ZWANZIG

Als Tom seine Stube betrat, blieben ihm noch zwanzig Minuten bis zum Morgenappell, und in seinem Gehirn herrschte noch immer Tohuwabohu. Immerzu musste er an das Video denken, das Karl ihm gesendet hatte, das Video, welches zeigte, wie er auf dem Boden herumkroch und bellte wie ein Hund.

Tom setzte sich auf das Bett. Die Bilder von Karl, der über ihn lachte, und Dalton, umgeben von Zigarrenrauch, brannten sich in sein Gehirn ein.

Vik stand neben dem Bett und zog sich an. Er warf Tom einen mürrischen Blick zu und wandte sich dann von ihm ab. »Was denn, machst du dich heute nicht hübsch und gelst dir das Haar?«

»Nee.« Tom war, als würde er gleich in die Luft gehen. Er riss mit geballten Fäusten an den Bettlaken und bemühte sich, trotz seiner blinden Wut, die sich immer wieder in Verwirrung und tiefstes Elend verwandelte, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Bis später dann, rückgratlose Schande für die Männlichkeit.«

Als Vik zur Tür ging, überwältigte ihn Verzweiflung. Er presste ein einziges Wort heraus: »Doktor

Vik blieb stehen und zog die Schultern hoch wie ein alarmiertes Raubtier. Dann drehte er sich um. In seinen schwarzen Augen lag ein merkwürdiger Schimmer. »Doktor?«

»Doktor«, bestätigte Tom.

Ein Ausdruck von Hoffnung huschte über Viks Gesicht. »Echt? Echt jetzt, Tom?«

Tom nickte und schluckte heftig. »Wie es aussieht, haben die Leute von Dominion Agra mir Sachen in den Kopf eingepflanzt, um einen braven kleinen Jungen aus mir zu machen. Ich muss Rache nehmen. Ich muss Blutrache nehmen. Ich muss ein Kettensägenmassaker anrichten.«

Vik stieß ein jähes Lachen hervor. Tom erschreckte, als sein Stubenkamerad einen Satz nach vorn machte und ihn mit einer heftigen, ungestümen Umarmung fast erdrückte, bevor er ihn zurück auf das Bett warf. »Schön, dass du wieder der Alte bist!« Vik ließ sich neben ihn fallen. »Also Rache, hm?«

Tom starrte düster auf die Wand vor ihm. »Vik, am Samstag bin ich mit den Leuten von Dominion Agra verabredet. Ich habe also bis Samstag Zeit, etwas zu planen. Etwas … irgendetwas … Und ich, Vik, im Moment komme ich auf keinen Racheplan, der mich nicht für die nächsten vierzig Jahre in den Knast befördert.«

»Deswegen gibt es ja zwei Doktoren des Unheils, Kumpel. Du kannst im Moment nicht klar denken? Dann denke ich für dich.«

»Richtig. Stimmt.« Tom fuhr sich mit den Händen durch das Haar. Schließlich stand er auf und wühlte in seiner Schublade nach seiner Uniform.

»Vergiss es.« Vik schob Toms Schublade mit dem Absatz zu. »Wir lassen den Morgenappell sausen. Erzähl mir, was passiert ist. Und dann planen wir einen ruhmreichen Rachefeldzug.«

In den Tagen vor der Abendgesellschaft von Dominion Agra amüsierten sich Tom und Vik wie die Könige. Als Erstes überprüften sie das Limit der Kreditkarte, die Dalton Tom überlassen hatte. Es betrug fünfzigtausend Dollar.

Der kleine Zombie Tom war vertrauenswürdig genug gewesen, sie nicht zu missbrauchen.

Der normale Tom war entzückt, es zu tun.

Er überredete Wyatt dazu, die Datenbank der Kreditkartengesellschaft zu hacken und Daltons Kontaktdaten zu verändern, damit er das, was Tom mit der Karte anstellte, nicht rechtzeitig mitbekam, um etwas dagegen unternehmen zu können. Da Wyatt sich jedoch nicht an Kreditkartenbetrug beteiligen wollte, musste Tom fünfzigtausend Dollar ohne ihre Hilfe ausgeben.

Großzügigerweise bot Vik seine Hilfe an.

Tom hinterlegte zehntausend Dollar im Dusty Squanto Casino für das nächste Mal, wenn sein Vater dort absteigen würde. Dann beschlossen er und Vik, sich selbst ein wenig zu amüsieren.

Sie verbrachten einen Abend in der Pentagon City Mall und lernten dort eine Gruppe von Mädchen kennen. Die waren erst dann von ihnen beeindruckt, als Tom für ihre Einkäufe in den teuersten Geschäften bezahlte. Danach mochten die jungen Damen sie. Schließlich luden sie die Mädchen zum Essen in der Chris Majal’s Indian Hall ein, und Tom steckte ihrer Bedienung sein allererstes Tausend-Dollar-Trinkgeld zu. Zudem spendierte er allen anderen dort ebenfalls das Essen.

Als die Mädchen mitbekamen, dass die beiden vierzehn beziehungsweise fünfzehn Jahre alt waren, bewegte sie kein Geld auf der Welt mehr dazu, einen zweiten Abend mit ihnen auszugehen. Aber das war Tom und Vik egal. Es gab ja noch andere tolle Sachen, die sie mit irre viel Geld und wenig Zeit, dieses auszugeben, anfangen konnten. Sie kauften Obdachlosen, die in der Nähe des Dupont Circle herumlungerten, neue Kleidung. Sie spielten die teuerste VR-Simulation. Am Freitagabend mieteten sie einen Fusion Club samt Spielhalle und veranstalteten dort die allererste Turmparty überhaupt. Sie dauerte bis dreißig Minuten vor 23:00, der festgesetzten Sperrstunde am Wochenende.

Tom zeigte den Türstehern ein Digitalfoto von Karl. »Wenn Sie diesen Kerl sehen, habe ich spezielle Anweisungen für Sie. Zuallererst bringen Sie ihn in den Garderobenraum.«

»Und dann?«

»Fassen Sie ihn nicht mit Samthandschuhen an«, sagte Tom und zog dabei die Worte mit bösem Vergnügen in die Länge. »Dann holen Sie mich.«

Der Türsteher ging nicht mit Samthandschuhen ans Werk. Er rief Tom herbei und wies auf Karl, der bewusstlos am Boden lag. Allein dafür steckte Tom ihm tausend Dollar Trinkgeld zu. Dann zog er seinen tragbaren Datenchip samt Neuronalkabel heraus und machte sich damit an Karl zu schaffen.

Niemand wusste, wer hinter der kurzfristig anberaumten Party stand. Tom, Vik, Yuri und Wyatt saßen gemeinsam an einem Tisch, von dem aus man den ganzen Club überblicken konnte.

»Wo stehen wir jetzt insgesamt?«, fragte Yuri ihn, während er seinen Blick über ihre luxuriöse Umgebung schweifen ließ.

»Wir haben siebenundvierzigtausendneunhundertundzwölf Dollar ausgegeben«, sagte Tom. »Wenn euch etwas einfällt, womit ich heute Abend noch zwei Riesen verbraten kann, dann gebt mir Bescheid.«

»Hegen sie denn noch keinen Verdacht auf Kreditbetrug?«, wollte Wyatt wissen.

Vik lachte. »Doch. Die Gesellschaft hat schon dreimal angerufen, aber der Netzhautscanner und sein Stimmenabdruck haben ihn ja legitimiert, und auf der Karte steht sein Name. Dalton Prestwick bleibt nichts anderes übrig als zu …«

»Blechen«, vollendete Tom geradezu wollüstig.

Daltons Pech war, dass er keine Ahnung hatte, was mit seiner Kreditkarte geschah und erst nach mehreren Wochen einen Kontoauszug bekommen würde.

Karls Pech war, dass er keinen Wind davon bekam, wer hinter der Turmparty steckte, bevor er sich am nächsten Abend um 18:00 mit Tom in eine Limousine setzte, um zum Beringer Club zu fahren.

Tom grinste den groß gewachsenen Jungen an, während er sich neben ihn auf den Rücksitz setzte. Er konnte es sich nicht verkneifen. Dort, wo Karl versucht hatte, sein lädiertes Gesicht zu überschminken, entdeckte er orangefarbene Streifen auf der Haut.

»Hallo, Karl!«, sagte Tom vergnügt. »Wow, du hast Make-up aufgetragen? Das steht dir richtig gut.«

»Halt die Schnauze, Bello«, murmelte Karl.

Tom hatte sich das Haar gegelt und den Rest von dem Zeug in der Toilette heruntergespült. Er hatte den Anzug angezogen, den Dalton ihm gekauft hatte, sich die Krawatte umgebunden und war, soweit Karl es erkennen konnte, ein kleiner Zombie. Tom hatte befürchtet, es werde ihm schwerfallen, Karls respektvollen, stumpfsinnigen Untergebenen zu spielen. Doch das war es nicht. Eine gespannte, bösartige Erwartung ließ ihn am ganzen Körper vibrieren. Er wusste, was noch kommen würde.

Als sie gemeinsam den Beringer Club betraten und Dalton sie erblickte, wollte auch dieser sofort wissen: »Karl, trägst du Make-up?«

Mit letzter Kraft gelang es Tom, nicht schallend loszulachen.

»Wasch dir das Gesicht«, befahl Dalton.

Karls Wangen färbten sich dunkelrot. »Aber …«

»Geh jetzt! Bevor dich jemand so sieht!«

Karl huschte davon.

Daltons Blick richtete sich auf Tom. Er musterte ihn von oben bis unten, so als betrachtete er etwas, das ihm gehörte.

Tom spielte mit. Obwohl er innerlich kochte, schaute er so gelassen, wie es ihm nur möglich war.

»Tom, du weißt ja, dass alles, was du hier tust, auf mich zurückfällt«, sagte Dalton.

»Selbstverständlich weiß ich das, Mr Prestwick.« Genau darauf baute er.

»Das gilt unglücklicherweise auch für alles, was Karl tut. Ihn hätte ich nie als eines unserer Mitglieder für die CamCo ausgesucht.« Er legte Tom die Hand auf die Schulter und massierte sie. »Versuch, ihn bei der Stange zu halten, ja?«

Allein der Gedanke, wie Karl reagieren würde, wenn er das jemals hörte, machte es Tom schwer, nicht in Gelächter auszubrechen. »Selbstverständlich werde ich Karl unter allen Umständen davon abhalten, Sie in Verlegenheit zu bringen, Mr Prestwick.«

Dalton nickte dankbar, während seine haselnussbraunen Augen Toms Blick erforschten. »Gut. Du bist ein guter Junge, Tom. Du hast mich stolz gemacht. Aus dir ist ein sehr respektvoller, höflicher junger Mann geworden.«

Tom bohrte sich die Nägel in die Handflächen. Es gelang ihm gerade noch, sich nicht vollzukotzen.

»Karl dagegen …« Dalton stieß einen Seufzer aus. »Sein Vater war Manager hier. Deshalb mussten wir ihn zu uns holen. Er war mit Elliot befreundet, deshalb hofften wir, er würde uns mit ihm in Kontakt bringen. Aber dabei war er uns keine Hilfe. Nobridis, Inc. hat uns Ramirez vor der Nase weggeschnappt. Deswegen haben wir Karl am Hals. Zumindest bis ich dich akquiriert habe. Du hast dich gut entwickelt, nicht wahr? Ich denke, es wird sich in naher Zukunft eine einmalige Gelegenheit für dich auftun.«

Er tätschelte Toms Wange. Tom hätte am liebsten mit den Zähnen zugeschnappt und ihm ein paar Finger abgebissen.

»Zu schade, dass Mr Vengerov nicht kommen konnte«, klagte Dalton. »Er wäre beeindruckt vom Ergebnis seiner Software gewesen. Ich glaube, wenn ihr alle erst einmal im Licht der Öffentlichkeit steht, muss ich auch in Karls Datenstrom ein paar Verhaltensänderungen eingeben. Bloß …« – er zwinkerte – »ein Geheimnis zwischen uns beiden, was, Sportsfreund?«

Tom zwinkerte seinerseits. »Absolut, nur zwischen uns, Mr Prestwick. Zu schade mit Mr Vengerov.« Zu schade, wirklich schade. Nur zu gerne hätte er auch diesen Typ drangekriegt.

»Also, ich habe da in der Kabine mit dem neuronalen Zugangsport für dich noch ein paar kurzfristige Anweisungen in Bezug auf die Etikette und einen Who’s-who-Leitfaden. Geh hin und lad dir das herunter.« Dalton legte eine Pause ein und musterte ihn erneut. Dabei gratulierte er sich selbst dazu, den alten Tom ausgelöscht und durch diesen neuen ersetzt zu haben.

Während er losging, rang Tom darum, seinen ruhigen Gesichtsausdruck beizubehalten. Wenn er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen hätte, wäre er auf Dalton losgegangen und hätte ihm wie ein wild gewordener Gorilla das Gesicht zerfetzt.

Er schloss sich in dem Raum mit dem privaten Neuronalzugang ein. Der Anblick des Zugangsports trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, doch er wusste, dass diese Sache in Ordnung gehen würde. Das würde sie.

Wyatt hatte seine Firewall auf ein höheres Niveau justiert und damit sichergestellt, dass er immun gegen alles sein würde, dem er heute Abend ausgesetzt werden würde. Dennoch überfiel ihn eine Welle der Besorgnis, während er über den offenen Port nachsann. Seine Beine waren auf einmal bleischwer, und er musste sich dazu zwingen, sich auf dem Liegesessel auszustrecken. Als er sich einklinken wollte, zitterte seine Hand so heftig, dass er ständig den Zugangsport an seinem Stammhirn verfehlte.

Tom schloss die Augen, holte tief Luft und zwang sich dazu, die Hände ruhig zu halten. Mein Gott, jetzt verhielt er sich schon wie ein Weichei. Bei diesem Tempo hätte er bald wieder eine von Viks Interventionen nötig.

»Nun mach schon, schließ es an, du Memme«, knurrte er sich selbst an.

Ruckartig steckte er das Kabel in den Port.

Die Verbindung strömte durch ihn, sein Körper wurde taub, seine Sinne trüb, während Codezeilen auf ihn zurasten. Sie drohten ihn in nackte Panik zu versetzen, bis er spürte, wie sie an Wyatts Firewall abprallten. Er schaltete sich in den Vorgang ein, denn er fühlte sich wohler, wenn er ihn beobachtete. Er sah, wie jede einzelne Zeile in dem Moment, in dem sie hinzukam, gelöscht, und wo dies nicht möglich war, von einigen zusätzlichen Nullen und Einsen neutralisiert wurde. Tom entspannte sich. Sein teurer Anzug klebte ihm schweißnass am Körper.

Die Zeit verrann, während er auf den Moment wartete, in dem er das Kabel herausziehen konnte.

Und dann passierte es.

Auf seinem Infoscreen wurde ein Text eingeblendet:

Du duellierst dich nicht mehr mit mir, Mordred. Hast du endlich eingesehen, dass du mich niemals besiegen kannst?

Schockiert las Tom die Zeilen. Medusa. Sie hatte die Netsend-Funktion benutzt. Irgendwie war es ihr gelungen, seinen Neuronalprozessor zu hacken und dort etwas abzulegen, so wie er es bei dem ihren getan hatte.

In den vergangenen Wochen hatte er überhaupt nicht mehr in das Forum, wo sie ihre Treffen vereinbarten, hineingeschaut. Es war ihm nicht der Mühe wert gewesen, nicht, solange sein Kopf vollgestopft mit den Programmen von Dominion Agra gewesen war. Er hatte es als sinnloses, überflüssiges Risiko betrachtet.

Nun, da er begriff, dass er ihrer beider Verbindung aufs Spiel gesetzt hatte, wurde ihm fast übel.

Froh darüber, dass er seine Tastatur dabeihatte, krempelte er den Ärmel hoch und sendete schnell eine Nachricht zurück. Sehe ich da Wunschdenken? Ich werde niemals aufgeben. Wie hast du überhaupt meine Firewall gehackt?

Ich würde dich töten, bevor ich es dir verrate, konterte sie.

Damit brachte sie Tom zum Schmunzeln. Ich lebe noch lange genug, um mich mit dir wieder zu duellieren – aber im Moment habe ich keine Zeit. Ich bin im Begriff, einen ausgeklügelten Rachefeldzug zu führen. Bei Dominion Agra werden sie heute alle einen ganz, ganz üblen Abend erleben.

Eine ganze Weile lang antwortete sie darauf nicht. Währenddessen fragte er sich erneut, wie sie ihn hatte hacken können.

Wie lauten deine GPS-Koordinaten?, fragte sie schließlich.

Warum?

Weil ich auf Rache stehe. Ich kann meinen Beitrag dazu leisten.

Auf einmal fing Tom zu lachen an. Er konnte nicht anders. Das war genial. Ja, Medusa, ich denke, du kannst einen Beitrag leisten.