ELF
Eines Freitags ließ Elliot sie in Angewandte Simulationen eine Meditationsübung absolvieren. Dabei sollten sie sich vor ihrem geistigen Auge ein weißes Licht vorstellen, das mit etwas interagierte, das er ihre Chakren nannte. Danach ließ er sie im Kreis Platz nehmen.
»Also, in den vergangenen Simulationen haben wir unser Augenmerk darauf gerichtet, offensiv vorzugehen. Hungrige Wölfe, die einen Elch attackieren. Die griechischen Götter, welche die nordischen Götter angreifen. Terminatoren, die Raubtiere jagen. Heute aber werden wir einen Tempowechsel einlegen. Die kniffligsten Weltraumschlachten finden nicht statt, wenn wir uns in der Offensive befinden. Unser wichtigstes Anliegen ist es, jene Bereiche des Sonnensystems zu bewahren, die wir uns bereits gesichert haben. Da gibt es Bohrplattformen, die verteidigt werden müssen, Satellitenbasen, die geschützt werden müssen, Patrouillen um Schiffswerften … Wir werden Teamwork als defensive Maßnahme üben. Daher möchte ich, dass ihr euch darauf vorbereitet, in die Rolle der Angegriffenen zu schlüpfen, Zielobjekt der Aggression zu sein.«
Die Simulation erwachte um sie herum zum Leben. Tom sah sich mit Schild und Schwert eine gewaltige, von Mauern umgebene Stadt bewachen. Der Informationsfluss in seinem Neuronalprozessor verschaffte ihm einen Überblick über das Szenario: Das hier war die antike Stadt Troja; sie befanden sich mitten im Trojanischen Krieg und verteidigten sich gegen die Armee der Griechen – ein gewaltiges Heer von Soldaten, die sich auf das sandige Feld jenseits der Stadtmauern ergossen und wie Ameisen über die fernen Strände krochen.
Toms erster Impuls war es, hinunterzusteigen und außerhalb der Mauern anzugreifen, doch Elliot hatte dies vorausgesehen – da er ihn mittlerweile kannte. »Tom. Verteidigung. Du erinnerst dich?«
Toms Blick schnellte über das Heer von glänzenden Helmen, blitzenden Schwertern, klirrenden Rüstungen, das sich in einem Sicherheitsabstand formierte. »Aber sie greifen doch nicht an. Wie sollen wir Defensive spielen, wenn es keine Offensive gibt?«
»Der Trojanische Krieg dauerte neun Jahre lang«, gab Elliot zurück. »Die Trojaner haben die Griechen nicht tagtäglich angegriffen.«
»Sollen wir dann hier bloß drei Stunden herumstehen?«
»Betrachte es als eine Lektion darin, sich in Geduld zu üben.«
Elliot war in die Rolle von Hektor geschlüpft, dem großartigsten Krieger der Trojaner, einem Königssohn, der sich ganz nach Belieben durch die Stadt bewegen konnte. Aus Tom hatte er eine Schildwache gemacht und ihn auf diese Weise an die Mauern gebunden. Beamer war ebenfalls eine Schildwache.
Das war Elliots Rache für sein Verhalten bei der Simulation am Mittwoch gewesen, mutmaßte Tom. Dabei waren sie ein Schwarm Piranhas gewesen. Beamer hatte beschlossen, ein Krokodil anzulocken, das sich in der Nähe befunden hatte. In der Hoffnung, gefressen zu werden, hatte er mit der Schwanzflosse gewackelt – »Von einem Kroko bin ich noch nie abgemurkst worden«, erklärte er Tom hinterher. Tom sah, wie Beamer gefressen wurde und beschloss, dem Krokodil in sein verletzliches Auge zu beißen. Dabei lenkte er dieses direkt auf Elliot zu. Der ältere Junge wurde mit einem einzigen Bissen verschlungen.
Positiv betrachtet, war es Tom gelungen, dem Krokodil ein Auge auszureißen und dieses zu verschlingen, bevor auch er gefressen wurde.
Beamer kam schweißnass zu Tom geschlurft. »Mein Gott, ist das langweilig.« Mit gewaltigem Getöse ließ er seinen schweren Bronzeschild fallen. »Willst du mit mir Selbstmord begehen? Wir könnten bis drei zählen und uns dann gegenseitig erdolchen.«
»Nee. Gegenseitiger Selbstmord ist mir zu sehr wie Romeo und Julia. Ich warte, bis Elliot nicht hinguckt, und springe dann runter, um gegen die Griechen zu kämpfen.« Tom sah über die Schulter, doch Elliot – als Hektor in seinem Sessel im Schatten sitzend – beobachtete sie wie ein Falke.
Unter ihnen hatte sich die Armee der Griechen neu formiert. Tom beugte sich neugierig vor und beobachtete, dass sich eine kleine Einheit von Soldaten entfernte. Sie huschten zur Mauer und wichen Speeren und Pfeilen aus, während sie eine Reihe von Säcken am Fuß der Mauer aufstapelten. Tom versetzte Beamer einen Stoß mit dem Ellbogen. »Sieh mal, ich glaube, sie werden angreifen.«
Beamer schaute desinteressiert hinunter. Dann zog er sein Schwert. »Nee, sieht mir eher so aus, als würden sie ein Picknick im Schatten veranstalten. Ich mache mich jetzt kalt.«
»Tu es nicht. Nein! Du hast doch noch so viel vor im Leben«, rief Tom auf dramatische Art und Weise.
»Ich muss! Sag meiner Freundin … Ich liebe sie!«, rief Beamer, weiter mitspielend. Er hob das Schwert, dessen Klinge im Licht der Sonne aufblitzte.
»Bis später, Mann.«
Beamer trieb sich das Schwert in den Bauch. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er wurde leichenblass, seine Augen traten hervor, und er stieß einen schrillen Schrei aus.
Mit einem süffisanten Lächeln schaute Tom seinem theatralischen Getue zu. Bei Simulationen war es anders als bei Fitnessübungen – in Angewandte Simulationen schmerzte es zu sterben. Aber bloß ein bisschen, ungefähr so wie dumpfe Kopfschmerzen, gerade so viel, um ihnen einen Grund zu geben, möglichst am Leben zu bleiben. Der Schmerz war jedenfalls nicht stark genug, um Beamer davon abzuhalten, den Tod zu suchen, wann immer er Gelegenheit dazu bekam. Und ganz sicher nicht so stark, wie Beamer es jetzt schauspielerte.
»Oh, oh, o mein Gott!«, schrie Beamer, während er zuckend zu Boden fiel. »O MEIN GOTT! Das tut weh!«
»Sicher doch«, sagte Tom träge. »Ich falle nicht drauf rein, Beamer.«
»Doch, Tom, es tut weh!«
»Jetzt übertreibst du aber allmählich, findest du nicht, Kumpel?«
Aber Beamer krümmte sich, und aus seinem durchbohrten Leib quoll Blut hervor. »Tom, Tom, hilf mir!« Mittlerweile schluchzte er. »Hilf mir. Mach, dass es aufhört! Es tut weh!«
Als Beamer anfing zu weinen, erstarb das Lächeln auf Toms Lippen. Ein Schauer des Unbehagens lief ihm über den Rücken. Ihm dämmerte, dass Beamer ihm nichts vorspielte. Eine tödliche Verletzung warf einen immer aus der Simulation raus. Sofort. Es durfte nicht sein, dass er sich vor Schmerzen wand. Er sollte entweder gesund werden oder verschwinden.
»Beamer, hey, alles in Ordnung mit dir?«
Das war zugegebenermaßen eine blöde Frage, doch Tom wusste nicht, was er sonst sagen sollte, während er sich auf einer Seite des Jungen niederkniete. Glitschiges Blut sprudelte über die Steine um seine gepanzerten Beine, und Beamers verzweifelter Blick richtete sich zu Tom hinauf. Er wollte etwas sagen, gurgelte etwas wie »Hilfe« und krümmte sich dann von Husten gequält. Blut spritzte ihm aus dem Mund.
Erstarrt blieb Tom an Ort und Stelle knien. Er hörte sein Herz hämmern. Ihm war, als könnte er sich nicht bewegen, als hielte ihn eine eisige Hand umklammert. Klappernde Schritte näherten sich ihm, und ein Paar feste, dunkle Hände packte Beamers zuckenden Körper.
»Was ist passiert?«, wollte Elliot wissen.
»Ich … wir wissen es nicht«, stotterte Tom.
»Beamer?«, rief Elliot und drückte Beamers Schultern auf den Boden. »Beamer? Stephen?«
Tom spürte, wie Beamers Blut an seinen Händen trocknete. Er sah zu, wie Elliot Beamer fragte, was denn los sei, als wenn das nicht offensichtlich gewesen wäre. Er hörte Beamer gurgeln und wimmern und sah, wie er sich ständig wand, um sich dem Schmerz und den Händen, die auf ihm lagen, zu entwinden.
Dann hob Elliot seine Hand und bewegte den Arm winkend auf und ab, nach links und nach rechts. Das war eine Sequenz von muskulären Impulsen, die dem Neuronalprozessor signalisieren sollte, jede aktive Simulation zu beenden. Elliot runzelte die Stirn und versuchte es mit dem anderen Arm noch einmal. Ratlos ließ er beide Arme sinken. »Ich kann die Simulation nicht stoppen.«
Beamer schrie gellend, brüllte immerzu, und Tom schaute zwischen Elliot und Beamer hin und her. Elliot winkte nun mit beiden Armen, so als würde er einen surrealen Tanz aufführen, und Beamer stieß immerfort diese gurgelnden Schmerzensschreie aus. Trotzdem lief die Simulation weiter.
»Ich hab’s!«, erkannte Tom plötzlich. Natürlich! Das würde Beamer sofort aus der Simulation werfen. Er zog sein Schwert aus der Scheide und schlug Beamer den Kopf ab.
Mit einem Aufschrei sprang Elliot hoch, während dunkles Blut über die Steine um sie herumspritzte.
»Da hast du es«, sagte Tom, zufrieden mit sich und seiner raschen Auffassungsgabe.
Elliot starrte ihn mit offenem Mund an.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht und die Ungewissheit des Augenblicks flößten Tom das nackte Grauen ein. Plötzlich erinnerte er sich an einen Film, den er gesehen hatte, bei dem Menschen erst in einem Videogame und dann auch im realen Leben starben … genau wie jetzt hier. Er hatte soeben Beamer in ihrer defekten Simulation getötet, und was, wenn es ein schwerer Defekt war und Beamer nun auch tot im Übungsraum lag?
»O Gott, er hatte wirklich Schmerzen«, rief Tom, dem nun die Ungeheuerlichkeit seines Fehlers klar wurde. »Du glaubst doch nicht, dass er wirklich tot ist, oder?«
»Nein«, erwiderte Elliot sofort.
»Ich habe ihn getötet. Ich habe Beamer getötet!«
»Tom, das Programm verhakt sich alle paar Monate. Ich habe so etwas schon ein Dutzend Mal erlebt. Niemand stirbt in einer Simulation.«
Tom stand nur da, atemlos in der heißen trojanischen Sonne, und schaute auf die kopflose Leiche seines Freundes hinab. Nach wie vor musste er an diesen Film denken. Dessen Titel fiel ihm nicht mehr ein. Warum ihm das so viel ausmachte, wusste er nicht, aber er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie der Titel lautete. Er zitterte am ganzen Leib.
Elliot legte ihm den Arm auf die Schulter. »Ist schon in Ordnung. Beamer ist aus der Simulation raus, und es geht ihm gut. Du hast richtig gehandelt. Du hast ihn nicht wirklich getötet. Ich werde diese Simulation beenden, dann wirst du es sehen.« Erneut fuchtelte er mit dem Arm herum, um sie zu beenden, die Stirn in Falten gelegt.
»Bist du dir ganz sicher, dass er nicht tot ist?«, fragte Tom erneut.
»Tom, definitiv«, beschwichtigte ihn Elliot und lachte dabei. »Es geht ihm gut.«
Tom sah in den blauen Himmel und spürte, wie der Wind ihm durch das Haar fuhr. Erleichterung überkam ihn. Nun fing auch er an zu lachen. »Wow. Also, einen Moment lang bin ich echt fast durchgedreht«, sagte er zu Elliot, obwohl dieser gänzlich damit beschäftigt war, die Simulation, die weiterhin nicht auf seinen Befehl ansprach, auszuschalten. »Ich habe es ernsthaft geglaubt. Einen Moment lang dachte ich ernsthaft, ich hätte Beamer get…«
Plötzlich explodierte die Welt um sie herum.
Tom war, als würde er schwerelos durch das All stürzen. Das Getöse in seinen Ohren übertönte seinen eigenen Schrei. Seine Hand schrammte an Steinen entlang, und er versuchte, sich Halt zu verschaffen. Als er es schaffte, war die Haut an seinen Fingern aufgerissen. Schwarzer Staub verdunkelte den Himmel und brannte ihm in der Lunge. Er lichtete sich gerade so weit, dass er die eingestürzten Mauern der Stadt enthüllte und auch Elliot, der sich hustend an der Mauer über ihm festklammerte.
Toms Arme brannten, während er weiter hinabrutschte. Ein Blick nach unten verriet ihm, dass seine Beine über der flachen Ebene baumelten. Da packte ihn eine feste Hand unter dem Arm, und er wusste, dass es Elliot war. »Komm!«
Tom erwischte Elliots Arm, und es gelang ihm, sich zurück auf die Überreste der Mauer hochzuziehen. Schreie erfüllten die Luft. Die Armee der Griechen unter ihnen drang durch das gesprengte Stück Mauer hindurch, um Troja einzunehmen.
Mit blankem Unglauben im Gesicht starrte Elliot nach unten. »Das ist nicht vorgesehen. Es sollte ein Trojanisches Pferd geben, keine Explosion.«
Auf einmal wurden ihrer beider Gehirne angepingt: Programmintegrität extern verletzt.
Nun ging Elliot ein Licht auf. »Es ist feindlicher Übergriff.«
Ein feindlicher Übergriff!
Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Plötzlich war es nicht mehr unheimlich. Tom schaute durch den Dunst nach unten und blinzelte, um den Staub aus seinen brennenden Augen zu bekommen. Mit einem Mal surrte sein Gehirn vor Erregung. Ein feindlicher Übergriff!
Er kannte die im Turm kursierende Version von feindlichen Übergriffen. Vor drei Jahren waren sie häufiger vorgekommen, als der erste Schwung von Auszubildenden sich den Intrasolaren Streitkräften anschloss. Die russisch-chinesischen Hacker konnten zwar nicht allzu tief in das System des Turms eindringen, doch in oberflächliche, weniger gesicherte Bereiche wie etwa die Programme der Angewandten Simulationen gelangten sie zuweilen schon. Gelegentlich hackten sich Kombattanten in den Kanal der amerikanischen Simulationen und machten sich einen Spaß daraus, den Part des Feindes zu übernehmen. Dabei schalteten sie die indo-amerikanischen Schmerzrezeptoren ein, da dies der größte Schaden war, den sie anrichten konnten.
Im ersten Jahr des Programms kam so etwas offenbar alle paar Monate vor. Keiner der indo-amerikanischen Auszubildenden verstand es zu hacken, daher gab es keine Revanche. Aufgrund privater Geschäftsvereinbarungen mit LM Lymer Fleet, dem Hersteller der russisch-chinesischen Neuronalprozessoren, konnten die Softwareberater von Obsidian Corp. auch keine Quellcodes für Gegenangriffe schreiben. Dies gehörte zu den Dingen, die sich änderten, als Blackburn ins Boot kam. Beim ersten Versuch eines feindlichen Einfalls in seiner Dienstzeit sendete er ihnen seinerseits etwas zurück. Was das war, wusste kein Mensch. Außerdem rüstete er die Firewall auf. Danach hatten die feindlichen Einfälle aufgehört – bis jetzt. Vielleicht hatte der russisch-chinesische Sieg bei Neptun sie ermutigt, es noch einmal zu versuchen.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, dieses Programm zu beenden«, beharrte Elliot, während er nach wie vor mit dem Arm die Befehlsgeste ausführte.
Doch Tom wollte gar nicht, dass es endete. Er blickte starr hinunter auf das Feld, wohl wissend, dass dies keine virtuellen Gegner waren. Es waren echte Feinde. Feinde, die sich an dem Programm zu schaffen gemacht hatten, um es so real wie nur möglich zu gestalten. Sie hatten ihre Schmerzempfindung hochgefahren und ihnen den Rückweg versperrt.
Wenn hier russisch-chinesische Kombattanten waren …
Dann konnte auch Medusa hier sein.
Der größte Krieger der ganzen Welt konnte sich in der gleichen Simulation aufhalten wie Tom. Direkt in greifbarer Nähe. Und er stand bloß hier herum, eine nutzlose Schildwache, von der Schlacht abgezogen.
»Ja! Jetzt bekomme ich die Option ›Ende‹ angezeigt!« Elliot lachte vor Erleichterung. Er wandte sich Tom zu. »Funktioniert die Endsequenz bei dir, oder muss ich dich abschalten, wenn ich draußen bin?«
»Warte mal.« Tom wandte sich ihm zu, wie elektrisiert und voller Entschlossenheit. »Geh noch nicht raus. Lass uns gegen sie kämpfen, Elliot. Komm schon. Du und ich. Hektor und … und irgendeine Schildwache. Lass uns gegen die Griechen antreten. Lass uns gegen die Russen und Chinesen antreten!«
»Du willst bleiben?« Elliot starrte ihn an. Diese Möglichkeit war ihm offenkundig überhaupt nicht in den Sinn gekommen. »Die Schmerzrezeptoren stehen auf volle Leistung, Tom. Du hast Stephen doch gesehen. Hier durchbohrt zu werden fühlt sich wirklich an, wie durchbohrt zu werden.«
»Das Risiko gehe ich ein! Elliot, nun komm schon. Das könnte der Wahnsinn werden! Zeigen wir ihnen, dass Amerikaner keine Feiglinge sind!«
Unter ihnen schrien die Menschen, die von der eindringenden Armee niedergemetzelt wurden.
»Komm, Elliot«, bat Tom. »Das ist meine einzige Chance. Du kannst ständig gegen diese Leute kämpfen. Ich schaffe es vielleicht nie in die CamCo. Ich kämpfe im realen Leben vielleicht nie gegen sie.«
»Bedeutet dir das so viel?«
»Hör zu, Elliot. Ich würde alles dafür geben … Hey, ich leiste den Treueeid. Du willst Treue? Du kannst von mir so viel Treue haben, wie du nur willst. Aber schalte mich nicht ab!«
Elliot schüttelte den Kopf, gereizt, aber – das hätte Tom schwören können – auch amüsiert. »Du bist im falschen Zeitalter geboren worden, Tom. Du hättest ein Berserker sein sollen. Also schön. Ich werde dich nicht abschalten. Aber zieh als Krieger in den Kampf.« Er machte eine Handbewegung, und Toms Körper verwandelte sich.
Sein erster Impuls war es, Elliot dafür umzubringen, ihn erneut in ein Mädchen verwandelt zu haben. Doch dann begriff er, dass diese Mädchenfigur der fähigste, in dieser Simulation noch nicht in Anspruch genommene Krieger war: Penthesilea, die Königin der Amazonen.
Elliot salutierte vor ihm. »Mach deinem Land keine Schande, Rekrut.«
»Nein, Sir!«
»Jetzt musste ich dir nicht einmal das Sir herausquetschen, was? Tja, das reicht mir dann als Treueeid«, sagte Elliot grinsend und verschwand aus der Simulation.
Und so blieb es Tom, dem alleinigen, nicht virtuellen Verteidiger von Troja überlassen, gegen die gesamte Armee der Griechen anzutreten. Er wirbelte herum, und die Erhabenheit des Augenblicks überwältigte ihn. Dass er wahrscheinlich aufgespießt und so elendig enden würde wie Beamer, war ihm egal. Es machte ihm nicht einmal etwas aus, dass es wehtun würde. Hier schlug jetzt seine Ruhmesstunde.
Er beobachtete die Angreifer und wartete auf einen bestimmten. Wartete darauf, dass diese eine Person sich zeigen würde, jener Kämpfer, den er überall wiedererkennen würde.
Und als er ihn durch die wogende Masse der Armee, die Staubwolken und die flimmernde Hitzewelle hindurch erspähte, erkannte Tom ihn tatsächlich sofort.
Medusa spielte Achilles. Der mächtigste Krieger in der Welt von heute kämpfte als der Furcht erregendste Krieger der antiken Welt.
Es war so passend, dass Tom Beifall hätte spenden wollen.
Stattdessen erblickte er ein verirrtes, reiterloses Pferd, das in panischer Flucht über den staubtrockenen Boden unterhalb von ihm entlanggaloppierte. Er passte den richtigen Moment für seinen Sprung ab und landete direkt auf dem Pferderücken. In Penthesileas kampfgestähltem Körper gelang ihm dies mühelos. Ihre kräftigen Beine lenkten den muskulösen Körper des Pferdes, und Tom hielt auf die Schlacht zu. Dabei ignorierte er die um ihn herum wütenden Krieger. Sie waren für ihn nur Hindernisse, die ihm den Weg zu Medusa versperrten. Er musste Medusas Aufmerksamkeit auf sich ziehen, daher versuchte er, die anderen russisch-chinesischen Kombattanten in den Reihen der virtuellen Soldaten auszumachen.
Er erkannte Rusalka, bekannt als Svetlana Moriakova, die russische Antwort auf Elliot Ramirez und die einzig öffentliche russisch-chinesische Kombattantin. Sie spielte Agamemnon und verriet sich durch die Art, wie sie sich zurückhielt und dafür sorgte, dass andere die volle Wucht des Angriffs abfingen. Tom hatte genug vergangene Schlachten der CamCo gesehen, um diese Taktik auf den ersten Blick zu erkennen. Er hob Bogen und Pfeil, erregte ihre Aufmerksamkeit und zwinkerte. Genau in dem Moment, als sich die Überraschung auf ihrem Gesicht abzeichnete, durchbohrte ihr sein Pfeil die Kehle.
Als Nächstes entdeckte er Roter Terror in der Rolle von Odysseus. Das war ein Typ, der seine Identität durch die Art und Weise preisgab, wie er die Versprengten und Schwächsten niedermetzelte. Er kämpfte, wie Roter Terror es auch im All tat – er griff immer zuerst die empfindlichste Stelle an. Tom umklammerte seinen Bogen mit der linken Hand, zog mit der Rechten sein Schwert und schlug Roter Terror, als er an ihm vorbeipreschte, den Kopf ab.
Dann erblickte er den Kombattanten Kalaschnikow, der den Patroklos gab, erkennbar an der Art, wie er niederträchtig kämpfte und Toms Pferd niedermetzelte. Tom rollte sich weg von dem wiehernden, zuckenden Tier, sprang auf die Beine und trieb Kalaschnikow sein Schwert in das Auge.
In diesem Moment erblickte Medusa Tom.
Medusa stürmte auf seinem Streitwagen durch die Menge der Soldaten. Ruckartig brachte er den Streitwagen nur wenige Meter vor Tom so abrupt zum Stehen, dass der Staub in einer großen Wolke um seine glänzende Rüstung emporquoll.
Tom blieb einfach an Ort und Stelle, das Schwert in der Hand, ein breites Grinsen auf den Lippen. Er starrte Medusa an, und Medusa starrte ihn an, und in diesem Augenblick, in dem sich seine Träume erfüllten, fiel Tom nur eines ein, was er sagen konnte.
»Wie geht’s?«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bereute er es auch schon, da sie ziemlich dämlich klingen mussten.
Medusa fixierte ihn mit einem forschenden Blick. »Du bist nicht mit den anderen fortgelaufen.«
»Ich würde nie vor dir weglaufen.«
»Ich würde dich mutig nennen«, sagte Medusa, »aber vermutlich bist du sehr dumm.«
Tom lachte. Ihm war fast schwindelig, weil das hier wirklich stattfand. »Hast mich sofort ertappt … Medusa.«
Medusa zuckte leise zusammen. »Du kennst mich.«
»Ich würde dich in jeder Schlacht wiedererkennen«, gab Tom zu. »Ich denke ständig an dich.« Er wusste, wie kriecherisch sich das anhören musste, aber es war ihm gleichgültig.
»Du erscheinst mir ein wenig gestört«, bemerkte Medusa.
Tom zuckte mit den Schultern. »Das trifft es wohl.«
Dann griff Medusa an.
Tom wusste, dass er auf freiem Feld keine Chance hatte. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, zog er sich mitten in das Getümmel der Soldaten zurück. Er schaute sich nach etwas um, das ihm nützlich sein konnte, und erblickte den gewölbten Schild eines gefallenen Griechen. Dabei nahm er wahr, wie sich Medusa ebenfalls einen Weg durch die Armee der Trojaner frei kämpfte, um ihn wie ein erbarmungsloser Todesengel zu stellen. Als das Rumpeln der Räder zu einem Dröhnen in seinen Ohren anschwoll und der Schatten des Streitwagens das Licht der Sonne um ihn herum verdunkelte, wirbelte Tom herum, richtete den Schild aus, hob das Schwert – und lenkte das gleißende Sonnenlicht direkt in Medusas Augen.
Gerade als Medusa einen Speer warf, wurde er geblendet. Die Waffe zischte an Toms Ohr vorbei.
Tom schleuderte den Schild auf Medusa, um diesen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er machte einen Sprung vorwärts, schlug mit dem Schwert zu und stieß es in den Nacken eines der Pferde vor dem Streitwagen. Roter Terror war nicht der Einzige, der niederträchtig kämpfen konnte.
Das Pferd wieherte entsetzlich auf und stürzte zu Boden. Auf dem staubigen Boden schlug es aus, brachte dabei das zweite Pferd ins Taumeln, bis schließlich der ganze Streitwagen auf die Seite kippte. Tom brachte sich mit einem Sprung vor dem fallenden Gefährt in Sicherheit, sah, dass Medusa es ihm gleichtat und ebenfalls von dem umstürzenden Streitwagen wegsprang. Mit einem Triumphschrei preschte Tom auf den Krieger zu, bereit, Medusa zu durchbohren, noch bevor sich dieser sein Schwert wieder zurückholen konnte.
Medusa setzte die einzige Waffe in seiner Reichweite ein, eine Handvoll Sand, die er Tom ins Gesicht warf und ihn damit genau in diesem kritischen Moment die Sicht nahm. Toms Schwert fuhr in den Boden, und ein Tritt in die Magengrube ließ ihn zu Boden wanken und raubte ihm den Atem.
Plötzlich stand Medusa wieder auf den Beinen, und blitzend fuhr seine Klinge auf Toms Kopf zu. Tom rollte sich zur Seite, dankbar für die Gelenkigkeit von Penthesileas Körper. Er rappelte sich wieder auf und wehrte Medusas nächsten Hieb mit seinem Schwert ab. Und den nächsten. Doch Medusa setzte ihm erbarmungslos zu, und seine rohe Kraft überstieg Penthesileas. Toms Arme gaben unter den bis ins Mark gehenden Schlägen nach, und es gelang ihm nur knapp, der niederfahrenden Klinge zu entgehen. Als Medusas nächster Hieb folgte, gab Tom mit seinen Armen vollends nach und nutzte den Schwung, um sich zu drehen. Er brachte Medusa eine klaffende Wunde am Rücken bei und setzte dann zurück, bevor Medusa die Klinge schwenken und ihn durchbohren konnte.
Nach Atem ringend standen sie einander gegenüber. Dann wirbelte Medusa weg von ihm, und gerade als Tom sich daranmachte, den Krieger zu verfolgen, schwang er erneut herum und warf etwas in die Luft. Tom spürte, wie etwas an seinen Beinen kitzelte, und als er nach unten schaute, sah er, dass die Zügel des Streitwagens sich um seine Gliedmaßen geschlungen hatten.
Er schlug mit dem Schwert nach unten, um das behelfsmäßige Lasso zu durchtrennen – doch es war bereits zu spät. Medusa zog die Zügel ruckartig an und straffte die Fessel. Tom stürzte zu Boden. Medusa sprang auf das verbliebene Pferd, trieb es zum Galopp an, indem er ihm die Hacken in die Flanken rammte und schleifte Tom über den Boden hinter sich her. Der Sand schürfte ihm an einer Seite die Haut auf. Mit einem wilden Hieb seines Schwertes gelang es ihm endlich, die Zügel zu durchtrennen, woraufhin sich Tom mehrmals überschlug und keuchend liegen blieb.
Medusa galoppierte noch eine Weile weiter, bevor er wieder umkehrte. Das Licht der Sonne glänzte auf seinem stählernen Helm und seiner Rüstung.
Tom richtete sich mit wackeligen Beinen auf und trat die Reste der Zügel von sich. Das Schwert hielt er dabei erhoben und wartete. Und wartete. Seine Kräfte schwanden, sein Atem ging in abgehackten Stößen, und dort, wo seine Haut aufgerissen war, brannte sein Körper wie Feuer. Lange würde es nun nicht mehr dauern.
Endlich griff Medusa an. Sein Pferd galoppierte schneller und schneller und schnaubte dabei immer lauter. Tom wappnete sich für den letzten Angriff, während das klappernde Geräusch der Hufe seine Ohren erfüllte und der Staub ihm die Sicht nahm. Im letzten Moment sprang Medusa vom Pferd und überließ es diesem, mit wild schlagenden Hufen Tom niederzureiten. Es folgte ein Schlag auf seine Rippen, auf seinen Oberkörper – etwas brach in ihm.
Tom schleppte sich noch ein Stück weit. In seinem Körper brannte es wie Feuer, und jedes Ringen nach Luft fühlte sich wie ein Dolchstich an. Einer seiner Lungenflügel versagte den Dienst. Beim Atmen gurgelte es, und der Schatten von Achilles tauchte über ihm auf. Er sah, wie das schattenhafte Schwert sich hob und dann herabfuhr.
Zuerst tat es nicht weh. Zuerst. Doch Medusa riss die blutige Klinge heraus und trat Tom dabei, sodass dieser auf dem Rücken lag. Eine schwarze Gestalt in einem Lichtkreis aus Sonnenlicht ragte über ihm. Sein Schrei kam Tom als Gurgeln über die Lippen, während ihn glühende Qualen überwältigten, in seine Gliedmaßen ausstrahlten, an jedem Nervenstrang rissen. Er bekam keine Luft mehr, konnte nicht mehr atmen …
Medusa kniete sich neben ihn. »Bestimmt wünschst du dir jetzt, du wärst mit den anderen rausgegangen.«
Toms Blickfeld verdunkelte sich an den Rändern, während sein Körper sich beim vergeblichen Ringen um Sauerstoff vor Schmerz zusammenkrümmte; der Federbusch auf Medusas Helm wurde größer und dunkler, während dieser sich noch näher zu ihm herunterbeugte, um ihn sterben zu sehen. Tom bekam noch halb mit, wie Medusas Hand ihm den bleischweren Hinterkopf hob und ihm den Helm abstreifte, sodass sein blutiges Haar herausquoll. Achilles nahm sich einen Moment Zeit, um auf die sterbende Penthesilea hinabzuschauen. Und während Tom allmählich das Bewusstsein verlor, glaubte er zu sehen, wie sich Medusas Lippen zu einem leisen Lächeln kräuselten – und trotz seiner Höllenqualen verzog auch er die Lippen zu einem blutigen Grinsen.
Du bist haargenau so, wie ich dich erträumt habe.
Das Letzte was er spürte, waren Medusas Hände, die seinen Kopf umschlossen und ihn wiegten, bis er in die Dunkelheit glitt.
Im Simulationsraum riss Tom die Augen auf.
Elliot saß mit verschränkten Armen am Ende seines Feldbettes. Der Rest der Simulationsgruppe hatte sich hinter ihm versammelt und starrte auf Tom herab, als wäre dieser ein sonderbares wissenschaftliches Experiment. Als Tom sich aufrichten wollte, halfen ihm gleich mehrere Hände.
Er betastete seinen schmerzenden Kopf. Elliot sprang vom Bett und kam zu ihm herüber. Er wölbte seine dunklen Brauen. »Deine Herzfrequenz ist da drüben am Ende ein bisschen durchgedreht. Wir haben uns Sorgen gemacht. Wie ist es gelaufen?«
»Kalaschnikow, Roter Terror und Rusalka ausgeschaltet.«
Elliot lachte. »Rusalka von einem Rekruten ausgeschaltet. Das werde ich Svetlana aufs Butterbrot schmieren, wenn wir das nächste Mal am gleichen PR-Event teilnehmen.«
»Dann hat mich Medusa erwischt.«
Elliot schockierte ihn, indem er ihm auf die Schulter klopfte. »Gut gemacht, Tom.«
Tom erwiderte Elliots Grinsen. Elliot hatte ihn dort gelassen, hatte ihm eine Chance gegeben, Medusa herauszufordern. Er war überrascht. Nun war es ihm nicht mehr möglich, Elliot Ramirez als Idioten Ramirez zu betrachten.
Die Gruppe um ihn lichtete sich, und alle verstauten die Kabel unter den Betten im Simulationsraum. Tom blieb noch eine Weile liegen. Ihm schwirrte der Kopf von all dem, was geschehen war. Als er schließlich aufstand, tat er dies nur, um zu Beamer zu gehen, der auf seinem Feldbett lag, die Beine bis an die Brust angezogen, die Arme um sie geschlungen. Er wirkte blasser als seine Figur in der Simulation, und seine Sommersprossen hoben sich deutlich von seiner weißen Haut ab.
Tom winkte mit der Hand vor seinen Augen hin und her. Beamer schreckte vor ihm zurück und kroch, nach Luft schnappend, aus dem Bett. »Lass mich!«
»Tom, lass ihn in Ruhe«, befahl Elliot leise.
»Wir sind Freunde.«
Elliot zog ihn mit festem Griff zurück. »Überleg doch mal: Du hast ihn vorhin getötet.«
»Jetzt hör aber auf.« Ungläubig wandte sich Tom Beamer zu. »Ich habe dich nicht wirklich getötet. Und hey, ich bin auch gestorben. Tod durch Schwert in den Bauch.« Er umklammerte seinen Unterleib und imitierte sein eigenes Gurgeln, um dann in einer theatralischen Geste zusammenzubrechen und zu Boden zu fallen. Doch als er wieder auf die Beine kam, schaute Beamer ihn gar nicht an.
Tom wurde ärgerlich. Beamer starb doch ständig. Dieser Tod war nun nicht gerade glücklich für ihn gelaufen – aber mittlerweile ging es ihm wieder gut. Auch Tom war gestorben, und er hatte sich noch nie in seinem Leben so lebendig und aufgekratzt gefühlt.
»Nun komm schon, Beamer! Ich hab dich doch nur zu deinem eigenen Besten enthauptet.«
Beamer bedachte ihn mit einem düsteren Blick, so als sähe er ihn gar nicht wirklich. Elliot trat zwischen die beiden und zog dessen verschwommenen Blick damit auf sich. »Stephen, soll ich die Sozialarbeiterin für dich rufen?«
»Ja, dann fühlt er sich bestimmt besser«, sagte Tom. »Nenn den Kerl ruhig Warmduscher.«
Beamers Blick schnellte nun über Elliots Schulter hinweg zu ihm. Er fixierte Tom eine ganze Weile und stürzte dann aus dem Raum.
Elliot seufzte und wandte sich Tom zu. »Ich glaube, wir müssen uns irgendwann mal darüber unterhalten, wie man emotionale Sensibilität an den Tag legt.«
Verwirrt von alledem kehrte Tom zu seinem Feldbett zurück. Er steckte sein Kabel in den Steckplatz und richtete sich dann wieder zu voller Größe auf. Dabei bemerkte er Wyatt, die neben seinem Bett stand und auf ihn wartete.
»Ich finde, du bist emotional sensibel, Tom.«
Tom begegnete ihrem ernsten Blick. »Danke, Wyatt.«
Sie nickte knapp, zufrieden darüber, dass sie ihre Aufgabe erledigt hatte, und ließ ihn an Ort und Stelle stehen.
Verwirrt blickte Tom ihr hinterher. So etwas zu sagen war nett von ihr. Andererseits war sie nun auch nicht gerade Expertin in Sachen emotionale Sensibilität.