ZWÖLF
Der feindliche Übergriff löste im Turm etwas aus, das Tom für eine lächerliche Überreaktion hielt. Jedes einzelne Mitglied von Elliots Simulationsgruppe wurde ins Erdgeschoss und dort in eine Isolierzelle neben der Memografenkammer geführt. Blackburn schloss sie nacheinander an das Gerät an, um ihre Erinnerungen an den Zwischenfall aufzurufen. Marsh, Cromwell und Blackburn schauten sich gemeinsam die Aufnahmen der Vorfälle auf dem Bildschirm an.
Da Tom derjenige war, der als Einziger in der Simulation verblieben war, ließ man ihn warten, bis alle anderen verhört worden waren.
»Wirklich clevere Entscheidung zurückzubleiben, Raines«, bemerkte Blackburn, als Tom endlich an der Reihe war. »Haben Sie ernsthaft geglaubt, Sie könnten diese Schlacht im Alleingang gewinnen?«
»Ich dachte, ich versuch’s halt mal«, erwiderte Tom gereizt.
»Es gibt Einsatzregeln, Mr Raines.« General Marsh hob seine Stimme an. »Die sind in Ihrem Neuronalprozessor gespeichert. Sie wussten, dass Sie die Simulation hätten verlassen sollen.«
Den Worten des alten Mannes zum Trotz konnte sich Tom des Eindrucks nicht erwehren, dass Marsh für gut befand, was er, Tom, getan hatte.
Gleiches galt auch für Major Cromwell. Sie betrachtete ihn mit funkelnden, erwartungsvollen Augen. »Wir haben die mutmaßlichen IPs von russisch-chinesischen Kombattanten mit den IPs verglichen, die Kontakt mit unseren Servern herstellten. Sie haben es geschafft, die echten Kombattanten unter den virtuellen Figuren zu identifizieren.«
»Ich musste sie bloß ein wenig beobachten.«
»Haben Sie auch ihre Rufzeichen herausbekommen?«, fragte Cromwell und deutete auf den Bildschirm. »Irgendeine Vermutung?«
»Ist das wirklich der Zeitpunkt …«, fing Blackburn an.
»Wagen Sie einen Versuch, Raines«, forderte Cromwell ihn auf und ließ Blackburn verstummen, indem sie ihn schlichtweg ignorierte. Sie ging die Bilder der Kombattanten durch, denen er gegenübergestanden hatte.
Tom benannte sie. »Rusalka, Roter Terror, Kalaschnikow …«
Cromwells Lippen zuckten, und da wusste er, dass sie zu den gleichen Ergebnissen gekommen war. »Und Medusa«, vollendete sie für ihn und deutete dabei auf ein Standbild von Achilles.
Und Medusa. Das war das Beste an der ganzen Sache.
Nachdem Cromwell gegangen war, beantwortete Tom noch weitere Fragen. Dann versank er wieder in seiner Erinnerung an den Kampf und ging ihn erneut innerlich durch. Marsh und Blackburn stritten sich derweil über den Sicherheitsverstoß.
»… beim letzten Mal eindeutig vergessen. Ich werde etwas vorbereiten lassen, das wir ihnen zurückschicken …«
»Nein, werden Sie nicht«, unterbrach ihn Marsh scharf. »Das Hauptaugenmerk sollte auf Ihrer Firewall liegen, Lieutenant, nicht auf Vergeltungsmaßnahmen. Obsidian Corp. vertritt schon seit Monaten beim Verteidigungsausschuss den Standpunkt, ein Mensch allein könne diese ganze Anlage nicht im Griff haben, und nach dieser …«
»Lustig, dass Sie Obsidian Corp. ansprechen. Ich hatte gerade daran gedacht. Sind von deren Beratern in letzter Zeit welche hier im Turm gewesen, Sir?« Blackburn musste die Antwort auf Marshs Gesicht abgelesen haben, denn er stieß ein raues Lachen aus. »Sie sind es, nicht wahr?«
»Senator Bixby hatte um eine Führung gebeten, und einige Gäste aus dem Unternehmen haben ihn begleitet. Das konnte ich ja schlecht ablehnen …«
»Bei allem Respekt, General, dann bin ich nur überrascht, dass es nicht schon früher passiert ist. Sie brauchten sich nur zehn, zwanzig Sekunden während der Führung heimlich zu entfernen. Das reichte, um ein kleines Programm in das System hochzuladen.«
»Das ist eine schwerwiegende Anschuldigung, Lieutenant«, warnte Marsh. »Ich schlage vor, dass Sie das für sich behalten. Ich werde Schwierigkeiten bekommen, wenn ich dies dem Verteidigungsausschuss vorlege. Die werden mich unter Druck setzen, Ihnen ein Unterstützungsteam an die Seite zu stellen …«
»Wir haben das Spielchen doch schon mal gespielt, General, und Sie wissen, dass wir dabei immer den Kürzeren ziehen. Die werden sich meine Software in aller Ruhe anschauen, und dann wird Joseph Vengerov sie abwerben.«
»Dann nehmen Sie einen Rekruten. Sie haben doch gesagt, dieser Harrison wäre ein fähiger Kopf …«
»Aber nicht vertrauenswürdig. Ich brauche … Da ist so ein …« Blackburn verstummte und wirbelte herum, um zu sehen, ob Tom noch da war. »Worauf warten Sie denn noch, Raines? Raus hier.«
»Wegtreten«, korrigierte ihn Marsh, die Augen auf Blackburn gerichtet.
Tom war froh, den beiden die Sache zu überlassen. Er glitt aus seinem Stuhl und verließ das Zimmer. Dabei dachte er immer noch an dieses sanfte Lächeln, das sich während seines Todes auf Medusas Gesicht abgezeichnet hatte. Er erinnerte sich an die Hände, die seinen Kopf gewiegt hatten, und überlegte erneut, ob Medusa wohl ein Mädchen war. Dass ein Typ so etwas tat, konnte er sich nicht vorstellen, nicht einmal dann, wenn sein Avatar eine Frau war. Er würde Medusa noch einmal entgegentreten und es herausfinden. Und beim nächsten Mal würde er gewinnen. Er war so dicht davor gewesen – es war das Pferd gewesen, das ihn erwischt hatte. Aber beim nächsten Mal … beim nächsten Mal …
Es musste einfach ein nächstes Mal geben.
Tom sann nach wie vor darüber nach, als im Lafayette-Raum alle Auszubildenden zusammengerufen wurden, um den feindlichen Übergriff zu besprechen. Die meisten Rekruten saßen bei ihren Kameraden aus Angewandte Simulationen, sodass Tom sich neben Wyatt niederließ.
Ihnen blieben noch einige Minuten, bevor Marsh auf die Bühne gehen würde. Also packte Tom die Gelegenheit beim Schopf. Er stupste Wyatt an und fragte: »Gibt es eine Möglichkeit, mit deinem Computer den Computer eines anderen zu kontaktieren?«
»Ja. Man nennt das E-Mail«, gab Wyatt zurück.
»Nein, ich meine, wenn du von jemandem nur die IP-Adresse kennst«, fragte Tom und dachte daran, was Cromwell gesagt hatte, als es darum ging, dass der Turm die russisch-chinesischen IPs speicherte. »Kannst du einem anderen eine Nachricht auf seinem Computer hinterlassen, auch wenn dieser Computer dir vorher keinen Zugang gewährt?«
»Ist es jemand im Turm? Falls ja, kannst du Netsend benutzen.« Sie schwieg einen Moment, während sie etwas auf ihrer Tastatur eingab. Dann:
Siehst du?
Tom zuckte zusammen. Das Wort wurde gerade auf seinem Infoscreen eingeblendet.
Er verbrachte ein paar Minuten, um dahinterzukommen, wie sie es gemacht hatte. Wyatt wies ihn dabei auf seine Fehler hin. Dann tippte er auf seiner eigenen Tastatur.
So?, sendete er zurück.
Genau. Du bist ja doch nicht dumm!
Tom lachte. »Danke. Das ist bestimmt ein Riesenschock für dich.« Er gab die nächsten Worte ein und sendete sie ihrem Prozessor. Und warum machen das nicht alle?
Weil die Leute faul sind. Sie machen sich nicht die Mühe, Sachen auszutüfteln, wenn man Zeit braucht, um sie zu lernen … so wie diese ganzen Funktionen des Neuronalprozessors. Nachdem sie das gesendet hatte, nickte sie ihm kurz vertraulich zu.
Tom zuckte mit den Schultern. Vermutlich hätte er im Namen fauler Menschen beleidigt sein sollen, doch das war er nicht. Wie sicher ist es?, gab er ein.
Sie tippte erneut: Ich habe diese Unterhaltung verschlüsselt. Ich bringe dir den Code bei, wenn du dir zutraust, ihn zu erlernen.
Ab und zu lerne ich schon mal was. Und jetzt kurz eine ganz andere Frage: Was, wenn ich so etwas wie das hier an die IP eines Computers senden will, der nicht im Turm ist?
Sie sah ihn prüfend an, bemüht herauszufinden, worauf er hinauswollte.
Tom mied ihren Blick. Er wollte wirklich nur in Kontakt mit Medusa treten und herausfinden, ob der Kerl – oder das Mädchen – irgendwann mal online gegen ihn kämpfen würde. Aber jemand, der es nicht besser wusste, konnte glauben, er täte etwas Verbotenes. Immerhin war Medusa ihr Feind.
»Ich frage deshalb, weil Beamer es versuchen könnte«, sagte Tom. »Siehst du, dass er nicht einmal hier ist?«
Wyatt schaute sich im Raum um. »Ich glaube, er ist wieder auf seine Stube gegangen.«
»Ja.« Tom zupfte an einem großen Splitter am Rücken der Holzbank vor ihnen herum. »Er sah echt mitgenommen aus. Vielleicht käme er besser drauf, wenn er eine Möglichkeit hätte, seine Freundin zu kontaktieren … Du weißt schon. Ohne sich wegschleichen zu müssen, wo immer er sich nachts hinschleicht.«
»Er geht ein großes Risiko ein.«
Toms Hand verharrte auf der Bank. »Weißt du, wo er es tut?«
Zehnte Etage, sandte sie ihm als Nachricht. Er schleicht sich in den Aufenthaltsraum der Offiziere oder sogar in Blackburns Büro.
»Echt?«, fragte Tom, so beeindruckt von Beamers Wagemut, dass er an nichts anderes denken konnte.
Es ist leichtsinnig. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, so lange nicht erwischt zu werden. Er hat mich gebeten, sein GPS-Signal zu verbergen. Ich habe einen Router eingerichtet – sein GPS sendet das Signal zu dem Router, und dann sendet der Router es zum internen Ortungssystem, sodass dieses den Standort des Routers als seinen Standort verzeichnet. Es sieht dann so aus, als säße er bloß drei Stunden lang auf dem Klo.
Tom musste laut lachen. »Was Dr. Gonzales wohl davon halten würde?«
»Was habt ihr beide da zu bereden?«, krähte Vik von mehreren Reihen vor ihnen.
Ich hasse Vik, sendete ihm Wyatt eine Nachricht.
»Wyatt hasst dich«, rief Tom Vik zu.
Vik brüllte vor Lachen. »Die Grenze zwischen Liebe und Hass ist hauchdünn, Enslow.« Er hielt zwei Finger hoch und presste sie fest zusammen, um sein Argument deutlich zu machen. »Dünn, dünn, dünn.«
Sie reagierte gereizt auf Viks Gelächter, während dieser sich wieder der Bühne zuwandte. Dann schaute sie Tom finster an. »Ich hatte dir das vertraulich gesagt.«
»Aber dass du Vik hasst, weiß doch jeder.«
»Darum geht es nicht.«
»Zurück zu Beamer«, drängte Tom. »Kann er die IP benutzen, um über Netsend eine Nachricht auf ihren Computer zu senden?«
»Kommt drauf an. Da draußen sind wahrscheinlich Tausende Computer mit der gleichen IP-Adresse. Du müsstest mehr haben als das. Du brauchst die Netzwerkadresse. Und wenn du die hast, hängt es wirklich davon ab, wie gut die Firewall auf ihrem Server ist, es sei denn, sie wüsste, dass er versucht, sie zu kontaktieren.«
»Dann müsste Beamer sich also durch ihre Firewall hacken.«
»Im Prinzip ja.«
»Na toll.« Ernüchtert ließ Tom sich wieder in seinen Stuhl fallen. Der Turm mochte zwar Medusas IP-Adresse gespeichert haben, doch diese IP musste auf dem Server in der Sun-Tzu-Zitadelle in der Verbotenen Stadt, China, sein, einem Ort mit einer der am stärksten gesicherten Firewalls im ganzen Sonnensystem. In die würde er sich nie im Leben hacken können.
Vorn stieg nun Marsh auf die Bühne. Schweigen breitete sich aus. Der General stand da und musterte sie ernst. »Wie Sie gehört haben dürften, gab es heute einen sehr schwerwiegenden Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen. Einer Reihe russisch-chinesischer Kombattanten ist es gelungen, unsere Firewall zu knacken und in eine Simulation einzudringen. Sie waren lediglich hier, um einer Gruppe von Rekruten übel mitzuspielen, aber die Sache stellt einen internen Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen dar. Nicht nur weil sie unsere Firewall überwunden haben, und auch nicht nur weil einer unserer Rekruten sich nicht an die Vorschriften hielt und nicht abrückte, sondern …«
Als sich Blicke auf ihn richteten, versank Tom in seiner Bank. Jetzt aber mal halblang. Er hatte sich behauptet. Wenn man nicht das totale Weichei war, musste man das doch tun.
»… sondern auch, weil Sie alle weder die offensiven noch die defensiven Programmierfähigkeiten besitzen, um solch einer Cyberattacke etwas entgegenzusetzen. Ich begreife jetzt, dass wir den Takt, was das Programmieren angeht, erhöhen müssen, damit wir Sie dazu bringen, größere Fortschritte zu machen. Ich werde dem morgigen Downloadstream ein zweites Informationspaket beifügen, was die Einsatzregeln betrifft. Zusätzlich bekommen Sie eine neue Liste von Strafen bei Nichteinhaltung. Und selbstverständlich bewillige ich das Ersuchen von Lieutenant Blackburn um weitere Übungsmaßnahmen.«
Tom machte einen hämischen Ausdruck auf Blackburns Gesicht aus, der nichts Gutes verhieß.
Marsh beugte sich über das Podium. »Auszubildende, Kombattanten – es wird Zeit für ein paar Kriegsspiele.«
Am nächsten Morgen umriss Blackburn im Unterricht die Regeln. »Im Lauf der nächsten fünf Tage werden wir im gesamten Turm ein Gefecht austragen, und zwar ausschließlich auf der Programmierebene. Das bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit von Ihnen kein Glück haben wird, es sei denn, Sie reißen sich am Riemen. Sie können Zorten II verwenden oder meinetwegen auch Klondike, wenn Sie damit umgehen können. Programmieren Sie ein Virus, infizieren Sie damit jemanden Ihrer Wahl und genießen Sie hinterher, was Sie damit angerichtet haben. Ich werde es jedenfalls, das weiß ich jetzt schon.«
Im ganzen Raum kam Unruhe auf. Tom hielt es kaum noch auf seinem Platz aus. Zwar hasste er Programmieren, doch die Vorstellung eines totalen Schlagabtausches ließ eine gespannte Vorfreude in ihm aufkommen. Vielleicht konnte er ja nur für diese Sache einmal wirklich hart arbeiten und ein paar schlagkräftige Programme auf die Beine stellen.
»General Marsh möchte natürlich, dass Sie Ihre Freude daran haben. Deswegen werden wir einen Wettkampf zwischen den fünf Divisionen veranstalten. Die Division, welche die meisten erfolgreichen Attacken zustande bringt, wird offizieller Sieger. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch anmerken, dass es niemandem in der gleichen Division erlaubt ist, zweimal das gleiche Virus zu verwenden. Falls Ihnen vorschwebt, einfach nur ein und denselben Code kreisen zu lassen und auf diese Weise Punkte einzuheimsen, vergessen Sie’s also gleich wieder. Und wenn jemand aus einer anderen Division ein Virus bei Ihnen einsetzt? Tun Sie sich keinen Zwang an, es schamlos zu stehlen, und setzen Sie es bei jemand anderem ein. Dagegen ist nichts einzuwenden.«
Heather zeigte auf. »Was bekommen wir, wenn wir gewinnen, Sir?«
»Nichts«, erwiderte Blackburn.
Einen Moment lang herrschte Stille. Dann zeigte Heather erneut auf. »Und warum sollten wir Krieg gegeneinander führen, wenn wir gar nichts dafür bekommen? Was springt dabei für uns heraus, Sir?«
Blackburn kicherte. »Sie sind mir eine geborene Söldnerin, nicht wahr, Ms Akron? Und ich habe geglaubt, hier leben Hunderte von Teenagern auf engem Raum miteinander. Was denn, haben Sie sich etwa alle so lieb, dass Sie sich nicht vorstellen können, so etwas zu tun?« Er ließ seinen Blick über sie schweifen. »Gibt es hier denn keinen Neid, keine Rivalitäten, keine Fehden oder schlicht und einfach das altmodische Verlangen danach, dem anderen eine Nasenlänge voraus zu sein? Nun, hier ist sie, direkt vor Ihnen – die eine große Möglichkeit, die Sie bekommen, es den anderen zu zeigen. Und ja, ich weiß, was jetzt mancher von Ihnen denkt. Sie denken: Ich werde das einfach aussitzen, dann greift mich schon keiner an. Wissen Sie was?« Er legte sich eine hohle Hand an den Mund und flüsterte weithin hörbar ins Mikrofon: »So funktioniert die Welt nicht, und so funktioniert es auch hier im Turm nicht. Wenn Sie es darauf ankommen lassen und es aussitzen wollen, dann kann ich Ihnen garantieren, dass Sie für jemand aus einer anderen Division leichte Beute werden.«
Plötzlich begegneten sich Toms und Karls Blicke. Karl fuhr sich mit der flachen Hand über die Kehle. Tom legte mit Daumen und Zeigefinger auf ihn an.
Los geht’s, dachte Tom vergnügt.
»Hier noch ein paar Regeln. Immer wenn Sie ein Programm starten, müssen Sie mir sofort danach den Code senden. Selbst wenn es ein mickriges Programm ist, das so etwas bewirkt, wie auf Ihrem Infoscreen ›Hallo, Welt‹ erscheinen zu lassen. Null Punkte. Genauer gesagt, Punktabzug dafür, meine Zeit verschwendet zu haben. Um gezählt zu werden, muss es ein gutes Programm sein – ich denke da an das Kaliber von Dschingishühnern.«
Tom hörte Kichern von überall im Raum außer von Karl und seinen Freunden. Über Netsend fragte er Wyatt: Wie fühlt sich das an, den Vogel abgeschossen zu haben?
Sie schaute ihn kurz an und sendete dann zurück: Was spielt das für eine Rolle? Ich kann ja schlecht offiziell die Lorbeeren dafür einheimsen.
Vor ihnen zeigte Alec Tarsus auf. »Das hört sich irgendwie willkürlich an. Sie entscheiden einfach, ob wir Punkte bekommen oder nicht?«
»Guter Junge, Mr Tarsus. Sie verstehen, wie das läuft. Es geht alles um mich, denn ich bin der Gott dieses Kampfes. Ich gebe oder nehme ganz nach meinem Gutdünken. Hier noch einige weitere Regeln: Alles, was Sie programmieren, muss sich binnen einer Stunde selbsttätig löschen. Es darf auf keinen Fall einen dauerhaften Schaden am Neuronalprozessor Ihres Opfers hinterlassen. Keine dauerhaften Schäden, weder körperlich noch an der Software. Keine Angriffe, die biologische Funktionen umfassen und dazu führen könnten, dass Sie – und wir – dafür verklagt werden, jemandem einen Psychoknacks verpasst zu haben. Setzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand ein. Ich hoffe, ich liege nicht völlig falsch, wenn ich davon ausgehe, dass Sie so etwas besitzen. Und eines möchte ich klarstellen: Ich will kein Virus sehen, das einen Neuronalprozessor mechanisch beschädigt. Einer von denen ist nämlich mehr wert als Sie alle zusammen.«
Karl ließ die Schultern hängen. Es schien ihm auf erschreckende Weise leidzutun, dass er niemandem einen dauerhaften Schaden zufügen durfte. Tom hätte dies eigentlich beunruhigen sollen, doch stattdessen brannte er nur noch mehr darauf, endlich in die Gänge zu kommen.
Vik stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Du und ich, Tom.«
»Du und ich«, stimmte Tom zu.
»Das Duo des Todes.«
Tom ballte die Faust vor ihm. »Die Händler der Zerstörung.«
»Die Doktoren des Unheils.«
Tom dachte darüber nach. »Gibt es denn nicht schon einen Doktor Unheil?«
»Nee, das ist Dr. Unheil aus den Fantastic Four. Wir sind Plural, mit einem ›des‹ dazwischen. Doktoren des Unheils.«
Tom dachte darüber nach. Dann flüsterte er: »Okay, finde ich gut. Wir haben einen Dr. phil. in der Lehre des Unheils.«
»Nee, nee. Dr. med. des Unheils. Dr. phil. würde bedeuten, wir sind nebenbei Universitätsdozenten. Dr. med. bedeutet, wir praktizieren Medizin.«
»Wieso sollten Doktoren des Unheils Medizin praktizieren?«
»Na schön«, sagte Vik. »Du bist also Dr. phil. Ich Dr. med. Beide tragen wir den Titel Doktor.«
»Des UNHEILS!«, sagte Tom zu laut.
Plötzlich zuckten sowohl Tom als auch Vik zusammen, als hätten sie einen elektrischen Schlag bekommen. Auf ihrem Infoscreen wurde ein Text eingeblendet: Datenstrom empfangen: Programm »Haltet die Klappe, damit der Rest von uns etwas mitbekommt« initiiert.
Wyatt schaute sie finster und mit erhobener Tastatur an.
Vik machte eine Geste, als würde er sie erwürgen, und Tom zielte mit einem vorgetäuschten Revolver auf sie.
»Du weißt, was sie draufhat«, zischte Tom. »Wollen wir sie uns wirklich zum Feind machen?«
»Sie wird wahrscheinlich versuchen, es auszusitzen. Sie kann es sich nicht leisten, sich allzu weit aus dem Fenster zu lehnen.«
»Stimmt.« Ihnen beiden hingegen stand es frei, alles zu machen, was sie nur wollten.
Als der Unterricht zu Ende war, fragte jemand Blackburn, wann die Kriegsspiele beginnen würden. Er legte eine Pause ein, bevor er das Podium verließ. »Richtig. Wann geht es los? Nun, ich würde sagen, Sie können zum Angriff übergehen, sobald Sie im Flur sind.«
Diese Bemerkung zog verblüfftes Schweigen nach sich.
Mit einem boshaften Grinsen verließ Blackburn den Saal. Die gesamte Klasse blieb sitzen und brach in hektisches Geflüster aus. Tom sah das Meer von sich neigenden und sich senkenden Köpfen, während die Mitglieder der einzelnen Divisionen ihre Flucht planten.
»Zehn Dollar, dass sich Blackburn das hier auf einer Überwachungskamera anschaut und sich dabei kaputtlacht«, murmelte Tom zu Vik.
»Ich halte nicht dagegen.«
Tom wartete. Nach wie vor stand niemand auf. Alle warteten sie ab, um zu sehen, was mit den Ersten passieren würden, die nach draußen gingen – ob sie angegriffen werden würden, weil jemand aus ihrer Mitte bereits ein Programm zusammengeschustert hatte.
»Wie wär’s mit ein bisschen Spießrutenlaufen, Doktor?«, schlug Tom vor. Er saß auf heißen Kohlen, hielt es nicht mehr auf seinem Platz aus. Er warf einen Blick auf Vik.
Der nickte. »Alles klar, Doktor. Eins, zwei …«
»Drei!« Sie sprangen gleichzeitig auf.
Alle Augen im Raum richteten sich auf sie. Tom achtete nicht weiter darauf und drängte sich über die Bank auf den Gang. Die Stille dröhnte ihm in den Ohren und wirkte bedrohlich, während sie auf die Tür zugingen. Es schien ewig zu dauern.
Vik brach in Gelächter aus. Triumphierend warf er die Fäuste in die Luft und ging weiter – einen Angriff herausfordernd. Tom, der ihm direkt folgte, lächelte, doch als er aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahrnahm, verging ihm das Grinsen.
Karl Marsters stand auf.
Tom schlug Vik mit der flachen Hand auf den Rücken. »Beweg dich!«
Das brauchte er Vik nicht zweimal zu sagen. Vik machte einen Satz nach vorn und rannte auf den Eingang zu. Tom folgte ihm auf dem Fuß.
Der letzte Blick, den Tom vom Unterrichtsraum erhaschte, zeigte ihm Karl und eine Handvoll Dschingisse, die sich einen Weg hinter ihnen her bahnten.
Sie rannten so schnell, dass ihr Atem stoßweise ging. Es war wie eine der Fitnessübungen auf Speed. Erst als sie die menschenleere Kantine erreichten, wurde ihnen klar, dass es hier für Karl wahrscheinlich kinderleicht sein würde, sie zu attackieren. Eine offene Fläche mit mehr als einem Eingang …
»Husch, husch, sehen wir zu, dass wir einen Ort finden, wo wir uns verteidigen können!« Tom durchforstete mental die Videogames, die er gespielt hatte, und kam mit der passenden Anspielung an: »Das ist unser Alamo.«
»Ist denn nicht Davy Crockett in Alamo ums Leben gekommen?«
»Okay, dann sind wir eben die angreifenden Cyborgs.«
»In Alamo waren keine Cyborgs.«
»Doch, Vik.«
»Ich bin verwirrt. Redest du jetzt von dem Spiel oder der tatsächlichen Begebenheit?«
»Moment mal, das mit Alamo ist wirklich geschehen?«
Vik klatschte Tom mit der Hand auf den Hinterkopf. »Das weiß selbst ich, obwohl ich nicht aus deinem Land komme.«
Sie stürmten an dem Gemälde mit der Darstellung von General Patton vorbei und schlossen sich in einem der privaten Konferenzzimmer neben der Kantine ein. Tom setzte sich ausgestreckt auf den Fußboden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und stützte den Arm ab, um etwas in Zorten II einzugeben und ein Killervirus für den unausweichlichen Moment vorzubereiten, in dem die Dschingisse zu ihnen aufschlossen.
Vik starrte auf ihn herab. »Was machst du da?«
»Virus.«
»Aber du bist doch ein lausiger Programmierer, Tom.«
»Dann mach du es eben.«
»Mach ich auch.« Vik ließ sich neben ihm fallen und begann, etwas auf seiner Unterarmtastatur einzugeben.
»Und was soll ich tun?«, wollte Tom von ihm wissen.
»Stell dich so lange zwischen mich und wem auch immer, bis ich mit dem Codieren fertig bin.«
»Du willst mich als menschlichen Schutzschild benutzen?«
»Das schaffst du, Tom. Ich glaub an dich.«
»Ich stelle ja gar nicht infrage, dass ich das schaffe, ich wollte bloß …«
Plötzlich wurden die elektronischen Schlösser des Raums kurzgeschlossen, und die Tür ging auf. Karls massige Gestalt füllte den Türrahmen. Vik schrie auf eine ganz und gar nicht Dr. Unheil-mäßige Art und Weise auf, und Tom spürte, wie ihm ein Angstschauer den Rücken herablief.
Karl grinste sie höhnisch an. Dann hob er den Unterarm und fing mit krauser Stirn an, mit seinen Wurstfingern auf seine Tastatur einzuhämmern.
Es war erbärmlich, wie die Dschingisse in kleinen Gruppen hereinkamen und an Karls Arm hin und her rissen, um zu überprüfen, was er da eingab oder um die Tastatur an seinem Unterarm selbst zu bedienen.
»So geht das nicht«, sagte Tom, der sah, wie Vik einen Teil des Quellcodes, an den Tom sich erinnern konnte, falsch eingab. Er packte Viks Arm und übernahm das Kommando.
Dann aber sagte Vik: »So geht das auch nicht. Zurück an deinen Posten, menschlicher Schutzschild!« Er riss seinen Arm zurück und schob Tom wieder zwischen sich und ihren Rivalen.
Tom schaute die Dschingisse nervös an, da er jeden Moment damit rechnete, ein Virus von Karl & Co. abzubekommen. Doch die stritten sich inzwischen ebenfalls über Zorten II.
»So funktioniert das nicht, du Schwachkopf«, fuhr Karl jemanden an.
»Wie startet man dieses Fehlererkennungsprogramm?«
»Wieso ist dieser Wert null? Was bedeutet null?«
»Lass meinen Arm los! Null heißt, es funktioniert nicht, du Hirni.«
Tom lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Das Geräusch von klappernden Tastaturen erfüllte den Raum. Das Gefühl von Bedrohung und Erregung schwand zunehmend dahin. Er hörte Vik leise fluchen, nachdem dieser es erneut mit dem Programm vermasselt hatte, während auch die anderen sich stritten, bis Karl drohte, ihnen mit seiner Tastatur eins überzubraten.
Nach einer Weile kam Wyatt hereingeschlendert und ließ ihren Blick zwischen ihnen hin und her wandern. »Ihr Jungs seid jetzt seit zwanzig Minuten hier drin und habt noch kein einziges Programm geschrieben?«, bemerkte sie. »Das ist ganz schön jämmerlich.«
»Hör auf, mich abzulenken, Bratpfannenhand«, befahl Vik. »Es ist ja nicht so, als sähe ich dich die Siege einfahren.«
Wyatt errötete.
»Bratpfannenhand«, wiederholte Karl kichernd. »Hast du gehört?«, sagte er zu einem seiner Freunde. »Bratpfannenhand.«
Wyatt starrte Vik zornig an. »Danke, dass du diesen Spitznamen überall verbreitest. Weißt du was? Ich hoffe, Karl erwischt dich zuerst.« Mit diesen Worten stolzierte sie aus dem Raum.
Weitere fünf Minuten vergingen im Schneckentempo. Tom hatte es aufgegeben, den menschlichen Schutzschild zu spielen. Er war sich ziemlich sicher, dass dies nun nicht mehr nötig sein würde. »Karl, Vik und alle anderen – hört auf!«, rief er.
Zu seiner Überraschung taten sie es.
»Das hier ist total bescheuert«, stieß Tom hervor. »Wir sind doch alle miserable Programmierer.«
Die Dschingisse wechselten unsichere Blicke. Es entsprach der Wahrheit.
»Wir sind seit einer halben Stunde hier, und keiner von uns hat bis jetzt ein Programm auf die Beine gestellt.«
»Und was schlägst du vor, Rekrut?« Karl verschränkte seine fleischigen Arme.
»Wir gehen unsere eigenen Wege, programmieren nach unserer eigenen Zeit, entwickeln ein paar supertolle Attacken und treffen uns später noch mal.«
Karls Augen verengten sich. »So wie bei einem Duell.«
»Ja, wie ein Duell. Morgen bei Sonnenuntergang. Im Gemeinschaftsraum der Rekruten.«
Karl strich sich über das Kinn, als hätte er dort einen unsichtbaren Bart. »Okay, geht klar für mich. Aber erst übermorgen Abend.«
»Übermorgen?«
»Ja, hast du ein Problem damit? Ich sagte, übermorgen Abend, weil ich morgen Abend einen Termin beim Friseur habe. Man muss ihn mindestens vierundzwanzig Stunden vorher absagen.«
»Dann eben übermorgen Abend.« Tom hatte kein Problem damit. Mehr Zeit zum Programmieren.
Karl nickte zufrieden. »Ich kenne sowieso niemanden, der auf der Flucht ein Programm zusammenschustern kann.«
Und dann glitten die Türen auf, und als Tom gedankenlos hinüberschaute, sah er dort erneut Wyatt stehen. Ihre Tastatur hatte sie dieses Mal entblößt.
»Falls du gekommen bist, um zu sehen, wie Karl uns erwischt hat, hast du Pech gehabt«, informierte Vik sie.
»Deswegen bin ich nicht hier«, erwiderte Wyatt. »Ich habe beschlossen, diese Sache nicht auszusitzen.«
Vik blinzelte. »Nicht?«
»Du hast mich dazu gebracht, meine Meinung zu ändern, Vik.« Sie tippte etwas auf ihre Tastatur, und sofort fielen Karl und seine Freunde auf Hände und Knie und fingen an wie Schafe zu blöken.
»Bist du dir sicher damit?«, fragte Tom sie erstaunt.
»Sehr sicher.«
»Haha«, sagte Vik. »Tja, ich schätze mal, dann sind wir eben die drei Doktoren des Unheils.«
Doch Wyatt hielt ihre Tastatur noch immer im Anschlag, und in ihren Augen lag ein harter Glanz. »Aber nein, Vik, wir sind doch in verschiedenen Divisionen, erinnerst du dich nicht mehr?«
Viks Augen weiteten sich. »Menschlicher Schutzschild, rette mich!«, rief er und packte Tom an den Schultern.
»Ach, mach dir keine Sorgen«, versicherte ihm Wyatt lächelnd. »Ich habe genug für euch beide.«
Indem sie auf die Entertaste auf ihrer Tastatur schnippte, nahm sie ihrer beider IP-Adressen gleichzeitig aufs Korn und ließ auf Toms Infoscreen den Text einblenden: Datenfluss empfangen: Programm »Meckerndes Schaf« initiiert.
Als Tom wieder zu sich kam, kaute er gerade im Arboretum hinter der Kantine auf einer Pflanze herum. Damit war er nicht der Einzige. Ganz und gar nicht. Wyatt hatte im gesamten Erdgeschoss gewütet – einige Auszubildende waren Schafe, so wie Vik es immer noch war. Andere hatten sich umeinandergeschart und sprachen hektisch in einem ständig wechselnden Sprachenwirrwarr, nicht imstande, sich an ihre Muttersprache zu erinnern, während wieder andere fortwährend über die eigenen Beine stolperten, als hätten sie das Laufen verlernt. Wyatt hatte an die dreißig Personen, die das Pech gehabt hatten, ihr über den Weg zu laufen, außer Gefecht gesetzt.
»Igitt.« Tom wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, um den Geschmack von Strauchtomate loszuwerden. Er ignorierte das hektische Geblöke der anderen, an denen er vorbeikam.
Als Tom auf Vik stieß, stupste er ihn mit dem Fuß an und achtete nicht weiter auf das wütende Geblöke, bis Vik wieder er selbst wurde. »Was … wieso …«
Tom hielt ihm die Hand entgegen und zog ihn hoch. »Wyatt hat eine Schneise der Verwüstung hinter sich gelassen. Diese Beleidigung dürfen die Doktoren des Unheils nicht auf sich beruhen lassen.«
Tom und Vik beschlossen, Yuri am Abend mit der Frage zu konfrontieren, ob er bereit war, sich mit den anderen Alexandern zu verbünden, um Wyatt eins auszuwischen. Ihre vorsichtigen Fragen während des Abendessens überzeugten sie davon, dass er gerade genug von dem begriff, was vor sich ging, um ihnen nützlich zu sein. Es sei denn, er wäre ein dreckiger, verkommener Verräter. Doch Yuri war nicht auf seiner Stube.
Beamer schon.
Vik ging auf ihn zu. »Hey, Mann, hast du den Androiden gesehen?«
Beamer lag apathisch auf seinem Bett und sagte kein Wort. Tom und Vik tauschten einen unbehaglichen Blick aus. Beamer war heute nicht im Unterricht gewesen. Er musste den ganzen Tag im Bett verbracht haben.
»Was ist los mit dir, Beamer?«, fragte ihn Vik. »Warum bist du heute so eine Schwuchtel?«
Das war heftiger, als Tom sich ausgedrückt hätte. Er deutete mehrfach mit dem Daumen in Richtung Tür. Vik warf geschlagen die Arme in die Luft und überließ Tom das Feld.
Tom trat neben Beamer. Dann begriff er, dass auch er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte.
»Hör zu, es tut mir leid, dass ich dich enthauptet habe, okay?«
Beamer schlug die Augen auf. »Mein Gott, Tom, du bist so auf dich selbst bezogen! Es geht hier gar nicht um dich.«
»Um was denn? Ich kapier’s nicht. Echt nicht. Soll ich der Sozialarbeiterin Bescheid sagen, dass sie zu dir kommen soll?«
Beamer schüttelte den Kopf und starrte an die Decke.
»Hör zu, ich will mich nicht über dich lustig machen. Ich kann zu ihr gehen und sie kommen lassen.« Er wappnete sich, denn das hier war so ziemlich das größte Opfer, was er jemals zu bringen bereit gewesen war. »Wenn du dich schämst, behaupte ich sogar, es ginge um mich.« Bitte sag Nein, fügte Tom im Geiste hinzu.
»Nein«, sagte Beamer.
Erleichtert ließ Tom die Schultern sinken.
»Schnallst du es nicht, Tom? Raffst du nicht, was mein Problem ist?«
»Doch. Du hast gedacht, mit dem Programm stimme etwas nicht und du würdest sterben. Deshalb bist du durchgedreht.«
»Nein. Auch, aber nicht bloß deswegen. Ich dachte, ich würde sterben. Und danach bin ich ins Grübeln geraten. Wirklich ins Grübeln. Über das hier.« Er klopfte sich mit einem blassen Finger an den Kopf. »Über das, was ich getan habe. Ich dachte, das hier würde lustig, Tom, okay? Im Turm zu leben, mit Maschinen herumzumachen. Aber ich habe es nicht bis zu Ende durchdacht. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob das hier das ist, was ich will. Was, wenn ich sterbe?«
»So bald wirst du nicht sterben. Du bist erst vierzehn.«
»Woher willst du das wissen?« Beamer setzte sich auf. Auf seinen Wangen zeigten sich rote Flecken. »Wir wissen doch nicht einmal, was das für ein Ding in unserem Kopf ist. Laufen etwa irgendwelche Achtzigjährigen mit Neuronalprozessoren durch die Gegend?«
»Damals gab es die Technologie noch nicht. Aber schau dir Blackburn an. Er hat ihn vor sechzehn Jahren implantiert bekommen. Abgesehen von dem akuten psychotischen Ausbruch geht es ihm gut.«
Beamer rollte mit den Augen und sackte wieder in sich zusammen. Tom sah ein, dass es ziemlich dämlich gewesen war, von dem akuten psychotischen Ausbruch zu sprechen. Trotzdem verstand er nicht, weshalb Beamer, was die Einzelheiten anging, jetzt so empfindlich war.
»Das ist es noch nicht einmal, Tom. Kommst du nicht drauf? Wir kriegen die Dinger nie mehr raus. Nie. Wir haben uns für ein paar Jahre im Turm verpflichtet, aber dieses Ding da in unserem Kopf bindet uns ein Leben lang an das Militär. Begreifst du das? Es gehört denen. Wir gehören denen.«
Toms Gedanken kehrten zu dem Abend in der Krankenstation zurück, als Dr. Gonzales, und nicht er, das letzte Wort in Bezug auf sein Wachstumshormon gehabt hatte. Doch er sagte nur: »Was spielt das für eine Rolle? Sie brauchen uns. Sie werden uns schon nichts Böses antun.«
»Wir werden immer an vorderster Front stehen. Das Militär wird für den Rest unseres Lebens immer die erste Geige spielen, egal, was wir ab diesem Moment tun, kapierst du das nicht? Wer soll denn sonst den Prozessor reparieren, wenn er mal kaputtgeht? Und was passiert, wenn die russisch-chinesischen Programmierer mit irgendeinem tollen neuen Computervirus ankommen, das unser Gehirn verbrutzeln lässt? Falls Russland und China je die Möglichkeit haben, Amerika wirklich ins Mark zu treffen, dann sind wir die Ersten, die sie umbringen!«
Tom lachte nur. Es hörte sich absolut lächerlich an. »Nun mal halblang. Keiner tötet mehr im Krieg.«
»Es ist Krieg, Tom. Krieg. Das war früher so was wie die Schlacht um Stalingrad, verstehst du? Und eines Tages wird es wieder so etwas sein. Eines Tages erinnert sich vielleicht jemand daran. Jemand erinnert sich vielleicht daran, dass das hier der Dritte Weltkrieg ist. Blackburn hat es gesagt, weißt du nicht mehr? Er hat uns prophezeit, dass sie uns den Kopf aufschneiden und einen Blick auf die Codierungen da drin werfen wollen!«
»Damit wollte Blackburn uns bloß einen Schrecken einjagen. Hör zu, Beamer, ich verstehe das. Bevor ich den Neuronalprozessor implantiert bekommen habe, habe ich mir auch Sorgen über diesen Kram gemacht.«
»Du und Sorgen.«
Tom zuckte mit den Schultern. Er versuchte, sich an seine Unterhaltung mit Heather zu erinnern, als er überlegt hatte, ob er sich anwerben lassen sollte. Es war komisch, wie viel vager sich seine Erinnerungen an die Zeit vor dem Neuronalprozessor anfühlten – überhaupt nicht mit Datum und Uhrzeit versehen, nicht bis ins Letzte detailliert. So, als hätte ein anderer Mensch diese Erfahrungen gemacht.
»Ja, ich habe mir auch Sorgen gemacht. Darüber, dass die Gehirnoperation ein Wagnis ist und die Art, wie das Militär … na ja, eben so ein paar Sachen, die du gerade auch angesprochen hast. Aber … nun komm schon, Beamer. Schau dich um. Wer sonst ist in der Lage, das zu tun, was wir tun? Wer sonst kann so sein, wie wir es sind? Wir sind wichtig. Wir können uns mit einem Download jede Fertigkeit aneignen. Wir können jede Sprache erlernen, die wir sprechen wollen. Wir sind schneller und schlauer als normale Leute. Wir können jetzt alles tun.«
Beamer rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Wenn ich mich echt angestrengt hätte, hätte ich vorher auch alles tun können. Ich hatte da so einen Handel betrieben. Ich bekam ein paar Sachen auf die Reihe. Ich habe in Obdachlosensiedlungen Wasserfilter und Grills verkauft. Ich meine, hast du diese Orte schon mal gesehen? Die Bewohner sind nicht total arm. Viele von ihnen haben Jobs, können sich aber keine richtige Wohnung leisten.«
»Ja, ich habe ein paar gesehen.« Neil hatte ihn immer darauf hingewiesen. Er meinte, wenn sie nicht von Spielkasino zu Spielkasino zögen, bliebe als Alternative nur das Wohnen in Zeltstädten.
»Tja, die Leute dort haben meine Sachen gekauft. Ich habe Geld damit verdient. Es ging mir auch ohne Neuronalprozessor gut. Auch du hättest ohne Prozessor alles Mögliche tun können. Du hast Buchstabierwettbewerbe gewonnen. Das muss dich viel Arbeit gekostet haben.«
Tom erwiderte nichts. Er wusste, dass er nie einen Buchstabierwettbewerb gewonnen oder einen Beitrag zur weltgrößten Ohrenschmalzkugel geleistet hatte. Der alte Tom Raines hatte es nicht einmal in einer Sonderschule gepackt.
»Ich sehe dich und Vik – und sogar Yuri, der hier keine Chance hat und das auch ahnen muss«, sagte Beamer. »Ihr habt euch dieser Sache verschrieben. Und ich kam hierher und wollte mein Bestes geben, aber mittlerweile ist es mir ganz egal. Seitdem das mit meiner Freundin passiert ist und ich hier mit eingeschränkten Freiheiten festhänge, ist es so, als wären mir die Schuppen von den Augen gefallen. Ich frage mich ständig, warum ich überhaupt noch hier bin. Ich will gar nicht in die Camelot Company. Ich hasse es, hier zu sein. Ich denke ständig an die Highschool und die ganzen Filme, die ich darüber gesehen habe, und ich frage mich, ob ich etwas verpasse. Ich will älter werden und aufs College gehen. Ich will mir ein Haus kaufen. Und ich will Kinder haben und heiraten und Nachbarschaftsfeste und Grillpartys feiern.«
»Beamer«, schaltete sich Tom ein, »wenn du eine Grillparty machen möchtest, du und ich, dann können wir jetzt sofort ein Grillfest veranstalten, okay? Vergiss das mit der eingeschränkten Freiheit. Wir leiten dein GPS-Signal zum Badezimmer um, gehen aus und grillen, oder was immer du willst.«
Beamer stieß ein schmerzerfülltes Seufzen aus. »Du verstehst es nicht, Tom. Das kannst du auch nicht.«
Er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und vergrub den Kopf unter seiner Decke.
Nun begriff Tom. Er verstand es wirklich nicht. Das konnte er nicht. Beamer wollte normal sein. Tom konnte sich nicht vorstellen, sich jemals zu wünschen, wieder ein Niemand zu sein.
Was er hier hatte, würde er niemals freiwillig aufgeben. Nie würde er freiwillig den Neuronalprozessor abgeben, wenn hier doch ein ganzes Leben voller Möglichkeiten vor ihm lag.
Er hätte es nicht ertragen, wieder wertlos zu sein. Lieber wäre er tot.