannenhand«, protestierte Vik. »Sie hätte es nicht getan, wenn ich sie darum gebeten hätte. Und willst du wirklich, dass der arme Tom hier sich die ganze Zeit schämt und sich ungebildet vorkommt?« Er deutete auf Tom.

»Ich habe mich nicht geschämt«, protestierte Tom. Er war bloß ungebildet.

Yuri schaute sich Toms Profil an. »Aha, Sieger im Buchstabierwettbewerb. Das ist beeindruckend.«

»Ja, ich buchstabiere beim Rasenbowling«, sagte Tom. »Du weißt schon. So Worte wie ›Rasen‹. Und ›Bowling‹.«

Er wollte sich auf einen Stuhl fallen lassen, doch Vik bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dies zu unterlassen. »Noch nicht hinsetzen. Wir müssen strammstehen, bis Major Cromwell den Befehl gibt, dass wir uns rühren dürfen. Ist eine Tortur, aber sie ist auch nur beim Frühstück üblich und bei offiziellen Dinnern.«

In Toms Gehirn ertönte ein Ping: Der Morgenappell hat begonnen.

Stille breitete sich im Raum aus, und sämtliche Auszubildende richteten sich auf und nahmen Haltung an. Eine Gruppe von Auszubildenden kam in den Raum marschiert, entfaltete eine US-Flagge und zog sie für den Tag auf. Dann postierten sie sich in zwei Reihen an der Tür.

Tom sah sich um, um sich zu vergewissern, ob er die richtige Haltung eingenommen hatte. Der Computer in seinem Gehirn wies ihn an, die Schultern zu entspannen, die Brust herauszudrücken, den Bauch einzuziehen, die Hände an den Seiten zu belassen und darauf zu achten, dass sein Körper perfekt ausgerichtet war.

Eine Frau mit einer Figur wie ein Windhund, müdem Blick und bekleidet mit einem zu großen Tarnanzug schob sich durch die Tür. Dort blieb sie stehen und schaute sie reihum an; tiefe Falten durchfurchten ihr unbewegtes Gesicht; ihr goldbraunes Haar war durchsetzt mit grauen Strähnen, und ihre Mundwinkel wirkten hart und waren nach unten gezogen. Toms Neuronalprozessor gab zu ihr preis:

Name: Isabel Cromwell

Dienstgrad: Major

Einheit: US-Marine Corps 0-4, aktiver Dienst

Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-8

»Rühren«, sagte sie barsch.

Alle um Tom herum entspannten sich. Nachdem Major Cromwell ihren einsamen Platz am Offizierstisch in der Ecke eingenommen hatte, sanken die Auszubildenden wie eine riesige schwarze Welle auf ihren Plätzen nieder.

Auch Tom ließ sich auf seinen Platz fallen. Um ihn herum hoben die Leute die Metallabdeckungen von den Tabletts und deckten das übliche Frühstück – Eier, Toast, Schinkenspeck und Orangensaft – auf. Tom folgte ihrem Beispiel, musste jedoch feststellen, dass auf seinem Teller lediglich zwei Schokoriegel lagen.

Vik bemerkte seinen verwirrten Ausdruck »Ach ja. Die musst du jetzt futtern.«

»Snickers? Als Frühstück?«

»Ja, Tom, das sind Mahlzeitenersatzriegel. Von denen musst du ein Weilchen so um die zehn Stück am Tag essen. Wenn man gerade einen Neuronalprozessor implantiert bekommen hat, drehen die Hormone bei einem durch. Dein HGH schießt in die Höhe.«

Toms Neuronalprozessor definierte den Begriff sofort. »Human Growth Hormone – menschliches Wachstumshormon?«

»Ja. Danach kommt ein größerer Wachstumsschub. Das hört dann von allein wieder auf, wenn dein natürlicher Wachstumskreislauf abgeschlossen ist. Sie geben dir die Nährstoffriegel, um diesen Prozess zu unterstützen.«

»Aber das hier ist doch ein Schokoriegel. Wie soll der denn helfen?«

»Das ist das, was du darin siehst.« Vik nahm einen kräftigen Schluck Orangensaft. »Dein Neuronalprozessor ist so konfiguriert, dass er dich mit Sinneseindrücken von Essen speist, das du magst. Das hier sieht aus wie ein Schokoriegel, ist aber in Wirklichkeit ein energiereicher Nährstoffriegel. Wenn du die Nährstoffriegel anschaust und sie so siehst, wie sie wirklich aussehen, dann weißt du, dass dein Wachstumsschub vorbei ist.«

»Wie sehen die Dinger hier denn in Wirklichkeit aus?«

»Sie sehen aus wie energiereiche Nährstoffriegel. Genaueres willst du gar nicht wissen. Vertrau mir.«

Tom packte das erste Snickers aus und verschlang es. Es schmeckte wie ein normaler Schokoriegel. Wie seltsam zu wissen, dass ihm sein Gehirn gerade einen Streich spielte. Sein Blick fiel auf das echte Essen der anderen. Die Würstchen sahen so köstlich aus, dass er sie beinahe schmecken konnte. Als er nach dem zweiten Snickers griff, stellte er erschreckt fest, dass dieser Nährstoffriegel nun wie ein fettiges Würstchen aussah. Tom biss hinein, woraufhin sich schlagartig der Geschmack von Würstchen auf seinem Gaumen ausbreitete. Fasziniert verwandelte er das Bild vor seinem inneren Auge in das einer Banane, obwohl er Bananen überhaupt nicht mochte, und als er dann hinunterschaute, war aus dem Nährstoffriegel eine Banane geworden.

»Krass«, murmelte Tom.

Er hob sich einen Bissen von Banane beziehungsweise Mahlzeitenersatzriegel beziehungsweise Snickers auf, um ihn auf dem Weg zu Fitnessübungen genauer zu betrachten. Er verwandelte ihn in einen Knödel, in Spaghetti und in Escargot, dieses französische Schneckengericht. Er konnte nicht fassen, dass sich sein Gehirn so leicht manipulieren ließ, dass er etwas anschauen und darin etwas anderes sehen konnte, nur weil ihm der Computer in seinem Kopf vorgab, es sähe so aus.

»Bei Fitnessübungen geht es ziemlich unkompliziert zu«, unterrichtete ihn Vik auf dem Weg dorthin. »Du trainierst. Du wirst in Form gebracht. Die ersten Male sind ziemlich heftig, aber du wirst dich daran gewöhnen.«

»Oh, super«, heuchelte Tom. Er stopfte sich den letzten Rest des Nährstoffriegels in den Mund – und bereute augenblicklich, ihn aus dem Schneckengericht nicht in etwas anderes verwandelt zu haben. Er schluckte ihn hinunter und brachte dann hervor: »Ich muss zugeben, dass ich es nicht so besonders mit Sport habe, okay? Und ich habe gerade erst zwei Wochen im Bett verbracht, während mein Gehirn neu vernetzt wurde. Was passiert, wenn ich zurückfalle?«

»Das Adrenalin wird dafür sorgen, dass du durchhältst, glaub mir.«

Tom folgte ihm in einen ausgedehnten Raum, in dem die anderen Rekruten der unterschiedlichen Divisionen warteten. Als er einen Blick auf das Schild über ihnen warf, das den Raum als Stonewall-Calisthenics-Arena auswies, entfaltete sich vor seinem inneren Auge eine Blaupause dieser Räumlichkeiten. Sie informierte ihn darüber, dass die riesige Halle die Innenräume des ersten, zweiten und dritten Stockwerks füllte. Sein Blick schweifte über die unterschiedlichen Hürden, die sie würden überwinden müssen. Gräben, über die man springen musste, Leitern und Felswände, die man erklimmen musste, Sprunggruben, Wassergräben, lang gezogene Abschnitte guter, alter Laufbahnen mit Kunstrasen. Die Laufbahnen wanden sich und verschwanden um die Biegung des Turmes aus seiner Sicht. Stufen schlängelten sich hinauf zu offenen Podesten, auf denen sich weitere Hindernisse befanden.

Und dann verwandelte sich die Landschaft um ihn herum. Auf einmal waren sie nicht mehr in der Halle, sondern standen auf einem riesigen, grünen, hügeligen Feld.

Tom blinzelte mehrmals mit den Augen. Das Feld war nach wie vor da, überdeutlich und klar wie der helle Tag. »Was ist da gerade passiert?«

»Du hast jetzt einen Neuronalprozessor«, erwiderte Vik »Verstehst du? Der Computer übernimmt die direkte Steuerung der Signale aus deinem Sehnerv.«

Nun begriff Tom: Sein Gehirn wurde mit einem falschen Bild gespeist, so wie bei dem Bild der Nährstoffriegel beim Frühstück.

»Also ist … nichts hiervon real«, sagte Tom, während er versuchshalber mit dem Absatz seines Stiefels über das Gras strich. Es war unglaublich – er roch das Gras sogar!

»Und was die Wettkampfarena angeht, die du gerade gesehen hast – sie ist echt. Dieses Bild eines Felds hat bloß der Prozessor erzeugt und hält deine Augen zum Narren. Die Geräusche, die du hörst, der Wind, den du spürst? Alles Fake«, sagte Vik. »Im Grunde genommen ist das ein Versuch, Sport zu einer Art erzieherischer Tätigkeit zu machen. Die meisten Übungsszenarien basieren auf Schlachten, die tatsächlich stattgefunden haben. Man lernt etwas über Militärgeschichte, ohne dass sie sie dir tatsächlich beibringen müssen.«

Eine kühle Brise streifte über Toms Haut und fuhr ihm durch das Haar – und sie fühlte sich total echt an. Unter seinen Stiefeln gab das Gras ein quatschendes Geräusch von sich, und die milchig weiße Morgensonne brannte ihm in den Augen. Tom konnte den beißenden Rauch, der in dunklen Schwaden vom fernen Horizont herbeigeweht wurde, riechen. Er konnte sogar Stimmengemurmel von irgendwo jenseits des Feldes hören und spüren, wie der Boden unter dem Getrampel Tausender Schritte vibrierte.

Er guckte angestrengt, um die echte Arena durch das Trugbild hindurch zu erkennen, doch er war dazu nicht in der Lage. »Wenn wir die richtige Welt nicht sehen können, wie können wir dann verhindern, dass wir irgendwo gegenknallen?«

»Das Trugbild passt sich der tatsächlichen Arena an«, erklärte Vik. »Ein Fluss ist an der Stelle des Pools. Felsbrocken liegen an der Stelle niedriger Wände, Klippen nehmen die Position der Kletterwände ein, so in diese Richtung. Übrigens solltest du jetzt Dehnübungen machen und dann joggen, so lange du kannst. Bei Fitnessübungen geht es immer mit einer Herz-Kreislauf-Einheit los.«

Tom sah sich nach dem Rest der Rekruten um, die sich nun in alle Richtungen überall auf dem Schlachtfeld verteilten. Sie dehnten sich alle und schauten sich angespannt über die Schulter. Tom wandte sich der Hügellandschaft zu und fragte sich, worauf sie wohl warteten.

»Was kommt als Nächstes?«, fragte er Vik.

»Ein Anreiz, einen Sprint hinzulegen.«

Tom dehnte sich, während der Wind ihm ins Gesicht blies und sein Herzschlag sich erhöhte. Das ferne Grollen von Stimmen wurde lauter. Er sah, dass die Rekruten abrupt mit ihren Dehnübungen aufhörten und zu laufen begannen.

Schreie erfüllten die Luft. Tom schaute sich in Richtung des Hangs um, und ihm stockte der Atem, als er den Anreiz für einen Sprint erblickte. Tausende Männer in Schottenröcken ergossen sich über den Hang, während sie einen grimmigen Schlachtruf ausstießen und Schwerter in ihren Fäusten aufblitzten.

Wie cool ist das denn, dachte Tom verblüfft.

Dann schwirrte ein Speer an seinem Kopf vorbei, und sein Überlebensinstinkt meldete sich. Schlagartig wurde ihm klar, dass er unbewaffnet einer wütenden Horde mittelalterlicher Schotten gegenüberstand. Er fing an zu laufen, während ihm die Schreie in den Ohren dröhnten. Erneut schwirrte ein Speer an ihm vorbei und sauste mit einem satten, dumpfen Geräusch in das Gras. Mit hämmerndem Herzen wich Tom ihm aus und machte sich noch einmal klar, dass das hier nicht real war. Er war nicht in Gefahr. Das hier war eine Sinnestäuschung.

Als er einen schrillen Schrei vernahm, vergaß er es wieder. Gerade als Tom sich umdrehte, sah er, dass Beamer zurückgefallen und den schottischen Kriegern in die Hände gefallen war. Einer der Schotten stieß ihm sein Schwert in den Bauch.

»Aaah!«, schrie Beamer, während er sich auf dem Boden wälzte. »Dieser Schmerz. Dieser furchtbare Schmerz!«

»O Gott, nein, Beamer!«, rief Vik gequält. Er packte Tom am Kragen. »Um Gottes willen, lauf schneller. Lauf schneller, oder dir blüht das gleiche Schicksal!«

Toms lässige Zuversicht, das hier sei gar nicht gefährlich, verflüchtigte sich augenblicklich, und Angst erfasste ihn. Vik war in Panik geraten, Beamer hatte geschrien, als würde er wirklich umgebracht werden. Stimmte mit der Simulation etwas nicht? Das hier war doch wohl keine echte Schlacht, in der Menschen getötet wurden, oder?

Er war völlig außer Atem, als er vor einer massiven Felswand zum Stehen kam. In diesem Augenblick verwandelte sich die Landschaft um ihn, und nun sah er Beamer wieder, der unten an der Felswand stand und sich vor Lachen krümmte.

»Hast du das Gesicht des Neuen gesehen?«, krähte Beamer.

Brüllend vor Lachen schlug Vik Tom auf die Schulter. »Armer Tom. Hast wirklich geglaubt, er würde ausgeweidet, hä? Nee, Beamer hat sich bloß aus der Trainingseinheit ausgeklinkt und sich von ihnen töten lassen. Ist eben ein fauler Sack.«

Beamer nickte stolz.

Yuri hatte die Leitern Leitern sein gelassen und sich dazu entschieden, die Felswand eigenhändig zu erklimmen. Er befand sich bereits auf halbem Weg nach oben, legte nun jedoch eine Pause ein, schaute zu den anderen hinab und schüttelte den Kopf. »Das war kein netter Streich, den ihr Tim da gespielt habt.«

Nun begriff Tom es: In Wirklichkeit war das Schlachtfeld lediglich eine Sinnestäuschung. Bei einer Sinnestäuschung konnte man nicht wirklich etwas empfinden. Beamer hatte seinen qualvollen Tod nur vorgetäuscht, und Vik hatte mitgespielt.

»Du bist echt ein Witzbold«, sagte Tom zu ihm.

Vik kletterte an der Wand hoch. »Das ist jetzt die zweite Phase, Intervalltraining. Wirst du wieder draufgehen, Beamer?«

»Auf keinen Fall klettere ich das Ding da hoch«, murrte Beamer, während er die hoch aufragende Felswand begutachtete.

»Dann sehen wir uns im nächsten Leben – oder besser gesagt beim Krafttraining. Komm, Tom.«

Tom folgte Vik die Leitern hinauf und ließ Beamer mit den wütenden Schotten zurück. In der richtigen Welt war das wahrscheinlich eine der Kletterwände, die er gesehen hatte. In der Simulation ähnelte sie der Mauer einer Burg. Tom kletterte die Sprossen der Leiter hinauf und trainierte dadurch eine andere Muskelpartie. Er stellte fest, dass er sich Sprosse für Sprosse auf mittelalterliche englische Soldaten zubewegte, die sie alle als »niederträchtige, barbarische Eindringlinge« verfluchten.

Als sie den First der Mauer erreicht hatten, präsentierte sich ihnen eine weitere Mauer. Hinter sich vernahm Tom Schlachtrufe. Als er sich umschaute, sah er, dass die gewaltige Armee wütender Schotten ebenfalls die Mauern erklomm und nach wie vor Jagd auf sie machte. Beamer wurde erneut aufgespießt, beziehungsweise ließ sich ein zweites Mal aufspießen. Dieses Mal starb er nicht theatralisch qualvoll, sondern fiel zu Boden und winkte träge zu Tom und Vik hinauf.

Sie wurden Leitern hinauf- und hinabgejagt, bis Tom nach Atem rang – die Schotten setzten ihnen immer noch unerbittlich nach. Dann stieß Tom in einer von allen Seiten ummauerten Rüstkammer auf den Rest der Rekruten. Er folgte ihnen, riss ein Schwert von der Wand und hätte es fast sofort wieder fallen lassen. Es war unerwartet schwer.

»Wie kann man denn damit kämpfen?«, fragte Tom Vik, während er die Waffe mit beiden Händen anhob.

»Man kämpft nicht wirklich damit. Man hebt es. Darum geht es in Phase drei: Krafttraining.«

Schreie durchdrangen die Luft. Tom wappnete sich vor dem, was als Nächstes passieren würde.

Japanische Rônin stürmten in den Raum.

Tom fing an zu lachen. Es ergab keinerlei Sinn, dass japanische Rônin in eine mittelalterliche englische Burg eindrangen, die von Schotten belagert wurde – aber es war schon toll. Er stürzte sich mit dem schweren Schwert in den Kampf. Dabei ignorierte er die Tatsache, dass die Bewegungen, mit denen er die Hiebe der Rônin abwehrte, immer mehr dem Stemmen von Gewichten in einem Kraftraum ähnelte – die Illusion des Kampfes machte die Sache nur viel schmackhafter. Er sah, dass Vik einem Schwerthieb auswich, und erspähte Beamer, der in der Ecke gerade zum dritten Mal durchbohrt wurde. Yuri machte einen Satz nach vorn, um Beamer zu rächen, und stürzte sich heldenhaft, in jeder Hand ein Schwert schwingend, in den Kampf mit zwei Rônin auf einmal. Dann trat er furchtlos zwischen Wyatt und einen Rônin, der diese gerade bedrängte, und nahm es nun mit drei Rônin gleichzeitig auf.

»Yuri, hör mit der Prahlerei auf!«, blaffte Wyatt ihn an, schob ihn beiseite und nahm es wieder selbst mit dem Rônin auf.

Schließlich verblassten die Rônin, und auch die nasskalten Burgmauern lösten sich auf. Tom stand nun mitten in der Arena und rang verzweifelt nach Luft, ein schweres Eisengewicht mit der Hand umklammernd. Yuri hielt je ein Gewicht in beiden Händen und setzte diese nun klimpernd auf dem Boden ab. Er erweckte nicht den Eindruck, überhaupt ins Schwitzen geraten zu sein.

Vik, dem die Uniformjacke am Körper klebte, wandte sich Tom zu. »Und, was hältst du davon?«

Atemlos brachte Tom hervor: »Besser als … Runden … laufen.«

Im Umkleideraum fing Tom vor Erschöpfung am ganzen Körper zu zittern an, während er unter dem heißen Strahl der Dusche stand und um ihn herum Dampf aufstieg. Die Bilder von wütenden Schotten, angreifenden Rônin und tobenden englischen Soldaten machten ihn schwindelig. Er musste sich klarmachen, dass dies kein Traum und keine Halluzination, sondern jetzt seine Realität war. Er strich sich mit den Händen über das stoppelige Haar und über das Gesicht …

Tom erstarrte – seine Haut war ganz glatt.

Er tastete mit dem Finger über die Wangenknochen, die Stirn, das Kinn. Keine einzige Unebenheit. Es fühlte sich so an, als ob …

Er riss sein Handtuch von der Duschvorhangstange herunter, schlang es sich um den Körper und hastete zu den Spiegeln außerhalb der Duschkabinen. Mit dem Handteller wischte er über den beschlagenen Spiegel und sah zum ersten Mal, seit er zehn Jahre alt gewesen war, sein Gesicht an, ohne darin von Akne entstellte Haut zu erblicken.

Während Tom sein Gesicht anstarrte, überflutete ihn ein seltsames Gefühl. Das hier war er. Dieser Typ war gar nicht mal so hässlich. Na schön, er sah nicht gerade wie Elliot Ramirez aus, aber dieser Kerl hier konnte in eine Highschool marschieren, in eine echte Schule in einem richtigen Gebäude, ohne dass die Leute mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn auslachen würden.

Tom hatte sich schon damit abgefunden, dass er immer ein hässlicher Junge bleiben würde. Er wusste, dass sein Gesicht, selbst wenn die Akne zurückging, so vernarbt sein würde, dass es kaum einen Unterschied machte. Aber jetzt sah er wie ein ganz normaler Typ aus. Ein normaler Teenager, umgeben von anderen normalen Teenagern, mit Möglichkeiten und einer Zukunft. Er besaß sogar ein Profil, das ihn als Landesmeister im Buchstabierwettbewerb ausgab, nicht als obdachlosen Verlierertypen, der es nicht einmal auf einer Sonderschule schaffte. Sein Gehirn schmerzte, aber auf eine angenehme Art. Er war von dem Gefühl erfüllt, zum ersten Mal in seinem Leben ein richtiger Mensch zu sein.

»Spieglein, Spieglein, an der Wand«, unkte Vik, der plötzlich hinter Tom auftauchte.

Tom trat zurück.

»Was geht ab, Mann?« Der Blick von Viks dunklen Augen wanderte zum Spiegel. »Du starrst dich jetzt seit ungefähr zwanzig Sekunden an. Also, wenn du aussähst wie ich, dann könnte ich verstehen, dass du angesichts deiner Schönheit in Ehrfurcht erstarren würdest.«

»Ich habe über etwas nachgedacht. Mir war nicht klar, dass sie bei der Operation Veränderungen an einem vornehmen. Körperlich, meine ich.«

»Ach so, du meinst, dass man keinen Bartwuchs mehr hat?« Vik rieb sich über sein glattes Kinn.

Tom nickte, als wäre es das gewesen, was er meinte.

»Ja, das geht einem auf die Nerven, aber der Prozessor stellt alles ein, was er für unwesentlich erachtet, zum Beispiel den Haarwuchs in deinem Gesicht, wenn du dich für das Militär ja doch glatt rasieren musst. Ich hatte da so eine fantastische Narbe über der Augenbraue, die nach meiner OP total verheilt ist. Echt zu blöde. Ich habe damit voll tough ausgesehen.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Doch, echt jetzt, ich hatte wirklich eine Narbe.« Vik deutete auf seine Braue.

»Ja, das glaube ich dir. Ich kann mir bloß nicht vorstellen, dass du jemals tough ausgesehen hast.«

Er wich Viks Handtuch aus, bevor dieser ihn damit erwischen konnte.

In seinem Spind fand Tom zwei weitere Nährstoffriegel. Er stellte sie sich als Schinkenspeck vor und schlang sie auf dem Weg zum Unterricht herunter. Auf dem Display in seinem Gehirn wurden Informationen eingeblendet. Er überprüfte die Daten und erkannte, dass es sich um den Stundenplan handelte. Er wartete auf das, was Vik »mit der Information einhergehendes Datenverständnis« genannt hatte. Der Zeitplan sah sonderbar aus.

Montags, mittwochs und freitags stand von 08:00-09:30 Fitnessübungen auf dem Plan und danach Mathe, aber bloß von 10:00 bis 10:20. Das konnte doch nicht stimmen, oder? Wie konnte eine Mathestunde nur zwanzig Minuten dauern?

Doch auch alle anderen Standardfächer wurden nur zwanzig Minuten lang unterrichtet: Englisch von 10:25 bis 10:45, US-amerikanische Geschichte von 10:50 bis 11:10, Naturwissenschaft von 11:15 bis 11:35, Weltsprachen von 11:40 bis 12:00. Und danach? Es gab bloß Mittagessen und dann den ganzen Nachmittag lang Angewandte Simulationen.

Auch dienstags und donnerstags stand auf dem Stundenplan kein normaler Highschool-Unterricht. Programmieren von 08:00 bis 11:30, und während des gesamten Nachmittags Taktik Stufe I.

Tom folgte den anderen Rekruten in den Lafayette-Raum, jenen Hörsaal, den er während seiner Führung schon gesehen hatte. Er folgte Vik zu einer Bank und glitt auf den Holzsitz. Yuri seinerseits setzte sich neben Wyatt. Vor ihm schoben die Rekruten die Ärmel zurück, um an ihre Unterarmtastaturen zu gelangen.

In Toms Gehirn ertönte ein Ping: Der Morgenkurs hat begonnen. Als ein kleiner grauhaariger Mann auf das Podium vorn im Raum stieg, legte sich Schweigen über den Saal. Toms Gehirn scrollte durch sein Profil.

Name: Isaac Lichtenstein

Zugehörigkeit: George Washington Universität

Sicherheitsstatus: Confidential LANDLOCK-2

»Guten Morgen«, begrüßte sie der Professor. »Bitte legen Sie für unsere Prüfung alles nicht zur Sache gehörige Material beiseite.«

»Prüfung?«, fragte Tom Vik scharf.

»Ja«, erwiderte Vik. »Knallharte Matheprüfung. Sieh lieber zu, dass du sie bestehst, Tom, sonst fliegst du achtkantig raus aus dem Programm.«

Tom glaubte zwar nicht daran, dass er aus dem Programm fliegen würde, nun, da sich das Militär gerade erst die Mühe gemacht hatte, ihm einen Prozessor in den Kopf zu installieren. Dennoch versetzten ihn die Worte in Angst und Schrecken.

Dann begann die Testabfolge. Auf Toms Infoscreen erschien die erste Frage. Er fing an zu lesen: Veranschlagen Sie zeichnerisch sämtliche lokale Maxima und Minima von …

Tom hatte keinen blassen Schimmer, wie er dies bewerkstelligen sollte. So etwas hatte er nie gelernt. Doch während er noch die Ziffern anstarrte, geschah etwas absolut Merkwürdiges. Es formte sich eine Serie aufeinanderfolgender, geordneter Gedanken. In seinem Kopf bildete sich der grafische Entwurf eines Würfels mit Querschnitten ab, und die Werte nahmen neue Gestalt an.

Etwas so Schwieriges hätte nicht so vollkommen einleuchtend und logisch sein dürfen – doch das war es. Tom fing an, Eingaben auf seiner Tastatur vorzunehmen. Er arbeitete sich durch das Problem, wobei die Berechnungen durch sein Gehirn schossen, so als hätte er sich in einen Rechner verwandelt. Er gab seine Lösung mit einem Klick auf seiner Unterarmtastatur ein. Das nächste Problem war genauso einfach, das übernächste ebenfalls.

Er gab seinen Test ab, woraufhin auf seinem Infoscreen 100 Prozent aufleuchtete. Ungläubig starrte er die Ziffer an. Er hatte achtzehn Aufgaben zur Integralrechnung in sieben Minuten gelöst. Integralrechnungen hatte er noch nie gehabt. Er hatte noch nicht einmal Algebra bestanden.

Neben ihm warf ihm Vik, der ein paar Minuten eher fertig geworden war, einen schrägen Blick zu und wackelte dabei mit seinen raupenartigen Augenbrauen, so als wollte er sagen: Ha-ha, da habe ich dich mal wieder in Panik versetzt.

Tom unterdrückte das Verlangen, in schallendes Gelächter auszubrechen. Das hier war unglaublich. Was für ein seltsamer Gedanke zu erkennen, dass etwas wie Mathe, das ihn immer so frustriert hatte, so einfach sein konnte, sobald sein Gehirn mit einem Computer kurzgeschlossen wurde.

Aus dem vorderen Bereich des Raumes drang nun wieder Dr. Lichtensteins Stimme zu ihnen. »Ausgezeichnet.« Er betrachtete die Ergebnisse auf seinem Bildschirm. »Wie ich sehe, war die niedrigste Punktzahl eine Neunundachtzig.«

Beamer schnaubte. Tom hatte plötzlich den Verdacht, dass er es gewesen war, der nur neunundachtzig Punkte bekommen hatte.

»Und wie es aussieht, hat die elfte Aufgabe eine Menge von euch ins Stolpern gebracht. Vielleicht hätte ich diese Aufgabenstellung in eurer Hausaufgabeneinspeisung veranschaulichen sollen. Da uns noch vier Minuten Unterricht verbleiben, gehen wir das jetzt gemeinsam durch.«

Vier Minuten später war ihre Mathematikstunde beendet. Dr. Lichtenstein informierte sie darüber, dass ihre zugewiesenen Downloads für die Prüfung am Mittwoch bereits im System waren und verabschiedete sich dann von ihnen. Es war punktgenau 1020. Ungläubig sah Tom zu, wie er hinausging. Der Stundenplan war kein Versehen. Der Matheunterricht dauerte wirklich nur zwanzig Minuten.

Der Rest des morgendlichen Unterrichts verlief nach dem gleichen Muster; die Rekruten blieben in dem Raum sitzen, die Lehrer wechselten sich dreimal die Stunde ab. In den Wochen, in denen sein Gehirn neu strukturiert wurde, lernte Tom mehr, als er in vier Jahren auf der Sonderschule Rosewood gelernt hatte. In Englisch war seine Grammatik nun fehlerfrei und sein Leseverständnis bei seiner Prüfung auf einhundert Prozent. In US-amerikanischer Geschichte trug er mühelos sämtliche Daten, Namen und historischen Auswirkungen der wesentlichen politischen Ereignisse in Zusammenhang mit dem Franzosen- und Indianerkrieg bei. In Naturwissenschaften identifizierte er in richtiger Weise die Quantumverschränkung als das Konzept hinter dem intrasolaren Kommunikationsnetz des Militärs. Als die Lehrerin für Weltsprachen sie auf Japanisch begrüßte, verstand Tom sie, noch bevor er begriff, dass er sie verstand. Während der mündlichen Prüfung sprach er in das Mikrofon des Computers, und der Prozessor nahm seine Sprachmuster auf. Sein Dialekt war goldrichtig – er sprach, als wäre er in Okinawa groß geworden.

Gegen Mittag brummte ihm der Schädel, und er schwankte mit Vik an seiner Seite hinaus. »Wow, ich kann Japanisch sprechen«, sagte Tom wie zu sich selbst, bemüht, die Sache zu begreifen.

»Klar tust du das.«

»Was spreche ich sonst noch?«

»Das hängt von der Sprache ab, in der wir am Freitag geprüft werden.«

»Und was kann ich sonst noch? Einen Atomsprengkopf basteln? Ein Raumschiff bauen? Beherrsche ich Kung-Fu?«

»Wenn du nachher bei Angewandte Simulationen für einen Kung-Fu-Kampf eingeplant bist, hast du es in deinem Hausaufgaben-Download bekommen«, erwiderte Vik.

Nun endlich begriff Tom es: Er konnte jetzt theoretisch alles. Die ganze Welt lag ihm zu Füßen.

Eine Stunde später stellte Tom in der Kantine sein Tablett auf das Fließband neben der Tür und gab sich dabei einem Tagtraum hin: Darin machte er mit seinem fließenden Japanisch einen Abstecher in die Sonderschule Rosewood und erzählte denen dort alles über ein Raumschiff, das er eigenhändig gebaut und damit den Krieg gewonnen hatte. Den kräftigen Jungen mit der Axt als Abzeichen für die Dschingis Division auf dem Ärmel bemerkte er erst, als der Junge ihn mit dem Ellbogen angerempelt hatte. Tom stolperte zur Seite, überrascht von den plötzlichen Muskelkontraktionen, die der Prozessor in seinem Kopf anregte, um ihn im Gleichgewicht zu halten. Sein Getränk rutschte von dem Tablett herunter. Tom sah, wie es auf Kollisionskurs mit dem dunkelhaarigen Mädchen vor ihm ging …

Doch sie wirbelte herum wie eine zubeißende Schlange und schnappte das Glas, bevor die dunkle Flüssigkeit über den Rand schwappen konnte.

»Nette Reflexe«, sagte Tom beeindruckt. Er hob den Kopf, um ihr in die Augen zu schauen – und hielt den Atem an.

Name: Heather Akron

Einheit: US-Intrasolare Streitkräfte, Camelot Company, Machiavelli Division

Rufzeichen: Enigma

Herkunft: Omaha, Nebraska

Besondere Leistungen: Mitglied der jungen Gesellschaftserneuerer, Stipendiat beim RAIA Fearson Scholarship, zweimalige Junior Miss Nebraska

IP: 2053:db7:lj71::212:ll3:6e8

Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-6

Einen durchdringenden Moment lang erwiderte Heather seinen Blick. Dann weiteten sich ihre gelbbraunen Augen. »Oh, Tom, du bist hier!«

Sie klang so glücklich darüber, ihn zu sehen, dass sich ihm der Magen umdrehte. »Ja, ich bin hier.«

»Ich hätte dich fast nicht erkannt ohne die …« Sie verstummte, während ihre Augen sein Gesicht absuchten. Dann sagte sie strahlend: »Ich warte schon seit Wochen darauf, dass du aus der Chirurgie rauskommst. Ich dachte schon, du hättest deine Meinung geändert, was uns angeht.«

Tom wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er starrte in das hinreißende Gesicht eines Mädchens, von dem er geglaubt hatte, es werde einem Typen wie ihm nicht einmal die Uhrzeit verraten.

Damals, als er noch nicht intelligent war.

Damals, als seine Haut noch versaut war.

Damals, als er heimatlos war und es nichts gab, was für ihn sprach.

Diese Gedanken schossen ihm alle gleichzeitig durch den Kopf. Das Gefühl, als ein neuer Mensch wiedergeboren worden zu sein, überwältigte ihn. Er wunderte sich über seine eigene Kühnheit, als er sich näher vorbeugte, ihrem Blick standhielt und sagte: »Das tut mir leid. Dich würde ich doch niemals warten lassen, wenn es nach mir ginge.«

Heathers Kichern belohnte ihn. »Ach Tom, du bist immer noch süß.«

»Süß?« Tom versuchte, die Bemerkung zu enträtseln. War das nun schmeichelhaft oder unmännlich?

Ein lautes Lachen unterbrach die beiden. Ein hochgewachsener, gut aussehender Junge schob sein Tablett auf das Fließband und legte lässig den Ellbogen auf Heathers Schulter. »Wie ich sehe, hat die H-Bombe ein weiteres Opfer gefordert.«

Tom benötigte seinen Neuronalprozessor nicht, um zu wissen, wer das war. Elliot Ramirez hätte er überall erkannt. Nichtsdestoweniger scrollte ein Text über den Infoscreen in seinem Gehirn.

Name: Elliot Ramirez

Rufzeichen: Ares

Einheit: US-Intrasolare Streitkräfte, Camelot Company, Napoleon Division

Herkunft: Los Angeles, Kalifornien

Besondere Leistungen: Träger des Taco Bell Teen Hero Award, Sieger der Juniorenweltmeisterschaft im Eiskunstlauf, Gründer des Kinderforums »Shoot for the Stars«, Jungschwarm des Jahres bei Teen People’s, Träger des lateinamerikanischen Achievement Award

IP: 2053:db7:lj71::209:ll3:6e8

Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-6

Ein Anflug von Lachen schwang in der Stimme des jungen Latinos mit. »Deinem verruchten Ruf musst du mal wieder gerecht werden, nicht wahr, H? Mit den Gefühlen armer, unschuldiger Rekruten jonglieren.«

Heather zuckte so mit der Schulter, dass Elliots Arm abrutschte. »Ich mag nun mal arme, unschuldige Rekruten. Und nur dass du es weißt, ich war General Marsh dabei behilflich, Toms Netzwerkadresse herauszufinden, und ich habe dabei geholfen, ihn durch Marshs experimentelles Auswahlszenario laufen zu lassen.«

»Und was hast du dafür bekommen?«, stichelte Elliot. »Wird die nächste freie Stelle in der Camelot Company für jemanden aus der Machiavelli Division frei gehalten?«

»Glaub kein Wort von dem, was Elliot von sich gibt, Tom«, sagte Heather eindringlich.

Elliot hob eine Augenbraue an. »Tatsächlich musst du auf das hören, was ich dir sage, Raines. Du bist in meinem Kurs Angewandte Simulationen.«

»Bin ich das?«, fragte Tom.

»Ja«, bestätigte Elliot, während seine dunklen Augen über die Informationen huschten, die er sehen konnte, während er eine Art Liste in seinem Kopf durchging. »Thomas Raines, mein Neuer.«

»Oh.« Heather zog einen Schmollmund. »Zu schade aber auch. Ich hatte gehofft, du würdest mir zugeteilt, Tom.«

Das wäre auch Toms innigster Wunsch gewesen.

Elliot schlug ihm auf die Schulter. »Hey, Schwein gehabt, Bursche.« Er zwinkerte. »Glaub mir, deine Familie wird total ausrasten, wenn du ihnen erzählst, dass ich es bin, der dich ausbildet.«

Tom stellte sich Neils Reaktion vor, falls er jemals herausfinden würde, dass sein Sohn ausgerechnet von Elliot Ramirez Befehle bekam.

»Ja«, stimmte Tom zu. »Mein Dad würde todsicher ausrasten.«