ZEHN
Seit Tom im Turm des Pentagons lebte, gab es etwas Neues in seinem Leben. Etwas, das er bisher noch nicht kannte.
Routine.
In seinem Neuronalprozessor befand sich ein Verhaltenskodex, der ihn darüber informierte, was er zu tun und zu lassen hatte. Er wusste, dass er sich wochentags spätestens um 20:00 im Turm einzufinden hatte, an Wochenenden um 23:00. Er wusste, dass ein GPS-Signal seinen Aktionsradius verfolgte, um zu überwachen, dass er sich nur innerhalb der Grünen Zone, zwanzig Meilen um den Turm, bewegte. Sogar die Architektur des Turms war durchdacht und nach einem ausgeklügelten System angelegt. Jedes Fünftel des Turms war durch die Buchstaben A, B, C, D und E aufgeteilt, die Räume von unten nach oben durchnummeriert, je weiter man sich von den Aufzügen im Zentrum entfernte.
Wochentags fand um 07:00 der Morgenappell statt. Zweimal im Monat wurden die männlichen Alexander Rekruten damit betraut, eine Stunde früher als üblich aufzustehen. Sie formierten sich an der Tür zur Kantine, um in Abständen von fünf Minuten bis zum Beginn des Morgenappells die Uhrzeit auszurufen. Die Nächte waren traumlose Zeiten, die damit erfüllt wurden, alles Material herunterzuladen, das für den Unterricht des folgenden Tages benötigt werden würde.
Die einzige wirkliche Freizeit gab es an den Abenden, und die verbrachte er mit Vik, Yuri, Beamer und immer häufiger auch mit Wyatt.
Als Toms Schultern verheilt waren, verlegte er sich wieder darauf, VR-Simulationen durchzuspielen. Doch im Verlauf der Zeit verbrachte er immer weniger Stunden damit, sich in Videogames zu stürzen. Die Welt des Turms verschlang ihn, eine Welt, in der eines Tages die Gefechte real sein und die Siege wirklich etwas bedeuten würden. Eine neue Lieblingstätigkeit nahm seine Freizeit zunehmend in Anspruch: Er schaute sich Medusas Schlachten immer und immer wieder an.
Dass er sich praktisch jede Aktion des russisch-chinesischen Kämpfers bereits eingeprägt hatte, spielte keine Rolle. Er genoss es, die Gefechte des ultimativen Kriegers jedes Mal aufs Neue mitzuerleben, so als würde er den Achilles des modernen Zeitalters zum ersten Mal sehen. Wenn ihn der Unterricht der zivilen Lehrkräfte langweilte, rief er die Medusa-Clips auf. Wenn Elliot langatmige Reden hielt, brauchte er gar nicht so zu tun, als amüsiere er sich, denn er spielte Medusa-Dateien ab. Wenn er mit seinem Neuronalprozessor hätte träumen können, davon war er überzeugt, dann hätte er die Schlachten auch noch im Schlaf nachvollzogen.
Auch der Alltag im Turm entwickelte sich gut. Zwar schwebte nach dem Hühnerdebakel der Dschingisse noch eine Weile das Schwert des Damokles in Gestalt von Karl über ihm. Doch Karl wurde nicht aktiv, fast so, als hätte er Angst davor, eine weitere Demütigung zu riskieren.
Auch Elliot Ramirez ging nie offen gegen Tom vor, obwohl er immer vorwurfsvoll dreinblickte, wenn er ihn ansprach. Eine Weile fragte Tom sich, ob Elliot Karl auf ihn gehetzt hatte, kam aber zu dem Schluss, dass es nicht so gewesen sein konnte. Elliot war nicht der Typ, der Rache nahm. Das Schlimmste, was Elliot jemals tat, bestand darin, spitze Kommentare über Leute abzugeben, die keine Teamspieler waren.
Was Wyatt anging, so verschaffte sie sich Zugang zu den internen Überwachungskameras des Turms, um die Aufnahmen von ihr herauszuschneiden, falls einer der Dschingisse Blackburn die Geschichte des rätselhaften Computervirus steckte. Doch konnte sie dem Verlangen nicht widerstehen, einen kurzen Videoclip mit den Dschingishühnern aufzuheben – so bearbeitet, dass keiner von ihnen beiden auf den Bildern auftauchte. Sie zeigte ihn Vik und Yuri, woraufhin Vik die glänzende Idee kam, Karls erhabensten Moment seines Lebens in die Einspeisung der Hausaufgaben einzuschmuggeln.
Wyatt war daraufhin so sauer, dass sie sich eine ganze Woche lang weigerte, mit Vik zu sprechen. Vik meinte zu Tom, es sei seine bisher tollste Woche überhaupt gewesen. Tom fiel jedoch auf, dass Vik ständig versuchte, Wyatt etwas zu entlocken. Und an dem Abend, an dem er sie endlich so genervt hatte, dass sie ihn anschnauzte, war er bester Stimmung.
Wenig später hatte Wyatt noch mehr Grund, wütend zu sein, denn der Clip landete schließlich bei Blackburn. Er überraschte sie alle, indem er ihn eines Dienstags im Unterricht abspielte.
»Was Sie hier sehen, ist ein unglaubliches Programm.« Er spendete unechten Applaus und umschloss sein Publikum mit einem trügerisch trägen Blick. Nur die Intensität, die in seiner Stimme lag, verriet ihn, als er die Frage stellte: »Wer möchte den Ruhm für sich einheimsen? Nur keine falsche Scham.«
Tom merkte, dass Wyatt sich von dem milden Ton in seiner Stimme nicht täuschen ließ. Sie sank ein wenig tiefer in ihren Sitz. Heute war es nicht so einfach wie sonst, sich unsichtbar zu machen. Die Bankreihen vor ihr wirkten dünn besetzt, obwohl lediglich die zwölf Kombattanten der Camelot Company im Lafayette-Raum fehlten.
Tom hatte bereits beim Morgenappell über ihre Abwesenheit gerätselt. Dann wurden sie allesamt angepingt und über die Lage informiert. Die russisch-chinesischen Streitkräfte hatten einen Überraschungsangriff auf die indo-amerikanischen Werften in der Nähe des Neptun ausgeführt. Falls es ihnen gelingen würde, diese zu zerstören, wäre dies ein schwerer Rückschlag für Indo-Amerika. Es dauerte sehr lange, um Ausrüstung bis an den Rand des Sonnensystems zu transportieren, geschweige denn dort Schiffswerften aufzubauen, und diese Werften waren Teil des Zugangskorridors zum mineralreichen Kuipergürtel. Alle Mitglieder der CamCo waren ins Helix einberufen worden, den Bereich zwischen dem achten und neunten Stockwerk mit neuronalen Schnittstellen, von denen aus die Schiffe im All direkt gesteuert werden konnten. Während im Programmierkurs die Minuten zerrannen, wurde sich Tom mehr und mehr bewusst, dass im All eine entscheidende Schlacht abging und er keine Möglichkeit hatte zu erfahren, wer sie gewann.
Falls Blackburn Neuigkeiten von der jüngsten Schlacht erfahren hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er war zu beschäftigt damit, die Codes von Wyatts Programm zu studieren und Karls Freunde, die Hühner, mit Fragen zu bombardieren.
»Wo stand der Hacker? Haben Sie eine Stimme vernommen? Was haben Sie getan, als Sie wieder zu sich kamen?«
Lyla Mortenson, die muskulöse Dschingisblondine, war es schließlich satt. »Ich sagte es Ihnen doch, Sir, wir wissen nicht, wer es war. Wir können Ihnen nicht helfen.«
Blackburns Lippen verzogen sich zu einem matten Lächeln. »Oh, Sie können mir sehr wohl helfen, Ms Mortenson. Wenn Sie keinen Namen für mich haben, dann denke ich mir etwas anderes aus, womit Sie mir heute helfen können.«
Was das bedeutete, wusste jeder: Es hieß, dass er sie für seine nächste Demonstration herauspickte.
Lyla bekam es mit der Angst zu tun. »Fragen Sie Tom Raines!«
O nein. Tom rutschte tiefer in seinen Sitz.
»Er war dabei. Er hat alles gesehen. Wahrscheinlich weiß er es!«
Blackburns Blick wanderte zu Tom herüber. »Ist das so, Mr Raines?«
»Nein, ich habe überhaupt nichts gesehen«, sagte Tom rasch.
»Aber Sie waren dort.«
»Ich war nicht …« Tom schaute erst Lyla und dann die anderen Dschingisse an. Sie würden alle gegen ihn aussagen. Er seufzte. »Ja, ich war da.«
»Und ich nehme an, Sie haben keinen Namen für mich.«
»Nein, Sir«, sagte Tom, wohl wissend, dass Blackburn ihn nicht damit davonkommen lassen würde – erst recht nicht, da alle zusahen.
»Prima, Raines. Sie dürfen dann heute mein Freiwilliger sein. Kommen Sie hoch zu mir.«
Tom salutierte zum Spaß gegenüber Vik und Beamer, stand auf und trottete den Mittelgang entlang. Sein Blick huschte zu dem Apparat, den Blackburn in den Unterricht mitgebracht hatte; es war ein großer Metallkasten, der wie eine auf dem Kopf stehende Klaue aussah. Er hoffte, die Sache würde nicht allzu scheußlich werden.
»Heute sprechen wir über Klondike«, verkündete Blackburn der Klasse. »Dabei meine ich nicht das Eis. Wie Zorten II ist auch Klondike eine neuronalprozessorspezifische Computersprache. Sie wird in zwei Bereichen verwendet. Zum einen unterstützt sie den Neuronalprozessor bei der Kommunikation mit Technologien im intrasolaren Arsenal. Zum anderen justiert sie das Gehirn auf bestimmte Arten, wie es Zorten II nicht vermag, vor allem wenn es um indizierte Erinnerungen geht.«
Tom stieg auf die Bühne.
Blackburn deutete mehrmals energisch mit dem Zeigefinger in Richtung des Bildschirms über der Bühne. »Konzentrieren Sie sich darauf, Raines.«
Während er sich dem Podium näherte, vernahm Tom leises Gekicher – die Leute erinnerten sich nach wie vor an die Unterrichtsstunde, in der er verliebt ins Podium gewesen war. Seine Wangen brannten, und er versuchte, sich auf den Bildschirm zu konzentrieren, doch es fiel ihm schwer. Blackburn bereitete den Klauenapparat vor und stülpte diesen Tom direkt über den Kopf. Indem er kurz auf eine Taste drückte, richtete Blackburn schmale blaue Lichtstrahlen aus den Klauenspitzen auf Toms Schläfen aus. Instinktiv zuckte dieser zusammen, spürte jedoch lediglich ein Kitzeln auf der Haut.
»Es wird nicht wehtun«, versicherte ihm Blackburn, während er auf seiner Handgelenktastatur etwas eintippte. »Starren Sie einfach weiter auf den Bildschirm.«
Tom richtete sein Augenmerk auf die Schlangenlinie, die dort angezeigt wurde. Sie flackerte und ließ ihn an eine Schlange, eine Spinne oder etwas Ähnliches denken. Während er Blackburn immerfort auf seiner Unterarmtastatur tippen hörte, machte er sich langsam Sorgen. Doch Tom hielt seinen Blick weiter auf die Linie geheftet. Ihm kam eine Erinnerung in den Sinn. Das Wochenende, das Neil im Krankenhaus verbrachte und als Tom im Haus seines Kumpels Eddie bleiben musste. Er öffnete einen Wandschrank und stieß auf einen Haufen Skorpione. Eddie schrie auf, doch Tom lachte nur und zertrampelte sie und …
»Da haben Sie es«, sagte Blackburn triumphierend.
Tom zuckte zusammen, überrascht von der Erinnerung.
Blackburn schnippte mit seinen Fingern und wies ihn an, sich wieder der Klasse zuzuwenden. »Dieses Ding hier ist ein Memograf. Für die Mehrzahl der Leute hier im Raum, die nie darauf hoffen können, einmal zu verstehen, wie so etwas eingesetzt werden kann, ist es ein großer, glänzender, bewundernswerter Gegenstand. Für die wenigen unter Ihnen, die eines Tages Zorten II und Klondike beherrschen werden, ist es eine schlagkräftige psychologische Waffe. Ihr Neuronalprozessor indiziert all Ihre Erinnerungen, neue wie alte. Dieses Gerät kann diese Erinnerungen abrufen. Und wenn man erst einmal Erinnerungen abrufen kann, dann öffnen sich einem ganze Welten von Anwendungsmöglichkeiten. Eine davon werde ich Ihnen jetzt vorführen.«
Während er sprach, machte er weitere Eingaben.
Toms Blick blieb auf die Wellenlinie gerichtet, die plötzlich aussah wie ein Skorpion, und seine Erinnerung glitt zurück in die Zeit, als er diesen Wandschrank geöffnet hatte und die Skorpione herausgekrabbelt kamen. Sie waren an seinen Beinen unter seiner Jeans hinaufgeklettert und hatten ihn gestochen. Er schrie auf und landete am Ende in der Notaufnahme, und er erinnerte sich an den Geruch von Antiseptikum in dem Krankenhaus und an den Schmerz und das Gift, das gebrannt hatte wie Feuer, überall auf seinen Waden …
Blackburns Stimme riss Tom aus der Erinnerung heraus, »Und jetzt heben Sie eine Hand, Raines.«
Tom schaute ihn kritisch an. »Warum?«
»Tun Sie es.«
Tom hob die linke Hand.
»Guter Junge. Jetzt die Handfläche nach oben.«
Tom drehte den Handteller, und Blackburn legte ihm etwas auf die Haut.
Er fühlte ihn, noch bevor er ihn sah. Fühlte die winzigen, spitzen Beinchen, den Chitinpanzer. Er merkte, dass ihm das Blut aus den Wangen wich, ihm wurde übel, kalter Schweiß klebte auf seinem Körper, und seine Gliedmaßen zitterten. Sein Herz dröhnte ihm schneller und schneller in seinen Ohren, und er hatte das Gefühl, als bekäme er keine Luft mehr und müsse ersticken. Entsetzt fokussierte er den Skorpion, der auf seiner Hand lag.
»Nicht bewegen.« Blackburn lehnte sich zurück, um sein Gesicht zu beobachten.
»Wwwas …«
»Ganz still bleiben, sonst könnte er Sie stechen.«
Tom schnappte nach Luft, und kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab. Er konnte sich nicht bewegen. Konnte es einfach nicht. Obwohl er damals noch ein kleiner Junge gewesen war, spürte er, wie nun erneut Panik in ihm aufkam. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hielt das nicht länger aus. Er würde schreien. Das hier war noch viel schlimmer als das Virus, das ihm Angst vor dem Podium eingeflößt hatte. Er, Tom, würde hier vor aller Augen hysterisch oder ohnmächtig werden, und sie würden über ihn lachen, lachen.
»Erzählen Sie der Klasse doch mal, wie Ihnen zumute ist, Raines?«, schlug Blackburn vor. »Seien Sie ehrlich.«
Tom funkelte Blackburn an, kochend vor Wut. Er wusste, was Blackburn wollte. Aber er würde hier nicht vor all seinen Freunden wie ein erbärmlicher Schwächling auftreten. Das würde er nicht. Eher würde er sich die Augen ausstechen.
Und so ergriff er den Skorpion mit der rechten Hand und zerdrückte den Körper, so fest er konnte, in seiner Faust, hob ihn dann an seinen Mund und riss ihm mit den Zähnen den Kopf ab. Der bittere Geschmack von Triumph überflutete ihn. Er spuckte den Skorpionkopf aus und begriff irgendwie schockiert, dass er nicht gestochen worden war.
Blackburn starrte ihn an, verstummt vor Verblüffung. Schließlich sagte er: »Mr Raines, wenn das jetzt ein echter Skorpion und nicht ein Nährstoffriegel gewesen wäre, den Ihr Neuronalprozessor als Skorpion projiziert hat, dann wären Sie jetzt gestochen worden. Begreifen Sie das?«
Tom betrachtete die kopflosen Überreste des Skorpions in seiner Hand und erkannte, dass es wahrhaftig eine gräuliche Masse mit groben grünen Klumpen war. Ein Nährstoffriegel. Er hatte in einen Nährstoffriegel gebissen.
»Ich habe das nicht bis zur letzten Konsequenz durchdacht«, räumte Tom ein.
Blackburn wischte sich mit der Hand über den Mund. Er blickte Tom kritisch an, nahm ihm dann die Reste des Nährstoffriegels aus der Hand und warf sie in einen Abfallbehälter neben dem Podium. »Ich weiß nicht einmal, was ich davon halten soll.« Er tippte etwas auf seiner Tastatur ein. »Gehen Sie zurück zu Ihrem Platz, Rekrut.«
Zitternd kehrte Tom zu seinem angestammten Platz zurück. Der Schweiß ließ ihm die Uniform auf der Haut kleben. Erneut dachte er über die Skorpione nach, die Art, wie sie aus dem Schrank gekrabbelt waren. Es war an dem gleichen Wochenende gewesen, an dem Neil in die Notaufnahme eingeliefert worden war, nicht er. Tom war nie im Leben von einem Skorpion gestochen worden, geschweige denn gleich von einer ganzen Schar von ihnen. Irgendwie hatte Blackburn seine Erinnerungen manipuliert.
Blackburn sagte: »Ich habe Raines einem auslösenden Moment ausgesetzt, darauf angelegt, ein kleines, krabbelndes Wesen zu imitieren. Das brachte ihn dazu, sich immer wieder mit einer daran verknüpften Erinnerung zu beschäftigen. Der Memograf hat sie aufgegriffen und mir ermöglicht, die Erinnerungen an Skorpione zu sehen. Unter Verwendung der Computersprache Klondike habe ich die Erinnerung umgeschrieben und ihm anschließend wieder zurück ins Gehirn gesendet. Diese neue Version der Erinnerung hat eine Phobie erzeugt, und hätte ich nicht diesen speziellen Rekruten für die Vorführung bestimmt, dann hätten Sie womöglich eine natürliche Panikreaktion miterlebt. Stattdessen haben Sie gesehen, wie Mr Raines uns beweisen wollte, was für ein großer, tougher Kerl er doch ist.«
Tom saß zusammengesunken auf seiner Bank und ignorierte das aufkommende Gelächter.
Blackburns Blick schweifte über die Auszubildenden der Dschingis Division, die lauter lachten als alle anderen. »Eine weitere Demonstration ist angebracht. Lyla Mortenson, kommen Sie doch mal hoch, damit wir das hier noch einmal richtig machen können.«
Lyla verging das Lachen. Als Blackburn ihre Erinnerung daran, eine Schwarze Witwe zerdrückt zu haben, in eine Erinnerung daran veränderte, von einer gestochen worden zu sein, bekam er von ihr die angemessene Angstreaktion. Sie schrie gellend auf und stürzte aus dem Raum. Blackburn entließ alle anderen vorzeitig aus dem Unterricht und folgte ihr, um das Programm rückgängig zu machen.
Als Tom den Raum verließ, wandte sich Vik ihm zu und sagte: »Das war ja wohl jetzt wohl der Oberhammer. Er wollte, dass du hier herumkreischst, und du machst einen auf … grrr!« Er stellte pantomimisch dar, wie er wild und animalisch in etwas biss.
Beamer kicherte und schob ein: »Ja, er war nur sauer, weil du dir da oben nicht in die Hose gemacht hast.«
Sogleich wieder vergnügt schob sich Tom die Hände in die Taschen. Als er Wyatt in der Menge erspähte, bedachte sie ihn mit einem dankbaren Lächeln, weil er sie erneut gedeckt hatte. Yuri neben ihr wirkte leicht verwirrt, so wie es bei ihm nach dem Programmieren immer der Fall war. Doch er winkte Tom freundlich zu. Ein warmes Gefühl breitete sich in Tom aus, ein Gefühl, dass alles gut war, drang ihm bis ins Mark; er fühlte sich, als wäre er zum ersten Mal im Leben zuhause.
Doch dann sagte Vik etwas, das dieses Gefühl zunichtemachte. »Besuchen dich deine Eltern am Wochenende?«
Toms Herz machte einen Satz. Er hatte zwar davon gehört, dass es hier ein Elternwochenende gab. Aber dass es schon so bald war, hatte er nicht gewusst. »Meine Eltern? Äh, nein.«
Zumindest hoffte er das. Das hoffte er aus ganzem Herzen. Neil im Turm des Pentagons? Das war, als würde man zwei leicht entzündbare Chemikalien vermischen und zuschauen, was geschah. Da würde nichts Gutes bei herauskommen.
»Meine schon«, sagte Beamer. »Und meine Schwester auch. Und deine, Vik?«
»Mom kommt von Indien hergeflogen.« Vik strich sich mit der flachen Hand über das Haar, das mittlerweile in ungleichmäßigen, langen Büscheln wuchs. »Beim letzten Videochat hat sie damit gedroht, den ganzen Weg auf sich zu nehmen, bloß um mir eine neue Frisur zu verpassen. Sie meinte, allmählich sähe ich so aus, als läge bei mir auf dem Kopf ein verendetes Tier.«
Die Bemerkung rief bei Beamer ein gackerndes Lachen hervor, und er fing an, Mutmaßungen darüber anzustellen, welchen Tierfellen Viks Haar ähnlich sah. Tom lachte mit ihnen, obwohl er mittlerweile nicht mehr wirklich zuhörte. Er machte sich nach wie vor Sorgen darüber, was sein Dad anstellen würde, falls er hierherkam. Eines wusste er: Neil würde nicht in die Hochburg dessen marschieren, was er »das Kriegskartell« nannte, bloß um ihm eine neue Frisur zu verpassen.
Später am Abend trudelten nach und nach alle Mitglieder der CamCo in der Kantine ein, um etwas zu essen. Sie ließen die Schultern hängen, und die Erschöpfung stand ihnen im Gesicht geschrieben. Die Nachricht von ihrer jüngsten Niederlage machte schnell die Runde. Die russisch-chinesischen Kombattanten hatten die Werften und sämtliche Schiffe zerstört, mit denen die CamCo-Kämpfer sich ihnen entgegengestellt hatten. Zu verdanken war dies größtenteils Medusa, dem es irgendwie gelungen war, die in dem Bereich versteckten indo-amerikanischen Satelliten zu enttarnen und die meisten von ihnen in der Schlacht zu blenden. Die CamCo- Leute waren daraufhin auf die begrenzten Sensoren der Raumfahrzeuge angewiesen gewesen. Ohne Satellitenunterstützung kämpften sie praktisch wie blind – und waren leichte Beute.
»Mann, ohne Medusa würde die Sache anders aussehen«, bemerkte Vik, während sie in Richtung des Lafayette-Raums gingen.
»Allerdings«, stimmte Tom zu, »total anders.« Es wäre allerdings auch nicht halb so spannend gewesen. Er brannte darauf, sich eine Aufnahme von der Schlacht herunterzuladen und Medusas Verhalten bei einem Kampfeinsatz erneut zu beobachten.
Sie waren alle zusammengerufen worden, um einer Rede von General Marsh beizuwohnen. Im alltäglichen Leben im Turm war er nicht präsent, doch nach Schlachten der CamCo kam er immer zur Nachbesprechung des Einsatzes vorbei. Offenkundig hatte er dieses Mal beschlossen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und auch das bevorstehende Elternwochenende anzusprechen. Die Auszubildenden nahmen allesamt auf ihren Bänken Platz. Dann stieg General Marsh auf die Bühne und hielt ihnen einen Vortrag, als wären sie nicht imstande, sich die Regeln darüber, welche Informationen sie ihren Eltern enthüllen durften und welche nicht, welche Bereiche des Turms den Eltern zugänglich waren und welche nicht, herunterzuladen.
Als Marshs Profil auf Toms Infoscreen eingeblendet wurde, schnippte er es weg.
Name: Terry Marsh
Rang: Brigadegeneral
Einheit: US Air Force 0-7, Aktiver Dienst
Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-16
»Ihre Eltern müssen während ihres Aufenthalts hier stets ein Namensschild tragen«, erklärte Marsh, »und Sie müssen bei ihnen bleiben. Sie dürfen die Namen Ihrer Kameraden nicht preisgeben. Es ist mir egal, wie oft sie Sie nach Ihren Freunden fragen. Sie geben ihnen keine Antwort. Falls sie irgendwie eine Kamera einschmuggeln, müssen Sie diese konfiszieren. Außerdem sind Sie verantwortlich für jeden Akt von Spionage oder Sabotage, den Ihre Eltern während ihres Besuchs hier verüben.« Das Gekicher, das er damit hervorrief, schien Marsh nicht zu gefallen. »Durch eine solche Einstellung sind schon ganze Länder verraten worden! Sie können von Glück sagen, überhaupt ein Elternwochenende zu haben. Ginge es nach mir und nicht nach dem Verteidigungsausschuss des Kongresses, dann würden wir Sie hier einsperren und hätten einen wesentlich höheren Sicherheitsstandard.«
Bei Tom rief Marshs Besorgnis über Sabotageakte im Turm kein Kichern hervor. So etwas traute er Neil glatt zu. Was seinen Dad anging, konnte er gar nichts vorhersagen.
Nach dem Briefing sprach Olivia ihn im Flur an. »Tom, ich habe eine Liste von Eltern zusammengestellt. Es ist mir noch nicht gelungen, mich mit deinem Vater in Verbindung zu setzen, um ihm eine Einladung zuzustellen.«
Toms Schultern entspannten sich. Tiefe Erleichterung durchschoss ihn, gemischt mit einem seltsamen Gefühl der Enttäuschung. »Das werden Sie auch nicht. Er ist viel unterwegs. Keine Nummer, er benutzt nicht einmal Virtual Reality. Sie haben keine Chance, ihn aufzutreiben.«
»Hast du vielleicht irgendeine Idee …?«
»Sie verschwenden nur Ihre Zeit, wenn Sie nach ihm suchen. Er würde sowieso nicht kommen.«
Als der Tag dann kam, richtete sich Tom auf seinem Bett auf einen langen Nachmittag ein, an dem er Medusa-Kämpfe anschauen und vielleicht ein paar Videogames spielen würde. Daher war er schockiert, als er sich gerade Medusas Schlacht auf Titan noch einmal anschauen wollte und genau in diesem Moment angepingt wurde: Melden Sie sich im Empfangsbereich als Elternbegleitperson.
Völlig verdutzt blieb Tom auf seinem Bett sitzen und starrte an die Decke. Auf keinen Fall. Nie, niemals. Konnte Neil es irgendwie herausbekommen haben? War er gekommen? Wie war das möglich?
Melden Sie sich im Empfangsbereich als Elternbegleitperson, wurde er erneut angepingt.
Tom sprang aus dem Bett, fuhr sich durch die Haare, bis seine Frisur einigermaßen saß, und ging zu den Aufzügen. Neil war echt hier? Erneut glättete er sein Haar. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Erst als der Aufzug nach unten glitt, fiel Tom ein, dass es vielleicht gar nicht sein Vater war.
Es konnte auch seine Mutter sein.
Nein. Unmöglich. So etwas tat sie nicht. Er hatte sie in der Zeit, als Neil zu sechzig Tagen Haft verurteilt worden war, besucht. Sie hatte ihn überrascht angestarrt, als könnte sie nicht glauben, dass ein so hässliches Wesen ihr Sohn sein könnte. Sie hatte ihn nicht in die Arme genommen – und er hatte sie ebenfalls nicht umarmt. Sie hatten gefühlte drei Worte miteinander gewechselt.
Dann war ihr Freund Dalton aufgetaucht, zusammen mit einem privaten Sicherheitsmann, der einen Netzhautscanner mit sich schleppte, und hatte gefragt: »Alles in Ordnung, Delilah?« Als würde Tom quer durch das Land reisen, bloß um seiner Mutter etwas anzutun.
Obwohl der Scanner Toms Identität bestätigte, pflanzte sich Dalton in der Wohnung auf und beobachtete Tom auf Schritt und Tritt misstrauisch, als wäre er überzeugt davon, Tom sei nur zu Besuch gekommen, um das Gebäude abzufackeln. Seine Mutter hatte ihre Hausangestellte losgeschickt, um ein VR-Set für ihn auszuleihen. Dann war sie mit Dalton irgendwohin gegangen und nicht wieder zurückgekehrt. Als Neil vorzeitig entlassen wurde, machte Tom sich nicht die Mühe, auf ihre Rückkehr zu warten. Er hinterließ ihr eine Nachricht und kehrte zu seiner einzigen richtigen Familie zurück – seinem Dad.
Als er aus dem Aufzug trat und sich durch die Menge der Eltern schlängelte, war ihm, als befände er sich in einem seltsamen Traum. Er erspähte Vik und seine Sari tragende Mutter und blieb stehen, um gegen das absurde Bedürfnis anzukämpfen, Unterstützung anzufordern.
Dann betrachtete er Vik genauer und sah, wie seine Mutter ihm die Uniform an der Schulter glättete und auf Hindi sagte: »… weiß immer noch nicht, warum du unbedingt über den großen Teich wolltest, obwohl du auch in Mumbai hättest trainieren können.«
»Das habe ich dir doch schon hundertmal gesagt«, erwiderte Vik, »ich habe eine viel größere Chance, Kombattant zu werden, wenn ich in Amerika trainiere. Hier wird man viel mehr gefördert.«
»Geben sie dir auch genug zu essen, Vikram? Du bist ja ganz mager!« Sie wechselte ins Englische mit starkem Akzent. »Ich hätte dir ein selbst gemachtes Curry mitbringen sollen. Hast du manchmal immer noch Bauchweh?«
»Mom!«, rief Vik.
»Ich wollte doch bloß … Lacht dieser Junge da über uns?«
Tom bemühte sich, sein Lachen zu unterdrücken. Viks Blick verengte sich. »Natürlich nicht.«
Tom hatte seine helle Freude an Viks Qual. Als Viks Mutter gerade nicht hinschaute, fuhr sich Vik mit der flachen Hand über die Kehle und formte mit den Lippen die Worte »töte dich.« Tom tätschelte sich den Bauch und formte seinerseits das Wort »Bauchweh«. Dann tauchte er in der Menschenmenge unter, bevor Viks Mom wieder auf ihn aufmerksam wurde.
Dabei kam er an Beamer mit seinen Eltern und seinem großmäuligen rothaarigen Schwesterchen vorbei.
»Zeig uns Schießgewehre, Stephen!«
»Das ist nicht erlaubt, Crissy, ich sagte dir doch …«
Am Rand der Menge erspähte er zudem Yuri mit einem hellhaarigen Mann, der so helle Augenbrauen hatte, dass sie sich kaum von seiner Stirn abhoben. Sein Vater, vermutete er. Sie bewegten sich gar nicht, sondern sprachen, einen Abstand voneinander haltend, so leise miteinander, dass Tom kein Wort verstand.
Ganz hinten, in einer Ecke unter den sich neigenden Flügeln des Adlers, schritt Tom an Wyatt vorbei, die stocksteif dasaß und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Ihre Mutter, eine spindeldürre Frau mit einem Wirrwarr von dunklen Locken, hielt sich mehrere Schritte von ihr entfernt und inspizierte sie wie ein Kunstwerk, das sie nicht zu kaufen gedachte. »… komme einfach nicht darüber hinweg, wie groß du geworden bist. Ich war felsenfest davon überzeugt, dein Wachstum wäre abgeschlossen. Schau sie dir an! Sie ist jetzt größer als du, George.«
Ihr Gatte, ein gedrungener Mann, der sich träge auf einem Stuhl in der Nähe rekelte, schaute herüber und lachte von Herzen. »Auf den ersten Blick habe ich mich gefragt, ob ich ›mein Sohn‹ zu dir sagen soll, Wyatt. Was hat das denn mit diesen ganzen Muskeln hier auf sich? Er packte sie am Bizeps und drückte zum Spaß ihren Arm. »Du willst hier wohl so ein Rambomädchen werden?«
Wyatt entzog ihm ihren Arm. »Körperliche Fitness gehört hier dazu. Ich kann nichts dafür, wenn ich dabei Muskeln bekomme.«
Gleich hinter Wyatts Eltern machte Tom einen Mann aus, der den Adler betrachtete. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Das war sein Besucher.
Natürlich. Natürlich. Was hatte er denn auch erwartet?
Tom lächelte süffisant. Er kam sich wie ein Trottel vor. Bestrebt, die Sache hinter sich zu bringen, ging er auf den Mann zu.
»Das ist hier ausschließlich für Familienmitglieder. Was wollen Sie hier, Dalton?«
Wie bei ihrer letzten Begegnung hatte Dalton Prestwick gegeltes Haar, lächelte schmierig und trug einen steifen Anzug. Als er Tom erblickte, hob er ein wenig das Kinn, sodass Tom zu ihm aufschauen musste, um seinem Blick zu begegnen. Er wünschte, er hätte es auf locker über einen Meter achtzig gebracht, damit dieser Typ nie wieder auf ihn herabschauen konnte.
»Ich war in der Gegend, und deine Mutter hat eine Verzichtserklärung unterzeichnet, damit ich statt ihrer dein Gast sein kann«, beschied ihm Dalton. »Netter Ort hier. Wie ist die Lage, Sportsfreund?«
Tom ballte die Hände zu Fäusten. Er war ernsthaft geneigt, laut loszulachen, weil er sich so dämlich vorkam, auch nur im Traum zu glauben, sein Vater oder seine Mutter würden ihn besuchen. »Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen.«
Daltons Augen verengten sich, und die Maske der Höflichkeit fiel von ihm ab. »So sprichst du nicht mit mir, kleiner Dreckskerl.«
Da war er. Das war der richtige Dalton.
Seufzend wandte sich Dalton von ihm ab. »Ich begleite ein paar Kollegen. Joseph Vengerov, dort drüben « – er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann, der bei Yuri stand. Also war das nicht Yuris Vater. »Ich habe für ihn gearbeitet. Der andere ist irgendwo hier in der Menge. Mike Marsters. Ein Mitarbeiter im Ruhestand. Sein Sohn ist hier. Der Junge heißt Karl.«
Tom lachte. Er konnte nicht anders. Es passte einfach ins Bild, dass ein Geschäftspartner von Dalton Vater eines so tollen Typen wie Karl war.
»Die beiden wollten ohnehin hierher, also dachte ich mir, ich schaue auch mal vorbei und sehe nach dir. Es hat mich fast von den Socken gehauen, als ich erfuhr, dass du hier bist. Ich hätte nie gedacht, dass mal etwas aus dir werden würde.«
»Ich weiß, worum es Ihnen hier geht. Sie machen hier einen auf nett, damit Sie sich den Turm genau anschauen können. Aber wenn Sie glauben, ich wäre Ihre Eintrittskarte, dann vergessen Sie’s.« Tom drehte sich um und machte Anstalten zu gehen.
»Nein, nein.«
Eine Hand packte ihn an der Schulter. Tom schüttelte sie ab und wirbelte herum. »Was denn?«
Daltons Stimme senkte sich zu einem dringlichen Flüstern. »Jetzt hör mal zu, Bursche. Ich glaube nicht, dass du die politischen Spielchen durchschaust, die hier ablaufen. Wer, glaubst du, hat eine Chance, es hier zu schaffen? In die Camelot Company zu kommen?«
Tom betrachtete ihn aufmerksam und fragte sich dabei, ob Dalton etwas wusste, was er nicht wusste.
»Man braucht Sponsoren. Unternehmenssponsoren, die deine Bewerbung unterstützen.«
»Das weiß ich.«
»Tja, was glaubst du, wer die Bewerbung von diesem Nigel Harrison für die Camelot Company abgeschmettert hat? Das war ich, im Auftrag von Dominion Agra.«
»Sie haben Nigel abgelehnt?«
Das ergab Sinn. Es musste Dalton gewesen sein. Die Identität der Auszubildenden unterlag der Geheimhaltung. Die Beförderung zur CamCo unterlag der Geheimhaltung. Dalton hätte sonst nicht wissen können, dass Nigel für die Camelot Company nominiert worden war. Binnen weniger Tage wurde er abgeschossen, als klar wurde, dass er nie einen Sponsor aus der Koalition finden würde, der seine Bewerbung unterstützte. Gerüchten zufolge hatten verschiedene Unternehmensrepräsentanten an den Verteidigungsausschuss geschrieben und ihn dabei als »fade, ohne persönliche Ausstrahlung und wenig inspirierend« beschrieben. Keines dieser Unternehmen wollte sich mit ihm in Verbindung bringen lassen.
Dalton richtete sich auf und wischte sich unsichtbare Flusen von seinem Designeranzug. »Selbstverständlich habe ich das. Ich arbeite bei Dominion Agra, und Dominion ist einer der größten Sponsoren der Kriegsanstrengungen. Ich könnte ein halbes Dutzend Mitglieder der Camelot Company aufzählen, mit denen wir in Verbindung stehen. Wir sponsern sogar Karl, benennen ihn als Kombattanten unserer Wahl für bestimmte Konflikte und versorgen ihn mit Kampfmaschinen. So läuft das mit Sponsoring. Es geht nicht bloß darum, bestimmten Kombattanten mehr Sendezeit zu verschaffen als anderen. Es geht darum, dem Militär im Namen dieses Kombattanten finanziell unter die Arme zu greifen – so verschafft man sich hier größeren Einfluss.«
Als sich Dalton dieses Mal vorbeugte, wich Tom nicht zurück.
»Aber wir erhoffen uns mehr, Tom. Mehr Kombattanten, die Dominion repräsentieren. Die richtigen. In meinen Augen warst du bisher nutzlos, aber hier könntest du es zu etwas bringen. Auf lange Sicht könnten wir füreinander von Nutzen sein, du und ich. Wenn Dominion dich sponsert, ist das deine Fahrkarte direkt in die CamCo.«
»Und was hätten Sie davon?«
»Auf kurze Sicht? In zwei Jahren von heute an wirst du Kombattant sein, und wir können dann mit einem weiteren Rufzeichen werben, das mit Dominion in Verbindung gebracht wird. Auf lange Sicht? Ihr jungen Leute scheint nicht zu begreifen, dass Elliot Ramirez nicht die einzige lebende Marke in euren Reihen ist. Die Leute wollen alles über die anderen Kombattanten erfahren. Enigma, Matador, Firestorm, Stinger – sie haben alle ihre Fangemeinde, ihnen sind Blogs gewidmet. Ein geheimnisvoller Nimbus umgibt sie. Eines Tages erwartet sie ein Markt. Wenn es nach uns geht, werden die Identitäten der Kombattanten eines Tages alle bekannt gegeben, und dann wirst du genauso wertvoll sein wie Ramirez. Und die mit dir verbundenen Sponsoren? Die werden ebenfalls davon profitieren. Eines Tages könntest du Dominion repräsentieren, Tom. Es ist immer gut, wenn ein netter, ganz normaler junger Mensch mit unserem Image verbunden wird.«
»Ganz normal?«, wiederholte Tom.
»Dass du jetzt nicht mehr so ein Zwerg bist, ist natürlich hilfreich. Und wie ich sehe, haben sie dir auch dieses Zeug da aus dem Gesicht entfernt. Du siehst nicht schlecht aus. Und bist mit Sicherheit nicht so ein großmäuliger Schandfleck wie Nigel, dieser nervöse Zucker.«
Tom dachte an Nigel mit seinem ständigen nervösen Zucken und hatte mit einem Mal einen faden Geschmack im Mund. Falls er jemals Dalton Prestwick bei irgendetwas behilflich war, das wusste er, dann würde er seinen Vater damit verraten. Und sich selbst. Am liebsten hätte er Dalton ins Gesicht gelacht und zugesehen, wie dieser selbstgefällige Ausdruck von Überlegenheit daraus verschwand. Aber er konnte Dalton nicht so behandeln, als wäre er nicht wichtig. Nicht, wenn er es hier zu etwas bringen wollte.
Nicht, wenn er eines Tages in die Camelot Company kommen wollte.
»Tja, also selbst wenn ich es in die CamCo schaffe, ist das noch ein weiter Weg dorthin«, sagte Tom zu ihm. »So weit in die Zukunft denke ich noch nicht.«
»Tja, dann fang mal damit an.« Dalton tippte sich an die Stirn. »Beweise der Welt, dass du mehr draufhast als dein alter Herr.«
Tom schob seine geballten Fäuste tiefer in die Taschen. Andernfalls hätte er sie Dalton ins Gesicht gerammt.
Tom bemerkte, dass sich Vengerov von Yuri entfernt hatte und auf sie zukam. Als Vengerov an Dalton vorbeischritt, schnippte er mit den Fingern. Dalton zuckte zusammen und kontrollierte den Sitz seiner Krawatte. »Ich muss jetzt gehen, Tom, aber denk drüber nach. Du wirst bald wieder von mir hören.«
Tom blieb wie angewurzelt stehen und holte mehrmals tief Luft, während Daltons Schritte über den Marmorfußboden hallten. Toms Fäuste zitterten von der Anstrengung, sie ständig geballt in den Taschen stecken zu lassen.
Er entspannte sich erst, als er sicher war, dass Dalton Prestwick fort war. Hätte er noch ein Wort über Neil gesagt …
Tja, wenn er einer Führungskraft von Dominion Agra in die Fresse geschlagen hätte, hätte er keine Chance mehr gehabt, es jemals in die CamCo zu schaffen.