SIEBEN
Am nächsten Tag schlug Tom hellwach die Augen auf, während der Neuronalprozessor ihn informierte: Bewusstsein initiiert. Es ist jetzt 06:30.
Vik setzte sich zur gleichen Zeit auf und murmelte, er werde einmal nachschauen, ob Beamer »in der Lage ist, heute selbst durch die Gegend zu laufen«, oder ob er sich nach einer weiteren langen Nacht mit seiner Freundin alle Hausaufgaben turbomäßig auf einmal herunterladen würde.
Tom warf die Decke weg und rekelte sich. Er hatte überall Muskelkater. Er war nicht an körperliche Anstrengung gewöhnt.
Außerdem war er nicht daran gewöhnt, im Laufe einer Nacht 2,18 Zentimeter zu wachsen.
Erschreckt registrierte Tom die Veränderung seiner Körpergröße. Der Neuronalprozessor bestätigte sie. Tom sprang auf und stellte fest, dass er definitiv aus größerer Höhe auf die Welt herabschaute als noch am Vortag.
Vik hatte beim Frühstück nicht gescherzt mit dem, was er ihm über den Nährstoffriegel erzählt hatte. Tom machte einen ernsthaften Wachstumsschub durch.
Er war begeistert von dem Computer in seinem Kopf.
Der Programmierkurs traf sich ebenfalls im Lafayette-Raum, nur dass dieses Mal Rekruten, Mitglieder des Mittleren und Gehobenen Dienstes sowie Mitglieder der CamCo zusammen unterrichtet wurden. Es war der einzige Kurs, an dem alle Stufen gemeinsam teilnahmen. Vik erklärte ihm, dies liege daran, dass Programmieren der schwierigste Kurs und fast jeder gleichermaßen schlecht darin sei.
Tom setzte sich mit Vik, Yuri und Beamer auf die gleiche Bank, auf der sie am Vortag während der zivilen Kurse gesessen hatten. »Programmieren ist also voll übel, hm?«
»Kann man nicht anders sagen.« Vik wuchtete seine Füße auf die Rückenlehne der Bank vor ihnen. »Es ist nicht erlaubt, sich die Arbeit vom Neuronalprozessor abnehmen zu lassen. Klar, der Prozessor übernimmt ein paar Sachen. Zum Beispiel erinnert er sich für dich an die Regeln von Syntax und Semantik. Aber es liegt dann an dir, alles zusammenzusetzen wie ein Puzzle. Du musst dein Gehirn einsetzen und den Code selbst schreiben. Das ist nervtötend und grässlich.«
»Sprich für dich selbst, Viktor. Ich freue mich darüber, wenn ich mein Ge…« Yuri erschlaffte und kippte neben Tom einfach um.
Vik warf Tom einen belustigten Blick zu, während er sich damit abmühte, sich den leblosen Körper vom Leib zu halten. »Die Computersprache Zorten II ist spezifisch für indo-amerikanische Neuronalprozessoren und daher geheim, sodass Yuris Neuronalprozessor ihn in den Schlummermodus schaltet.«
Es gelang Tom und Beamer, Yuri zwischen ihnen beiden so abzustützen, dass er keinen von ihnen zerquetschte.
»Woran erinnert er sich denn anschließend?«, wollte Tom von Vik wissen.
»Ich habe ihn mal gefragt, was er von diesem Kurs hält, und da hat er angefangen, etwas von Zwergen und Fraktalen herumzufaseln. Ich glaube, er ist einfach so chiffriert, dass er hinterher nicht einmal realisiert, dass er chiffriert ist.«
Die Tür des Vorlesungssaals glitt auf, und das Stimmengewirr verebbte. Als Tom aufschaute, sah er einen imposanten Mann mit kurzem dunkelblondem Haar und einem Falkengesicht mit großen Schritten zum Podium gehen. Seinem Profil zufolge handelte es sich um:
Name: James Blackburn
Dienstgrad: Lieutenant
Einheit: 0-3, US Air Force, Aktiver Dienst
IP: 2053:db7:lj71::008:ll3:6e8
Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-10
Er begrüßte sie mit den Worten: »Tja, Leute, nach eurem letzten Klassenstreich habe ich mich vor Lachen ausgeschüttet.«
In Toms Gehirn gab es einen Ping: Der Morgenkurs hat begonnen.
»Ich musste zweimal Ihre Firewallprogramme durchforsten, um mir sicher zu sein.« Blackburn stützte sich mit den Ellbogen auf dem Podium ab, wobei seine breiten Schultern den Tarnanzug fast sprengten. »Bei Gott, zuerst glaubte ich, das wären die echten Programme. Aber dann erkannte ich, nein, das sind auch ohne Neuronalprozessoren die besten und hellsten Köpfe in den USA. Das konnten sie nicht ernst meinen mit einem so lachhaften, kümmerlich geschriebenen Code. Also alle Achtung, da haben Sie mich drangekriegt. Und wo sind jetzt die richtigen Programme? Sie können sie jetzt abgeben.«
Blackburn wartete und trommelte dabei mit den Fingern auf das Podium. Trotz seiner lockeren Worte lag ein grimmiger, fast wütender Ausdruck auf seinem Gesicht. Tom sah sich um, um vielleicht einen Hinweis auf das zu bekommen, was hier vor sich ging. Sämtliche Gesichter, in die er blickte, waren auf verschiedene Weise erwartungsvoll angespannt, so als wüssten alle, dass der milde Ton ihres Ausbilders trügerisch war.
Nach einer Weile schaute Blackburn nach oben ins Leere. »Das ist ja komisch. Sieht so aus, als hätte ich hier … nichts. Wollen Sie mir sagen, dass das Ihre richtigen Programme waren? In diesem Fall müssen wir an dieser Stelle kurz über einige Grundsätze sprechen, Kinder. Fangen wir mit dem ersten Grundsatz an. Hören Sie zu? Hier ist er: In Ihrem Gehirn befindet sich ein Computer.«
Er ließ diese Worte in der Luft schweben und warf einen Blick in den Raum.
»Muss ich mich wiederholen?« Dieses Mal stieß er bei jedem Wort mit dem Finger in Richtung seiner Schläfe. »In Ihrem Gehirn befindet sich ein Computer. Können Sie mir erklären, warum ich hier in den Wind rede, um Ihnen das Programmieren beizubringen? Nein, das tue ich nicht, um kostbare Stunden damit zu verbringen, in dieses Meer von glücklichen, leuchtenden Gesichtern zu schauen. Ich tue es, damit Sie lernen, Ihren Neuronalprozessors zu beherrschen.« Seine Stimme verlor ihren milden Ton, sein Ärger wurde deutlich. »Wenn Sie Programmieren beherrschen, beherrschen Sie sich selbst, und wenn Sie das nicht ernst nehmen, dann bin nicht ich der Angeschmierte, sondern Sie … Was gibt es, Ms Akron?«
Heather ließ die Hand sinken. Ihre Stimme ertönte. »Wenn es wirklich so wichtig ist, dass wir das hier lernen, Sir, dann wäre es doch viel sinnvoller, einfach alles, was wir brauchen, in die Downloaddatenströme zu integrieren.«
Blackburn blies die Backen auf und stieß den Atem ganz langsam aus. »Ich habe es bereits einmal erklärt«, erwiderte er, »und ich werde es jetzt noch einmal erklären: Diese Neuronalprozessoren dürfen Computersprache nicht so handhaben wie menschliche Sprachen, und dafür gibt es einen ganz einfachen Grund – es ist illegal. In diesem Land gelten Bundesgesetze. Eines dieser Gesetze verbietet selbstprogrammierende Computer. Auch Ihr Neuronalprozessor fällt als Computer unter dieses Gesetz. Ihr Gehirn hingegen, als Ihr eigenes inneres Organ, tut dies nicht. Falls Sie ein Problem damit haben, können Sie sich an die netten Mitarbeiter von Obsidian Corp. wenden, die ihren Einfluss bei Ihren Kongressabgeordneten für diese Gesetzgebung geltend gemacht haben. Verstehen Sie, die haben die Neuronalprozessoren so gebaut, dass das Militär weiter von ihren Programmierern abhängig bleibt. Deshalb können Sie alle von großem Glück reden, dass ich hier unterrichte. Und im Gegensatz zu Ihnen habe ich begriffen, wie wichtig es ist, den Computer in meinem Hirn zu beherrschen – selbst wenn das bedeutete, dass ich mich auf den Arsch setzen musste und mir die Computersprache Zorten II auf die harte Tour beigebracht habe.«
Tom starrte Blackburn an. Wie konnte der Lieutenant einen Neuronalprozessor implantiert bekommen haben? Er musste doch mindestens vierzig sein. General Marsh hatte gesagt, Erwachsene würden es nicht überleben, wenn sie einen Neuronalprozessor im Kopf implantiert bekamen. Tom erinnerte sich aber daran, eine IP-Adresse in Blackburns Profil gesehen zu haben – das musste seine gewesen sein.
»Aber, Sir«, insistierte Heather, »einige von uns sind Kombattanten. Wir tragen den Krieg aus. Sie hatten mehr Zeit, es auf die vorgeschriebene Art zu lernen, weil Sie doch bloß …« Sie verstummte.
Sie war offenbar nicht imstande, es auszusprechen, sodass Blackburn ein kurzes, raues Lachen ausstieß. »Weil ich bloß … in einer Nervenheilanstalt eingesperrt war?«
»Er ist in einer Nervenheilanstalt gewesen?«, flüsterte Tom Vik zu.
»Vor sechzehn Jahren wurde die erste Testgruppe zusammengestellt«, erwiderte Vik leise, »dreihundert erwachsene Soldaten. Damals wusste das Militär noch nicht, was Neuronalprozessoren mit dem Gehirn Erwachsener anstellen.«
»Sie sind alle verrückt geworden?«
»Nur die Glücklicheren. Die anderen sind gestorben.«
Tom benötigte einen Moment, um dies zu verdauen. Währenddessen fuhr Blackburn fort. »Was meine mentale Erkrankung angeht, brauchen Sie nicht wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen, Ms Akron. Ich habe nie versucht, diese Tatsache zu verbergen. Wenn es auch nur einen grauenhaften Beweis für das zerstörerische Potenzial eines Neuronalprozessors gibt, dann sehen Sie ihn hier und jetzt direkt vor sich. Dieser Computer in Ihrem Kopf ist eine Waffe, und zwar nicht bloß eine, die Sie einsetzen können – es ist eine Waffe, die auch gegen Sie verwendet werden kann.«
»Ganz so verrückt scheint er mir nicht zu sein«, sagte Tom zu Vik.
»Er hat sich selbst beigebracht, wie er seinen Neuronalprozessor umprogrammieren konnte, und hat sich das eigene Gehirn repariert.«
»Es gibt da eine Einstellung«, sagte Blackburn währenddessen, »auf die ich bei Auszubildenden immer wieder stoße. Die ersten Monate mit ihrem neuen Neuronalprozessor sind sie ganz von Verwunderung und Ehrfurcht ergriffen. Und dann? Man nimmt ihn als selbstverständlich hin. Tun Sie das nicht. Betrachten Sie den Neuronalprozessor niemals als selbstverständlich. Es ist nichts Natürliches daran, einen Computer im Kopf zu haben. Sie mögen also recht haben, wenn Sie von zeitlichem Stress sprechen, Ms Akron, aber andererseits sehen Sie den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ja, ich war ein paranoider Schizophrener, der nichts Besseres zu tun hatte, als herauszubekommen, wie man programmiert, aber Sie, die Sie tatsächlich in diesem Krieg kämpfen, haben einen viel triftigeren Grund, das Programmieren zu erlernen: Sie kämpfen in einem Krieg. Was ist die grundlegende Definition von Krieg? Ich brauche nichts Tiefschürfendes, bloß eine schnelle Antwort in einem Satz.«
Schweigen. Dann erwiderte eine Auszubildende des Mittleren Dienstes, die Toms Prozessor als Lisa Sanctus identifizierte: »Krieg ist ein gewaltsamer Konflikt, um einen Konflikt zu lösen.«
»So ist es, Ms Sanchez. Dieser Krieg entspringt einem Konflikt über die Verteilung der Besitztümer im Sonnensystem. Jede Seite hat ihren Anspruch darauf erhoben, und beide Seiten versuchen, diesen Anspruch mittels Gewalt durchzusetzen. Zweite Frage: Warum, glauben Sie, sind Ihre Identitäten geheim? Weiß es jemand?«
Eine Kombattantin der Alexander Division, die Toms Prozessor als Emefa Austerley identifizierte, reckte ihren schwarzen Arm. »Sicherheitsgründe, Sir.«
»Warum?«
»Um uns zu schützen.«
»Wovor?«
Dieses Mal gab es keine Antwort. Tom schaute sich um, während er selbst darüber nachdachte. Es war ja nicht so, als würden sie getötet, falls ihre Identität ans Licht kam. So etwas passierte nicht mehr.
»Um euch vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen«, sprang Blackburn ein. »Und ich weiß, was ihr jetzt alle denkt: In diesem Krieg tötet niemand. Das haben wir hinter uns gelassen, nicht wahr? Selbst als Kombattanten setzt ihr beim Kampf nicht euer Leben aufs Spiel – die Schlacht findet Tausende Meilen entfernt statt. Warum euch also vor gewalttätigen Übergriffen schützen? Nigel Harrison, mir scheint, Sie haben etwas dazu beizutragen.«
Ein schmächtiger, dunkelhaariger Junge sagte: »Krieg verändert sich im Laufe der Zeit. Man sollte es also besser so formulieren: Bis jetzt tötet niemand in diesem Krieg.«
Blackburn schnippte mit den Fingern und deutete auf ihn. »Na, da haben wir es doch – verleiht dem Jungen einen goldenen Stern. Bis jetzt tötet niemand in diesem Krieg. Die Gewalt ist noch nicht bis zu Ihnen vorgedrungen. Seien wir ehrlich, warum sollten die Russen und die Chinesen versuchen, Sie umzubringen? Sie wissen, dass wenn sie einen unserer Kombattanten töten, wir uns daranmachen werden, einen der ihren zu töten – und dann haben die beiden Konzerne, die diese Kombattanten sponsern, eine Menge Geld für ein paar tote Kids verschwendet. Wie viele Kombattanten gibt es auf der ganzen Welt, so um die vierzig oder ein paar mehr? Ihr seid wertvoll. Es rechnet sich nicht, den Tod mit einzuplanen … Was passiert also in ein paar Jahren, wenn irgend so ein Discount-Neuronalprozessor auf den Markt geworfen wird und es vierhundert von Ihnen gibt? Was, wenn es viertausend werden? Kleiner Hinweis, Leute: Ihr Aktienkurs sackt in den Keller. Ihr werdet entbehrlich.«
In der ersten Reihe musste Elliot Ramirez etwas gesagt haben, das Tom jedoch nicht hatte verstehen können. Blackburn wirbelte herum und trat ihm gegenüber. »Wie war das, Ramirez? Sagen Sie es lauter.«
»Ich sagte, das klingt sehr zynisch, Sir«, wiederholte Elliot.
Blackburn kicherte trocken. Er ließ sich mit ausgestreckten Beinen auf dem Rand der Bühne nieder und heftete seinen Blick auf Elliot. »Wussten Sie, dass das Militär in den 1950er-Jahren, in der Anfangszeit der Nukleartechnologie, Soldaten in der Nähe von Kernwaffentests stationiert hat? Die Soldaten haben eine gewaltige Strahlendosis abbekommen. Und die Zivilbevölkerung, die windabgewandt des Testgeländes lebte, ebenfalls. Hat man das aus Unwissenheit heraus getan? Nein, Mr Ramirez. Das geschah absichtlich – damit wir etwas über Strahlenschäden in Erfahrung bringen konnten. Gleiches gilt für Senfgas, Dioxin, PCP, Nervengas, LSD, was immer Sie wollen, eine nichts ahnende Gruppe von Niemanden bekam eine Dosis davon verpasst, weil irgendein hohes Tier sie für entbehrlich hielt. Bei mir war es das Gleiche – einer von dreihundert Soldaten, die vor sechzehn Jahren einen Neuronalprozessor implantiert bekamen und entweder daran starben oder den Verstand verloren. Menschen sind entbehrlich. Punkt. Der einzige Unterschied zwischen den 1950er-Jahren und heute besteht darin, dass es heute Milliarden mehr von uns entbehrlichen Menschen gibt. Falls Sie glauben, Sie hätten einen Wert außer dem, was unter dem Strich für irgendjemanden dabei finanziell herausspringt, dann sollten Sie langsam aus Ihrer Traumwelt erwachen.«
Ein bleischweres Schweigen hing in der Luft. Blackburn ließ seine Worte noch eine Weile nachwirken, dann sprang er auf.
»Ich weiß, dass man Ihnen von klein auf beigebracht hat, Vertrauen in etwas zu haben – Institutionen, Gesetze, Systeme. Aber ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass der einzige Mensch, der Sie beschützen kann, Sie selbst sind. Es obliegt Ihrer Verantwortung, sich mit jeder Waffe in Ihrem Arsenal zu verteidigen, und eine davon ist Wissen – zu wissen, wie man programmiert. Falls Sie sich sehenden Auges dazu entscheiden, dieses Wissen in den Wind zu schlagen, dann werde ich Sie nicht bemitleiden, wenn Sie aufwachen und ein Chirurg des Feindes Ihnen den Kopf aufschneidet, um diesen Neuronalprozessor herauszuholen und Sie keinen Muskel bewegen können, weil die Ihnen ein Paralyseprogramm verpasst haben, gegen das Sie sich nicht verteidigen konnten. Ich habe Sie gewarnt, und Sie haben sich dazu entschieden, sich der Illusion hinzugeben, jemand anders würde Sie retten. Hilflosigkeit ist nur bei Kindern und Narren entschuldbar. Das Recht, Kind zu sein, haben Sie an dem Tag verwirkt, an dem Sie hierhergekommen sind, und das Letzte, was die Welt braucht, ist es, Narren Schutz zu gewähren.«
Überrascht von seinen Worten, starrte Tom ihn an. Bis jetzt war im Turm immer zu Kameradschaftsgeist angespornt worden, zu Teamwork, dazu, sich an die geltenden Vorschriften zu halten. Blackburns Worte klangen eher wie …
Na ja, wie etwas, das auch Neil hätte sagen können.
Vielleicht erkannte Blackburn, dass er den Bogen überspannt hatte, denn er stieß gereizt den Atem aus. »Also schön, legt fünf Minuten Pause ein. Heute wird euch niemand den Kopf aufschneiden. Wenn ihr zurück seid, werde ich einen von euch aufrufen, um eine Firewall zu testen.« Als niemand reagierte, wurde er ungeduldig. »Vier Minuten, neunundfünfzig Sekunden, achtundfünfzig, siebenundfünfzig … Geht jetzt!« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tastatur an seinem Handgelenk. Er tippte mit dem Finger auf einen Button, woraufhin sich ein Bildschirm auf die Bühne herabsenkte.
Die meisten Auszubildenden vor Tom reagierten. Viele hoben ihre Unterarmtastaturen und stürzten sich hektisch in die Arbeit an irgendetwas – um vielleicht letzte Änderungen an ihrer Firewall vorzunehmen, um sie undurchdringlich zu machen. Einige andere, so wie Vik, ergaben sich schlichtweg der Gefahr, Blackburn mit einer schludrigen Firewall entgegenzutreten, und erhoben sich von ihren Plätzen.
»Sollen wir was in der Kantine abgreifen?«, fragte ihn Vik.
»Klar doch«, sagte Tom, in Gedanken schon dabei, den Nährstoffriegel in seiner Tasche in einen Burger zu verwandeln. Er stand auf, um Vik aus dem Raum hinaus zu folgen, doch in diesem Moment tauchte eine Reihe von Worten auf dem Infoscreen in seinem Inneren auf.
Mr Raines, nach vorn kommen.
Verwirrt drehte sich Tom um und sah, dass Blackburn ihn ungeduldig von der Bühne herbeiwinkte. Eine Vorahnung ließ ihn schaudern. »Vik, ich muss …« Er deutete auf Blackburn.
Viks Blick wechselte zwischen Tom und Blackburn hin und her. »Hat bestimmt nichts zu bedeuten«, versicherte er ihm.
»Ja, sicher.« Tom hoffte es. Er ging auf die Bühne zu, wo Blackburn ihn erwartete, mit den Ellbogen auf das Podium gestützt. Als er näher kam, erkannte Tom die Sorgenfalten im Gesicht des Mannes und zwei dünne Narben auf seiner Wange.
»Sir, ich habe keine Firewall«, platzte es aus Tom heraus.
»Natürlich haben Sie das nicht, Raines. Das ist Ihr erster Tag hier«, sagte Blackburn und ging am Rand der Bühne auf die Knie. »Es kann Wochen oder sogar Monate dauern, bis Sie in diesem Kurs aufgeholt haben. Das erwarte ich gar nicht von Ihnen. Was ich allerdings sehr wohl von Ihnen erwarte, ist eine Erklärung.« Er blickte aus grauen, eindringlichen Augen auf Tom. »Gestern hat sich jemand in die geheimen Personaldaten des Turms gehackt. Raten Sie mal, wessen Profil dabei gehackt wurde?«
Tom sackte das Herz in die Hose. Oh. Oh. Hier ging es um den Gefallen, den Wyatt ihm getan hatte.
»Genau, Sie sind jetzt plötzlich Landesmeister im Buchstabierwettbewerb«, bemerkte Blackburn. »Es ist mir egal, welche Vorgeschichte Sie für sich selbst erfinden wollen, Raines. Ich persönlich hätte mir allerdings etwas ausgesucht, das ein wenig beeindruckender ist.«
»Ich wollte eigentlich zur weltgrößten Ohrenschmalzkugel beigetragen haben«, räumte Tom ein.
»Tja, da haben Sie es«, sagte Blackburn, in dessen Stimme Belustigung klang. »Auch nicht mein Problem. Der Grund, warum ich Sie hier nach oben gerufen habe, ist der, dass Hacker die Sicherheitsbestimmungen gebrochen haben und ich mich damit auseinandersetzen muss. Ich möchte, dass Sie mir den Namen dieses Hackers nennen.«
Tom holte scharf Luft. Er hatte Wyatt ein Versprechen abgegeben. Da konnte er nun keinen Rückzieher machen.
Blackburn musterte ihn. »Das ist wahrscheinlich das erste Mal für Sie, dass Sie weg von zuhause sind, nicht wahr? Glauben Sie mir, Sie wollen sich hier nicht von Anfang an bei mir unbeliebt machen. Sie bringen niemanden in Schwierigkeiten, wenn Sie mir sagen, wer es war. Ich will bloß mit dem Hacker sprechen.«
Tom hatte genug Leute in VR-Hallen übers Ohr gehauen, um eine Drohung zu erkennen, wenn er sie hörte. Und er glaubte keinen Augenblick lang, dass Blackburn bloß ein nettes Schwätzchen mit einem Hacker halten wollte, der sich in eine sichere Datenbank gehackt hatte. Er hielt Blackburns Blick stand, während sein Herz schneller schlug. »Ich habe es vergessen, Sir.«
»Nein, das haben Sie nicht. Sie wollen es mir nur nicht verraten. Wie Sie wünschen, Raines. Wenn Sie nicht reden wollen, dann werden Sie mir anderweitig helfen, indem Sie als Versuchskaninchen bei meiner heutigen Demonstration fungieren.«
Tom schaute unbehaglich auf den Bildschirm hinauf, auf dem nun einige Reihen von Codes dargestellt wurden. »Was habe ich dabei zu tun?«
Blackburn schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Sie stehen bloß auf der Bühne und empfangen die Computerviren, die ich in Ihren Prozessor einspeisen werde. Der Code wird Ihr Gehirn manipulieren.«
Tom drehte sich der Magen um. »Äh, wie es manipulieren?«
»Oh, das ist eine Überraschung. Kommen Sie doch mal hier hoch.«
Tom stieg die Stufen an der Seite der Bühne hoch. Er hatte plötzlich butterweiche Knie.
Nachdem alle wieder in den Raum zurückgekehrt waren, deutete Blackburn auf einmal mit dem Kopf auf Tom und beorderte diesen damit von der Stelle neben den Stufen, wo er unbehaglich verweilt hatte, zu sich.
»Reden wir über Computerviren«, verkündete Blackburn gegenüber der Klasse. »Der Vorgang, einen Neuronalprozessor zu infizieren, läuft ziemlich genauso ab, wie es bei einem Computer zuhause der Fall wäre. Wäre Raines hier physisch mittels eines Neuronalkabels mit einem Computer verbunden, könnte ich ihn mit einem Virus von irgendwoher infizieren, wenn ich eine Internetverbindung und die Fähigkeit besäße, die Firewall, die ihn schützt, zu hacken. Aber er ist nicht physisch mit dem Internet verbunden; er ist mittels seines internen Transmitters mit dem Server hier im Turm verbunden. Deshalb werde ich ihm ein Virus von meinem Transmitter in den seinen einspeisen.«
Blackburn begann, Eingaben auf einer Tastatur zu machen, die an seinem kräftigen Unterarm befestigt war. Tom drehte sich um und sah, wie Blackburns Code über den riesigen Bildschirm tänzelte, was allen Auszubildenden ermöglichte zu sehen, was er eingab.
»Ein Virus wie dieses dringt in das System ein, indem es sich an ein bestehendes Programm anhängt. Der letzte Schritt ist, die IP-Adresse meines Zielobjektes einzugeben. Sie können auch mehr als nur eine IP anvisieren – das liegt ganz bei Ihnen. Und jetzt« – er machte weitere Eingaben – »codiere ich die Eingangssequenz. Das Schadprogramm startet, sobald es in seinem Prozessor ist. Dann kommt die automatische Beendigungssequenz – das Programm schaltet sich nach fünf Minuten ab. Also …« Er schlug Tom so fest auf die Schulter, dass dieser taumelte. »Sind Sie so weit, Raines?«
»Ändert es etwas, wenn ich Nein sage?«
»Nein, das war bloß Höflichkeit. Das Folgende auch: Nennen Sie mir den Teil Ihres Gehirns, den ich zuerst manipulieren soll.«
Tom spürte, wie er sich verspannte. »Wie wäre es mit keinem?«
»Keine Vorlieben? Prima. Erstes Zielobjekt: der Hypothalamus.« Blackburn fing an zu tippen, dann scrollte ein Text auf Toms Infoscreen: Datenstrom empfangen: Programm »Unstillbarer Appetit« initiiert.
Etwas Schreckliches erwartend, zuckte Tom zusammen. Doch es geschah nichts.
Nichts, außer …
Außer …
Sein Magen knurrte. Plötzlich wurde Tom klar, dass er am Verhungern war – wortwörtlich am Verhungern. Der unangenehme Schmerz in seinem Bauch verzehrte ihn. Sein ganzes Hirn war auf die Vorstellung von Essen fixiert, köstlichem Essen. Für Pommes hätte er einen Mord begangen. Er hatte einen Bärenhunger, hätte hundert Nährstoffriegel vertilgen können. Moment mal, er hatte doch noch einen Nährstoffriegel!
Hektisch langte er in seine Tasche, so darauf fixiert, etwas zu essen, dass ihm die vielen Blicke, die auf ihn gerichtet waren, gleichgültig waren. Weshalb er eigentlich hier oben war, hatte er ohnehin vergessen. Mit den Zähnen riss er die Verpackung des Nährstoffriegels auf und verschlang den halben Riegel mit einem einzigen Bissen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ein Gedankenbild von etwas zu formen, das ihm schmeckte.
»Die Neuronen in Ihrem Gehirn kommunizieren durch eine Abfolge elektrischer Signale«, erklärte Blackburn der Klasse. »Der Neuronalprozessor macht diese Signale nach und interpretiert sie. Mit dem richtigen Programm kann ich fast jeden Teil des Gehirns manipulieren. Der Verstand ist alles. Manipuliere den Verstand, und du manipulierst die ganze Welt, so weit es die jeweilige Person angeht. Genau so funktionieren Ihre Programme bei Angewandte Simulationen. Um Sie davon zu überzeugen, dass Sie ein Tier sind, um Sie mit einem Trick dazu zu bringen, dass Sie glauben, sich in einer künstlichen Landschaft zu befinden.»
Auf Toms Infoscreen wurde erneut ein Text eingeblendet, und das Programm endete. Nun erblickte Tom zum ersten Mal die klumpige, graugrüne Masse des Nährstoffriegels und ließ ihn angewidert fallen. Ohne das Gedankenbild von Essen, das ihm schmeckte, sah er bloß so aus, wie er wirklich aussah, nämlich wie etwas, das jemand verdaut und dann wieder erbrochen hatte.
Derweil rief Blackburn einen Jungen namens Karl Marsters auf die Bühne. Ein großer Junge mit Hängebacken und dem Abbild einer Dschingis-Axt auf dem Ärmel seines Hemdes stieg die Stufen empor. Blackburn sagte leise etwas zu ihm und gab anschließend etwas auf seiner Unterarmtastatur ein. Erneut tauchte auf Toms Infoscreen eine Textzeile auf: Datenstrom empfangen: Programm »Kampf-oder-Flucht« initiiert.
Plötzlich war Tom mit seiner Geduld am Ende. Er würde nicht länger hier herumhängen, um zu sehen, womit Blackburn ihn als Nächstes traktieren würde. Er wollte aus dem Raum hinausstürmen, doch Karl Marsters fing ihn ab. Unbezähmbare Wut kochte in Tom hoch. Er musste diesen Kerl umbringen! Er versetzte Karl einen heftigen Kinnhaken. Karl brüllte auf und hob seine gewaltige Faust, um ihm seinerseits einen Schlag zu versetzen. Doch in diesem Moment schritt Blackburn ein und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Beherrschen Sie sich.« Er schob Karl zurück. Dann beendete er das Programm mit einigen wenigen Eingaben auf seiner Tastatur.
Karl sah Tom finster an und rieb sich am Kinn.
Es folgten weitere Virenprogramme. Nach einer Manipulation seines limbischen Systems verknallte sich Tom in Blackburns Podium. Als er es gerade mit seinen Armen umschlang und ihm ewige Hingabe gelobte, steuerte Blackburn seinen Hippocampus an, woraufhin Tom vollkommen perplex vom Podium zurücktaumelte. Er hatte alles vergessen, was im vergangenen Jahr geschehen war. Er begann Erklärungen darüber einzufordern, warum er hier in diesem seltsamen Raum mit diesen seltsamen Leuten war, und wo steckte sein Vater? Ein Programm, das es auf die Amygdala abgesehen hatte, ließ ihn erneut auf das Podium reagieren – doch dieses Mal erschreckte er sich zu Tode davor. Als Karl ihn packte und näher in Richtung des Podiums schieben wollte, rammte Tom ihm den Ellbogen in den Magen, woraufhin Karl sich vor Schmerz krümmte. Karl wollte erneut auf ihn losgehen, doch Blackburn stellte sich ihm in den Weg.
Zudem musste er das Virusprogramm abgebrochen haben, denn Tom bekam wieder einen klaren Kopf. Er stellte fest, dass er mit hämmerndem Herzen auf das eindeutig nicht bedrohliche Podium starrte, während sein Atem in kurzen, abgehackten Stößen ging. Als er herumwirbelte, sah er, wie Blackburn Karl warnte: »Beherrschen Sie Ihren Zorn, Marsters.«
Karls Gesicht war knallrot, und er hatte seine kräftigen Fäuste in die Hüften gestemmt. »Aber Sir, er …«
»Ist halb so groß wie Sie, stand unter dem Einfluss von bösartiger Software und hat Sie trotzdem fertiggemacht. Zweimal. Das ist Ihr Problem, nicht seines. Sie setzen sich jetzt lieber wieder hin.«
Karl warf Tom einen vernichtenden Blick zu und verließ die Bühne.
Blackburn drehte sich um und betrachtete Tom, der versuchte, die Orientierung zurückzugewinnen. »Geht es noch, Raines?«
Tom warf einen Blick auf das Publikum, in dem einige der Auszubildenden versuchten, ihr Lachen zu unterdrücken. Seine Wangen brannten. Bewusst trat er näher an das blöde Podium heran, um zu beweisen, dass er wirklich keine Angst vor ihm hatte, aber auch nicht zu nah, weil er ja auch nicht verknallt in es war. »Mir geht es prima, Sir.« Er würde nicht darum betteln, dass das hier aufhörte, falls es das war, worauf Blackburn hoffte.
»Guter Junge.« Blackburn wandte sich wieder der Klasse zu und machte erneut Eingaben auf seiner Tastatur. »Das letzte Virus zielt auf die Großhirnrinde: kognitive Fähigkeiten und Selbstempfinden.« Das Programm begann. Datenstrom empfangen: Programm »Erregter Hund« initiiert.
Die letzten fünf Minuten des Kurses verbrachte Tom in der Überzeugung, ein Hund zu sein. Er bellte und kroch über die Bühne. Vor aller Augen. Während ihn einhundertsiebenunddreißig Auszubildende auslachten. Der feste Glaube, ein Hund zu sein, dauerte sogar noch bis nach Unterrichtsende an, als zwei ältere Auszubildende laut darüber nachdachten, was sie mit ihm anstellen würden.
»Blackburn meinte, es würde nur noch ein paar Minuten dauern. Die Zeit gönne ich mir. Versuch mal, ihn hinter den Ohren zu kraulen. Mein Hund Buckley hat das immer gemocht«, schlug Elliot Ramirez gerade vor.
Plötzlich war Tom wieder bei Sinnen: Er saß auf dem Boden zwischen Elliot und Heather, und Elliot tätschelte ihm den Kopf. Mit glühenden Wangen sprang er auf.
»Jetzt wieder Zweibeiner?«, bemerkte Elliot. »Fühlst du dich jetzt besser, oder ist das deine Art, um ein Leckerchen zu betteln?« Er kicherte über seinen eigenen Witz.
Tom errötete erneut. Er war sich bewusst, dass Heather gluckste, und fühlte sich ausgesprochen unmännlich. Zu seinem Verdruss stand sie auf, langte nach ihm und streichelte ihm die Schulter. »Braves Kerlchen.«
»Danke«, erwiderte Tom trocken. »Vielen Dank auch, Heather.«
»Du brauchst dich nicht zu schämen, Tom«, flötete Heather lieblich, während Elliot hinter ihr weiterhin gut gelaunt kicherte. »Du hast wirklich einen hinreißenden Welpen abgegeben.« Sie beugte sich ein wenig näher vor. »Und wenn möglich, solltest du dich ein paar Tage von Karl fernhalten.«
Tom hatte immer noch einen hochroten Kopf, als er mit großen Schritten den Flur entlangging. Gerade als er die Tür erreichte, begegnete er Blackburn, der in den Raum zurückkehrte.
Der Lieutenant verlangsamte sein Tempo und ließ seinen Blick über ihn schweifen. »Geht es?«
»Warum sollte es nicht? Sir?«, sagte Tom knapp.
»Eine schöne Zurschaustellung von Tapferkeit.« Blackburn betrachtete ihn nachdenklich. »Wissen Sie, Raines, wenn bösartige Hacker mit einem kleinen Sicherheitsverstoß während meiner Wache davonkommen, dann stellt sich doch die Frage, ob sie auch bei größeren Sicherheitsverstößen davonkommen. Gleichermaßen gilt, dass, wenn ein Rekrut damit davonkommt, die Identität dieses Hackers vor mir zu verbergen, ihn das nicht anspornen sollte, meine Autorität in Zukunft weiter infrage zu stellen.«
»Sie haben sich klar ausgedrückt.«
»Das hoffe ich. Nun, Raines, so unangebracht es auch war, so respektiere ich doch Ihr Versprechen, einen Kameraden zu decken. Dazu gehört Mumm. Und nun weg mit Ihnen, gehen Sie mir aus den Augen.«
Tom war beinahe besänftigt durch Blackburns Worte zum Abschied. Zumindest bis er die Kantine betrat und mit Gelächter begrüßt wurde. In diesem Moment verfluchte er Blackburn aus ganzem Herzen. Karl bot ihm eine Scheibe Schinkenspeck an und sagte: »Hier, Lassie«, wobei seine Augen bedrohlich glänzten, so als wartete er nur begierig auf eine Gelegenheit, ihn mit den Fäusten zu traktieren.
Nun, da Tom Karl richtig betrachten konnte, tauchte dessen Profil auf seinem Infoscreen auf:
Name: Karl Marsters
Rufzeichen: Vanquisher
Einheit: US-Intrasolare Streitkräfte 0-6, Camelot Company, Dschingis Division
Herkunft: Chicago, Illinois
Besondere Leistungen: Zweimaliger Gewinner des Titels Mr Illinois im Ringkampf im Schwergewicht, John Schultz Excellence Award im Ringkampf im Schwergewicht, Zweitplatzierter bei den Terminator-Weltmeisterschaften
IP: 2053:db7:lj71::231:ll3:6e8
Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-6
Wenigstens habe ich einen Schlag bei ihm gelandet, dachte Tom gehässig und zwang sich dazu weiterzugehen, statt Karl den Schinkenspeck in die Kehle zu stopfen. Schließlich gelangte er zum Tisch der männlichen Rekruten der Alexander Division. Dort stand Yuri gerade bei Wyatt und versuchte, sie dazu zu überreden, sich zu ihnen zu setzen.
»Immer sitzt du allein«, bat Yuri. »Das brauchst du gar nicht. Du kannst uns doch Gesellschaft leisten.«
Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist nicht mein Tisch. Ich sollte mich zu meiner Division setzen.«
»Warum denn?«, rief Vik ihnen beiden mit vollem Mund zu. »Bei der redet doch kein Mensch mit dir.«
Wyatt starrte wütend auf seinen Rücken.
Yuri war diplomatischer. »Das hier ist nicht der Morgenappell. Kein Mensch schert sich um die offizielle Sitzordnung.«
Wyatt machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu senken. »Aber Vik sitzt bei dir, Yuri. Ich kann Vik nicht leiden.«
»Hey«, protestierte Vik und schaute über seine Schulter. »Vik sitzt einen halben Meter von dir entfernt.«
»Du nennst mich Bratpfannenhand.«
»Ich weise nur auf die offensichtlichen Tatsachen hin, zum Beispiel die männliche Größe deiner Hände und die Art, wie deine Division …« Als er Tom erspähte, der mit seinem Tablett in der Hand zögernd näher kam, stockte Vik mitten im Satz. Wyatts dunkle Augen richteten sich ebenfalls auf ihn und weiteten sich. Sie presste die Lippen aufeinander, so als verkneife sie sich das, was sie hatte sagen wollen.
»Timothy«, sagte Yuri sanft, »du wirkst bekümmert.«
»Echt? Warum sollte ich?«, konterte Tom. »Ob das vielleicht mit Programmieren zu tun hat?« Erst nachdem er sich auf seinen Platz hatte sinken lassen, ging ihm auf, dass Yuri gar nicht wissen konnte, was geschehen war. Tatsächlich driftete dessen Aufmerksamkeit bereits ab, und er starrte mit ausdruckslosem Gesicht ins Leere.
Ein betretenes Schweigen erfüllte die Luft. Dann platzte Wyatt heraus: »Wie war es, ein Hund zu sein?«
Tom guckte mürrisch. »Klasse, Wyatt. Extraklasse. Ich finde es ganz toll, mich vor aller Augen wie ein Volltrottel zu benehmen.«
Vik und Wyatt schauten ihn mit grimmigen Mienen an. Und dann zuckten Viks Lippen. Zuckten immer stärker.
»Und ich werde nicht schlau daraus, warum er mich ständig so programmiert hat, dass ich mich zwanghaft mit seinem blöden Podium beschäftigt habe«, wetterte Tom weiter. »Vielleicht ist er ja auf das Podium fixiert, was?«
Viks gesamtes Gesicht verzog sich.
»Und vielen Dank übrigens, Leute, dass ihr mich dort habt liegen lassen. Ich bin aufgewacht, als Elliot Ramirez mir gerade über das Haar gestrichen hat! Wisst ihr, wobei ich aufwachen möchte? Mann. Wie wäre es einfach mit irgendwas anderem, als dass mir irgend so ein Typ über das Haar streicht?«
»Sieh doch mal die positive Seite«, sagte Vik mit erstickter Stimme. »Immerhin hat Blackburn keinen Algorithmus eingegeben, der dich dazu gebracht hätte, das Bein von jemandem zu poppen … oder das Podium.« Möglicherweise hatte er etwas ehrlich Tröstendes sagen wollen, aber es auch nur auszusprechen ließ ihn alle Selbstbeherrschung verlieren, und er brach in Gelächter aus.
Wyatt presste sich eine Hand auf den Mund.
»Freut mich, dass ihr so viel Spaß dabei habt, Leute«, sagte Tom.
Vik krümmte sich mittlerweile, und Wyatts Schultern zuckten, und plötzlich schlug Toms düstere Stimmung um, und er stellte fest, dass seine Lippen sich auch zu einem Grinsen verzogen. Einfach so, erschien es ihm selbst nun ebenfalls lustig.
Ja, sie lachten über ihn. Aber sie lachten auch mit ihm.
Tom hatte sich zuvor noch nie lange genug an einem Ort aufgehalten, um Freundschaften zu schließen. Nun aber begriff er plötzlich, wofür Freunde da waren: Sie erinnerten einen daran, dass die Dinge letzten Endes doch nicht so schlimm waren. Und sie erinnerten einen daran, dass man nie damit aufhören sollte, über sich selbst zu lachen. Einen Moment lang hatte er den Eindruck gehabt, er hätte sich wieder in Tom, den Verlierertypen verwandelt. Aber das hatte er nicht. Das hier würde niemals so wie in Rosewood werden.