DREIUNDZWANZIG
Nach ein paar Tagen durfte Tom die Krankenstation verlassen, musste aber weiterhin Bettruhe halten. Deshalb befand sich sein GPS-Sender in seiner Stube, während er selbst sich in der VR-Halle der Pentagon City Mall herumtrieb.
Den gesamten Samstagmorgen verbrachte er damit, in Pirate Wars gegen Medusa anzutreten. Er war der Anführer der Piratenflotte Schwarze Flagge, während sie Ching Shih war, die chinesische Piratenkönigin, welche die Rote Flotte befehligte. Trotz seiner leisen, ständigen Kopfschmerzen – eine letzte Erinnerung an seine Gehirnerschütterung – kämpfte Tom heldenhaft, und es gelang ihm, ihr Schiff zu entern. Gerade als er sich daran machte, ihre Mannschaft zu massakrieren, bemerkte er, dass Medusas dunkler Kopf aus dem Wasser hinter dem Schiff herausragte. Sie grinste erwartungsvoll über beide Ohren.
Dann winkte sie ihm quietschvergnügt zu. Eine zweite Warnung gab es nicht.
Ihr Schiff explodierte, was Tom, dem Schiff und dem Großteil seiner Flotte das Ende bereitete.
Sie verabredeten sich erneut zu einem Spiel, und Tom schlüpfte in die Rolle seines Monsteravatars. Medusas ägyptische Königin vollführte ein paarmal einen Salto rückwärts auf der Couch, um ihren Sieg zu feiern.
»Feierst du immer noch?«, fragte er.
Medusa lachte und wirbelte auf ihn zu. »Wenn du jemals gewinnen würdest, würdest du dich noch viel mehr damit brüsten.«
Tom lachte. »Hundertmal mehr, mindestens.« Sein Ungeheuer stapfte nach vorn, und sie begannen, einander zu umkreisen, und bereiteten sich auf ein weiteres Duell vor. »Verrate mir etwas.« Er richtete seinen Blick auf ihren Avatar, so als könnten ihm ein paar der Megapixel einen Hinweis auf die Person geben, die sich dahinter verbarg. »Ist deine Muttersprache Mandarin?«
»Kantonesisch.«
Tom beglückwünschte sich dafür, ihr ihre Nationalität entlockt zu haben. Dass sie ein Mädchen war, hatte sie zugegeben, da sie die Stimme eines Mädchens hatte, und dass sie Chinesin war, hatte er vermutet, wollte aber Gewissheit haben. Nun konnte er sich vorstellen, wie sie wohl aussah – glänzendes schwarzes Haar, lebendige schwarze Augen. Klein gewachsen, vermutete er.
»Ich dachte mir schon, dass du keine Russin bist.«
»Russen trainieren nur zwei Wochen im Jahr in der Verbotenen Stadt, oder wir begeben uns in ihre unterirdische Anlage unter dem Kreml.«
»Nur zwei Wochen im Jahr, hm? Ein paar der Inder trainieren ständig mit uns. Das gilt auch für die …« – Tom unterbrach sich, bevor er ihr von der Handvoll Auszubildender im Turm erzählen konnte, die aus dem euro-australischen Block stammten.
Medusa schwieg eine ganze Weile. Sie befanden sich immer auf einer schmalen Gratwanderung zwischen ihrer seltsamen Freundschaft und der Anklage wegen Hochverrats, der sie ins Auge sahen, wenn sie militärische Geheimnisse preisgaben.
»Das ist wahrscheinlich nicht so besonders geheim«, sagte Tom, nachdem er noch einmal darüber nachgedacht hatte.
»Das mit der unterirdischen russischen Anlage weiß jeder«, erwiderte Medusa, klang dabei jedoch so, als wäre ihr ein wenig unbehaglich. »Genau wie das mit der Anlage in Mumbai für die Inder.«
»Und was ist mit den Südamerikanern, den Afrikanern und den nordischen Völkern?«
»Die wollen eher in Moskau leben, nicht bei uns. Wer bei uns im Programm mitmachen will, muss Angehöriger unseres Militärs sein.«
»Echt? Wir sind hier keine Militärs. Erst wenn wir achtzehn werden.« Toms Ungeheuer sprang auf die Couch. Unter seinem massigen Gewicht geriet sie in Schräglage, und unter heftigem Gelächter flatterte Medusas Avatar davon, sodass die Couch umkippte und auf Toms Avatar stürzte. »Sind die Russen Soldaten?«, fragte er.
»Schon, aber sie nehmen es nicht so ernst. Sie können den Dienst quittieren, wann immer sie wollen. Sie haben ein echtes Problem damit, denn eine Menge reicher Russen kaufen ihren Kindern nur deshalb einen Platz in dem Programm, damit sie einen Neuronalprozessor ins Gehirn eingesetzt bekommen. Und dann lassen sie sie wieder aussteigen.« Sie nutzte nun die Situation aus, dass Toms Ungeheuer festgenagelt war, und trampelte ihm auf dem Kopf herum. »Meist bekommen sie den Neuronalprozessor gar nicht mehr herausgenommen, auch wenn es noch früh genug dazu wäre.«
»Sehr schlau. Die Eltern schicken sie also nur dorthin, um aus ihnen in null Komma nichts Genies zu machen?«
»Tja, man sollte meinen, dass sie es deswegen tun. Aber es ist mal gegen eine Familie deswegen ermittelt worden, und dabei stellte sich heraus, dass das Mädchen, das den Neuronalprozessor implantiert bekommen hat, nicht einmal ihr leibliches Kind war, sondern bloß ein Mädchen, das sie dafür bezahlt haben, sich dafür auszugeben. Und bis das Militär das herausgefunden hat, haben sie dem Mädchen den Kopf wieder aufschneiden lassen und den Prozessor auf dem Schwarzmarkt verkauft.«
»Wow.«
»Wir haben einfach eine andere Einstellung zu den Dingen als sie. Deswegen hassen es die Russen, wenn sie uns besuchen müssen. In diesem Jahr haben sie sich ständig beschwert, weil sie jede Nacht schlafen wollten.«
Tom hielt in seiner Bemühung inne, sich von der Couch zu befreien, während sie ihn mit ihren Stiefeln immer wieder ins Gesicht trat. »Moment mal, schlaft ihr nachts denn nicht?«
»Ihr etwa?«
»Schlaf ist gut, Medusa. Schlaf ist super.«
»Wir haben programmierte Tiefschlafphasen. Mit einem Neuronalprozessor ist täglicher Schlaf nicht notwendig.«
Tom fuchtelte mit den Handschuhen herum und nahm den Versuch wieder auf, sich von der Couch zu befreien. »Aber es ist doch Schlaf.«
»Wir nutzen die Zeit besser.« Sie bückte sich, um ihm neckisch ins Gesicht zu lächeln. Dabei fiel ihr schwarzes Haar über seinen Helm. »Vielleicht gewinnen wir ja deshalb.«
Tom lachte. »Vielleicht wollen eure ausländischen Kombattanten ja deshalb lieber in Russland leben!« Er warf die Couch zur Seite, sprang auf und versetzte ihr einen Schlag.
»Kommst du aus Texas?«, fragte ihn Medusa aus heiterem Himmel, bevor sie ihm seinerseits einen Hieb verpasste.
»Wieso Texas? Sehe ich aus wie ein Texaner?«
»Texas und New York sind die einzigen Orte in Amerika, von denen ich gehört habe. Ach, und Kalifornien.«
»Aus Texas bin ich nicht, aber ich kenne einen Typen, der aus Texas stammt. Er heißt Eddie.«
»Hat er auf einer Ranch gelebt?«
»Nee. Ein Cowboy ist er nicht. Ich glaube, er ist Arzt. Er und mein Dad haben sich mal geprügelt, und hinterher haben sie zusammen Bier getrunken. Sie sind immer noch Kumpel. Ich schätze, so freundet man sich dort unten an.«
»Haben wir uns nicht auch so angefreundet, durch Kämpfen? Sie schlug ihn so fest, dass er durch die Wand krachte.
Tom kam wieder auf die Beine, stürmte in den Raum zurück und griff sie an. »Schon, aber wir haben ja nicht bloß gekämpft. Wir haben gemeinsam den Beringer Club demoliert. Oh, und ich bin durch dich entsetzliche Tode gestorben. Grausamer Mord ist immer die Grundlage für eine wunderbare Freundschaft.«
Sie lachte, und ihre ägyptische Königin versetzte seinem Ungeheuer einen Kung-Fu-Tritt, der ihn quer durch den Raum katapultierte, bis er gegen eine Steinwand knallte und diese zum Einsturz brachte. Toms Ungeheuer wurde darunter begraben. Instinktiv hatte er das Bild eines hübschen chinesischen Mädchens vor Augen, das Videogames mochte, aus dessen Augen Feuer schoss und das gegen ihn kämpfte. Und das außerdem zufällig der beste Krieger auf der ganzen Welt war.
Er war froh, dass Medusa ihn jetzt nicht in echt sehen konnte, sondern nur seinen Axt schwingenden Monsteravatar, halb unter Steinen begraben. Denn wenn sie sein breites Grinsen gesehen hätte, wäre ihm das peinlich gewesen.
An diesem Dienstag erhielt Tom nach Ende von Taktik einen Ping: Melden Sie sich bei Elliot Ramirez zur Halbjahresbewertung.
»Oh. Oh, super.« Tom ahnte, was ihm dabei blühte.
Alle Rekruten wurden für die Beförderung in den Mittleren Dienst bewertet, ein kleiner, aber bedeutender Schritt die Karriereleiter hinauf. Die Entscheidung lag in Marshs Händen, doch ihre Ausbilder bei Angewandte Simulationen hatten auch ein Wörtchen mitzureden. In der Hoffnung, die unvermeidliche Rüge wegen seines Mangels an Teamwork, seiner Unfähigkeit, brav mit den anderen zu spielen, und womöglich seines Mangels an Selbstverwirklichung aufzuschieben, war Tom Elliot aus dem Weg gegangen. Doch Elliot hatte es offenbar satt, darauf zu warten, dass Tom von selbst auf ihn zukam.
Im dreizehnten Stock, wo die Kombattanten der Camelot Company untergebracht waren, war Tom noch nie gewesen. Wie alle anderen hatte auch er Gerüchte vernommen, dass die Mitglieder der CamCo keine eigenen Zimmer hatten, sondern alle in einem großen, barrackenartigen Raum wohnten. Außerdem hatten sie einen Swimmingpool, Federbetten, einen Whirlpool, in dem sich alle CamCo-Mädchen unbekleidet tummelten, eine private Bar und eine Masseurin. Als die Türen aufgingen und ein Gemeinschaftsraum zum Vorschein kam, wie es ihn auf jeder Etage gab, sowie Privaträume, wie es sie auf jeder Etage gab, verspürte Tom einen Anflug von Enttäuschung. Er trat auf den weichen Teppich, den Blick auf das schräge Fenster gerichtet, das einen Blick auf die begrünte Fläche von Arlington dreizehn Stockwerke unter ihnen gewährte. Dann drehte er sich langsam um und schaute auf die Tür.
»Tom.«
Elliots Stimme ließ ihn zusammenzucken. Der dunkelhaarige Junge stand in der Tür zu seiner Stube und bedeutete Tom einzutreten.
Tom folgte ihm auf seine Stube. Elliot bewohnte ein Einzelzimmer. Nett.
Elliot musste auf seinem Bett gelegen haben, denn er ließ sich mit einem Plumps direkt wieder darauf nieder und schlug die Beine auf der Bettdecke übereinander. Ein stummer Bildschirm an der Decke zeigte Bilder aus der Schlacht bei Merkur vor einigen Monaten.
»Also, deine erste Bewertung«, sagte Elliot, den Blick auf die Decke gerichtet.
Tom verlagerte sein Gewicht. »Ja.«
»Setz dich.«
Tom ließ sich auf Elliots Plüschledersessel nieder.
»Tut mir leid, dass ich so drängele, Tom, aber wir sind gerade sehr mit den Vorbereitungen für den Gipfel im Kapitol beschäftigt. General Marsh schickt mir ständig Nachrichten aus Indien, in denen er anordnet, ich solle die CamCo dazu antreiben, meinen Vertreter zu nominieren. Tja, und dabei hatte ich gehofft, dieses Jahr mal selbst antreten zu können.«
Tom schaute zum Bildschirm hinauf, weil er unsicher war, was er dazu sagen sollte. Von allen Mitgliedern der CamCo hatte Elliot das mechanischste und vorhersehbarste Kampfverhalten. Aus gutem Grund ließ Marsh ihn nie als seinen eigenen Vertreter fungieren.
Elliot starrte erneut auf das Bild.
»Sag mal, Tom – was, meinst du, habe ich hier falsch gemacht?« Elliot winkte mit dem Finger und spulte zu einem Abschnitt zurück, als sein Schiff das von Medusa streifte, im letzten Moment abdrehte und sich dann eine Rakete einfing, die sie abfeuerte. Sein Schiff explodierte und fiel als glühendes Flammenmeer auf die Oberfläche von Merkur.
»Äh, man hat dich in die Luft gejagt.«
»Offenkundig. Aber warum ist es dazu gekommen? Wie habe ich es vermasselt?«
»Du bittest mich, dir von der Couch kluge Ratschläge zu geben?«
»Genau, Tom. Gib mir von der Couch kluge Ratschläge.«
Tom machte es sich auf dem Sessel bequem. Eigentlich hätte er es Elliot gerne gesteckt, warum dieser es versaut hatte. Doch es schien ihm nicht der richtige Zeitpunkt, ihm Salz in die Wunde zu streuen. Und seit Elliot ihm in Troja erlaubt hatte, gegen Medusa zu kämpfen, verspürte er auch gar kein Bedürfnis mehr danach.
»Hm, du wärst so oder so in die Luft geflogen. Selbst wenn du dort alles richtig gemacht hättest.«
»Aber wenn ich geschickt vorgegangen wäre, hätte ich Medusa mitreißen können. Was hätte ich tun sollen?«
»Du hast alles nach Vorschrift gemacht. Das kannst du besser als ich. Du bist viel weiter in Taktik als ich.«
»Aber?«
»Du hättest sie kamikazemäßig fertigmachen müssen«, platzte Tom heraus. »Die Gelegenheit dazu hattest du. Schalte Medusa aus, und alle anderen hätten unter Schock gestanden. Dann hättest du sie dir einen nach dem anderen vorknöpfen können.«
»Sie?«
Sein Patzer ließ Tom zusammenzucken. »Aus einem bestimmten Grund halte ich Medusa für ein Mädchen.«
»Ich auch. Schon irgendwie witzig. Um ehrlich zu sein, kam es mir damals überhaupt nicht in den Sinn, sie zu rammen. Aber dir wäre es sehr wohl in den Sinn gekommen, nicht wahr?« Elliot betrachtete ihn nachdenklich und rieb sich dabei mit dem Daumen über das Kinn. »Da ist so etwas, das du an dir hast, Tom. Ich habe es immer wieder bei dir gesehen. Diese Art, wie du direkt zur Sache kommst. Du hast diesen Killerinstinkt. Und ich habe ihn letzten Endes nicht. Ich habe wohl keine Zähne und Klauen und auch nicht den Blutdurst.«
»Du meinst, du bist nicht bösartig wie ich.«
»So kann man es wohl auch sagen. Weißt du, warum ich wollte, dass du den Treueschwur leistest?«
Tom hatte Theorien darüber entwickelt. Ein Verlangen nach Macht, eine tiefsitzende Neigung, sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Es erschien ihm nicht fair, jetzt mit so etwas anzukommen.
Elliot beantwortete seine eigene Frage. »Weil das genauso dazugehört, wenn du hier aufsteigen willst, wie deine Erfolge in der Schlacht. Der größte Killerinstinkt der Welt bringt dir nichts ein, wenn du nicht bereit bist, im gesellschaftlichen System mitzuspielen. Niemand hat es je zu Größe gebracht, ohne seinen Stolz zu unterdrücken, ohne mal jemanden anzulächeln, den man verachtet, ohne – ja – mitzuspielen, obwohl er schon die Vorstellung davon hasste.«
»Ich verstehe. Ich bin kein Teamspieler.«
»Das könntest du aber sein.« Elliot beugte sich zu ihm vor. »Das kannst du sein, Tom. Ein sehr wertvoller, effektiver Teamspieler. Genau die Art Spieler, die das Team zum Sieg führen würde. Aber du musst auch dieses andere Spiel lernen. Du musst lernen …«
»Anderen in den Arsch zu kriechen?«, rutschte es Tom heraus.
»So ist es. Anderen in den Arsch zu kriechen.«
Überrascht starrte Tom ihn an. Auf dem Bildschirm über ihnen tänzelten nach wie vor die Raumschiffe.
»Denken kannst du, was du willst, Tom, aber du kommst nirgends hin, wenn du nicht lernst, dich – bei seltenen Gelegenheiten – wie ein erbärmlicher kleiner Arschkriecher zu verhalten. So wie ich.«
Tom wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Ihm war es nie in den Sinn gekommen, dass Elliot sich vollkommen bewusst war, wie er auf andere wirkte.
Elliot fuhr fort. »Ich bewundere deine Integrität. Ich bewundere, wie du deinen Kurs hältst. Aber ich würde auch gerne sehen, dass du den Kurs bestimmst und nicht nur hältst. Ich möchte sehen, dass jemand mit deiner Kreativität, deinem Tatendrang wirklich etwas erreicht. Und das wirst du nicht schaffen, es sei denn, du lernst, dich zu verbiegen.«
Tom war einen Moment zu überrascht, um etwas zu erwidern. Dann erinnerte er sich daran, dass es gar keine Rolle spielte. Nicht wirklich. »Ich werde sowieso nichts erreichen.«
»Spielst du damit auf die Manager von Dominion Agra und den Beringer Club an?«
Tom zuckte zusammen.
Elliot lächelte. »Ich habe da so etwas flüstern gehört. Deine jüngste Unverschämtheit ist ein Hindernis auf dem Weg, einen Sponsor zu bekommen, das gebe ich zu.« Er stand auf. »Aber, Tom, es gibt noch vier andere Konzerne in der Koalition, die in indo-amerikanische Kombattanten investieren. Dominion Agra ist nicht der einzige Spieler am Tisch. Gib so früh die Hoffnung nicht auf.«
Verwirrt stand nun auch Tom auf. Das Gespräch war nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte. »Danke für den Ratschlag.«
»Nicht der Rede wert.« An der Tür hielt Elliot inne. »Tom, ich werde dich für den Mittleren Dienst empfehlen. Aber ich möchte, dass du darüber nachdenkst, was ich gesagt habe.« Er zwinkerte. »Und viel Glück.«
Verblüfft schüttelte Tom die Hand, die Elliot ihm entgegenhielt. Hatte er diesen Kerl womöglich völlig falsch eingeschätzt? Ihm drehte sich der Kopf, als er Elliots Stube verließ und wieder den Aufzug ansteuerte. Deshalb entging ihm, dass Karl auf einer Couch saß und sich seine Hausaufgaben herunterlud.
Karl zog hastig das Neuronalkabel heraus und sprang auf. »Lassie.«
Tom war nicht in der Stimmung für eine Auseinandersetzung. Er hoffte, dass der Aufzug schnell da sein würde.
»Was denn, bin ich Luft für dich? Dich aufs hohe Ross zu setzen, sieht dir gar nicht ähnlich.« Tom hörte Karls langsame Schritte hinter sich und wandte dem Fahrstuhlschacht den Rücken zu.
Doch Karl ging nicht auf ihn los. Er hielt sich auf eine beunruhigende Weise zurück, die Lippen zu einem merkwürdigen, schiefen Grinsen verzogen.
»Was willst du?«, stieß Tom hervor.
»Ich will dich noch ein letztes Mal sehen.«
»Fährst du irgendwohin weg? Erinnere mich daran, deswegen eine Party zu schmeißen.«
»Nein, nein. Weißt du, vor ein paar Tagen hat Dalton seine Kreditkartenabrechnung von deiner letzten Party bekommen.«
Tom stieß ein begeistertes Lachen aus. Er konnte einfach nicht anders.
»Ich wollte mich bei dir für mein blaues Auge bedanken«, sagte Karl, »doch ich schätze mal, das brauche ich nicht. Sagen wir einfach, du bist schon tot, Bello.«
»Ja, ja. Das hast du schon ein paarmal gesagt, aber ich bin immer noch hier.«
»Nicht mehr lange. Schon sehr, sehr bald, wirst du weg sein. Deswegen wollte ich das hier genießen. Es ist schön zuzusehen, wie jemand, den man hasst, vom Rand einer Klippe fällt.«
Die versteckte Warnung ließ in Tom eine düstere Vorahnung aufkommen, doch er rang sich ein Lächeln ab. »Ja, die Freude beruht auf Gegenseitigkeit. Immer wenn ich dich anschaue, Karl, bin ich total begeistert von der Vorstellung, was Dalton mit dir anstellen wird.«
»Du kannst mir keinen Schrecken einjagen.«
»Ist mir egal. Es ist schon fantastisch genug zu wissen, was mit dir geschehen wird. Und zu wissen, dass du es nicht weißt.«
Leichte Unsicherheit spiegelte sich auf Karls Gesicht wider. »Was denn, Lassie?«
»Dalton hat mir von den Verhaltensunterprogrammen erzählt, die dir bevorstehen. Ob er dich wohl dein Haar gelen lässt?« Tom betrachtete ihn nachdenklich und schüttelte dann den Kopf. »Nee. Machen wir uns doch nichts vor – er kann nicht die gleiche Nummer abziehen. Ich sehe besser aus als du.«
Karls Gesicht verzog sich, so als wolle er höhnisch lachen, bekäme es aber nicht hin. »Das würde er mir nicht antun.«
»Du hast keinen blassen Schimmer, was?«, entgegnete Tom. »Dalton hat gesagt, sie haben dich nur genommen, um an Elliot heranzukommen, aber das hat nicht geklappt. Deswegen werden sie dich – wie war noch dieses Wort, das du benutzt hast? Ach ja, dich ›kastrieren‹. Das glaubst du mir nicht? Ich könnte direkt nach unten zum Memografen gehen und dir eine Erinnerung daran senden.«
Karl brachte kein Wort mehr hervor.
Die Aufzugstür glitt auf. »Willst du lieber in Ungewissheit leben? Zu schade aber auch.« Die Siegesfreude auskostend, drehte Tom sich zum Aufzug um. Doch nun packte Karl ihn am Kragen und riss ihn zurück.
»Du lügst!« Karl schlug mit der Faust nach ihm. Tom zog den Kopf ein – und lachte über Karls Schmerzensschrei, als dessen Knöchel gegen die Wand hämmerten.
»Ich kann nicht glauben, dass du reinfällst auf diese …«
Mitten in seiner Häme erwischte ihn der zweite Faustschlag in die Magengrube und raubte ihm den Atem. Tom krümmte sich, und ihm drohte, schwarz vor Augen zu werden, während ihm die Beine einknickten.
»Gib zu, dass du lügst«, fauchte Karl.
»Was denn … du willst, dass ich … lüge?«, brachte Tom keuchend hervor.
»Karl? Was tust du da?«
Tom war noch nie so glücklich darüber gewesen, Elliots Stimme zu hören. Karl stieß ihn so schnell auf den Boden, dass Tom schwindelig wurde. Während er mühsam versuchte, sich wieder aufzurichten, hörte er, wie Karl sich rechtfertigte. »Das geht dich nichts an, Elliot. Er hat mich provoziert. Er behauptet ständig …«
Schwankend kam Tom auf die Beine. Elliot stand mitten im Flur, seinen festen, dunklen Blick auf Karl gerichtet. »Was könnte es rechtfertigen, einen vierzehnjährigen Jungen durchzuprügeln?«
»Aber, Elliot …«
»Tom ist einer meiner Rekruten. Ich möchte, dass du ihn von jetzt an in Ruhe lässt.«
Karls Wangen liefen knallrot an. »Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe.«
»O doch, das kann ich, Karl«, sagte Elliot mit sanfter Stimme. »Wenn du noch irgendwelchen Einfluss in der Camelot Company behalten möchtest, dann hörst du auf mich, wenn ich dir sage, du sollst Tom in Ruhe lassen. Verstanden?«
Karl verzog das Gesicht wie ein wütender Pitbull. Nachdem er Tom gegenüber so geredet hatte, als wäre er der ganz große Macher, der das Sagen hatte, wirkte er jetzt plötzlich wie ein wütender kleiner Junge.
»Verstanden?« In Elliots samtener Stimme schwang etwas Stahlhartes mit.
Fasziniert sah Tom zu, wie Karls Wangen sich scharlachrot färbten. Dann machte Karl eine nickende Kopfbewegung.
»Heißt das Ja?«, fragte Elliot.
»Ja«, erwiderte Karl mit zusammengebissenen Zähnen.
»Danke, Karl. Geh jetzt.«
Vor Ehrfurcht erstarrt sah Tom zu, wie Karl sich davonschlich wie ein geprügelter Hund. Es war Tom nie in den Sinn gekommen, dass Karl auf irgendjemanden hören würde, dass er jemanden so respektieren würde, dass er dessen Anweisungen folgen würde.
Tom schaute Elliot an. Endlich begriff er, was dieser ihm zuvor hatte sagen wollen. Manche Leute brauchten nicht zu kämpfen, um ihren Kurs zu halten, um ihren Willen durchzusetzen. Es gab noch andere Spiele zu spielen, andere Wettbewerbe zu gewinnen.
»Alles in Ordnung, Tom?«, fragte Elliot.
»Äh, ja. Danke.«
Er hörte, dass die Aufzugstür hinter ihm aufglitt. Bevor Elliot wieder auf seiner Stube verschwinden konnte, rief Tom ihm zu: »Warte.«
Elliot drehte sich zu ihm um.
Weil er sich dumm vorkam, blickte Tom zur Fensterfront »Elliot, vielleicht bist du deshalb nicht bösartig, weil du nicht verkorkst genug bist.« Er warf Elliot einen raschen Blick zu und sah dabei dessen gelassenes, nachdenkliches Gesicht. »Vielleicht hast du dich zu sehr …« – er versuchte auf ein Wort zu kommen, das zu Elliot Ramirez passte – »zu sehr selbstverwirklicht und kannst dich deshalb nicht wie ein Barbar aufführen.«
Elliot lächelte. »Meinst du?«
»Ja. Wie auch immer, das war es.« Tom winkte und stolperte in die Fahrstuhlkabine. Er hoffte, dass Elliot begriffen hatte, dass dies seine, Toms, Entschuldigung dafür war, Elliot nie eine Chance gegeben zu haben.