VIERUNDZWANZIG
Pärchenbildung war offiziell nicht untersagt. Schließlich waren sie keine aktiven Soldaten, und Marsh war Realist genug, um zu wissen, was geschah, wenn eine große Gruppe von Teenagern unter einem Dach lebte. Sie wurden aber auch nicht gerade dazu ermutigt. So gab es keine Tanzveranstaltungen wie auf einer Highschool. Wer sich verabreden wollte, musste bis zum Wochenende warten und Washington besuchen oder sich mit dem romantischen Glimmer des Imbissbereichs in der Pentagon City Mall zufriedengeben.
Doch hin und wieder im Sommer, wenn sich das Dach des Planetariums öffnete und der nächtliche Himmel zum Vorschein kam, wurden im Turm offene Abende veranstaltet. Offiziell sollten diese jenen älteren Rekruten, die Astrophysik studierten, hilfreich sein. Vor allem aber bot sich von dort ein schöner Anblick, und Pärchen beziehungsweise potenzielle Pärchen zog es dorthin, wann immer es möglich war. Am heutigen Abend gingen Yuri und Wyatt hin, und Vik hatte vor, sich dort einen Platz neben einer Machiavelli namens Jenny Nguyen zu schnappen. Sie habe ihm in Angewandte Simulationen »schöne Augen gemacht«, behauptete er, und er wolle die Gelegenheit beim Schopf packen. Er habe sogar den perfekten Spruch auf Lager.
»Was denn für einen Spruch?«, wollte Tom wissen.
»Sage ich nicht. Sonst vermassele ich es.«
»So schlimm, hm?«
»Ist alles in der Mache, Tom!«
Sein Stubenkamerad verbrachte eine halbe Stunde damit, sich Fusseln von der Hose zu bürsten und Hemden zu wechseln, während Tom sich über ihn lustig machte.
»Hast du dein Y-Chromosom irgendwo verlegt?«
»Klappe, Tom. Das hier ist etwas anderes.«
»Aber klar doch, Kumpel. Geh bei Jenny heute nicht weiter als bis zum Zungenkuss, sonst respektiert sie dich am Morgen danach nicht mehr.«
Vik holte mit der Faust aus und schlug auf seinen Arm ein, grinste aber dabei und hatte wieder seinen irren Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Ich sehe gut aus.«
Tom legte sich die Hand auf das Herz, um seine Ehrlichkeit zu bezeugen. »Du siehst irre aus.«
»Irre gut«, sagte Vik. »Sie wird über mich herfallen.«
»Red dir das nur ein, Vik.«
»Stirb langsam, Tom.«
Tom wartete, bis Vik gegangen war, um sich eine Abfuhr einzuhandeln, und fing dann damit an, Videogames zu spielen. Doch irgendetwas war nicht so, wie es hätte sein sollen – und als er in ein Spiel einstieg, das man zu zweit spielen konnte, erkannte er auch, was es war: Es gefiel ihm besser, wenn er gegen Medusa antrat.
Die quälende Leere seiner Stube und die Stille in den Räumen der Alexander Division bedrückten Tom. Also stellte er sich Medusa als ein Mädchen vor, das um die Ecke lebte. Sie wäre dann jemand, mit dem er jederzeit Videogames spielen könnte. Vielleicht wäre sie sogar jemand, den er abends mal mit ins Planetarium nehmen könnte – falls er sich traute.
Vik kehrte mit einem blauen Auge zurück, weigerte sich aber, darüber zu reden. Daher erfand Tom immer abstrusere Geschichten, wie es dazu gekommen war, bis Vik sich an das Neuronalkabel anschloss, um seine Ruhe zu haben. Grinsend klinkte sich auch Tom für die Nacht ein und nickte wenig später ein.
Früh am nächsten Morgen riskierte er einen Streifzug durch die frische Morgendämmerung zur U-Bahn. Pentagon City hatte noch nicht geöffnet, deswegen besuchte er eine andere VR-Halle in Arlington. Er hatte eine Stunde Zeit, sich mit Medusa zu treffen, bevor sie sich ausloggen musste.
»Willst du mal etwas Bescheuertes wissen?«, fragte er sie.
Heute kämpften sie wieder als Siegfried und Brunhilde gegeneinander. Tom hatte diese Simulation allein sehr oft gespielt und sich eine neue Strategie ausgedacht, wie er sie darin ins Jenseits befördern konnte. Unglücklicherweise hatte Medusa heimlich ein Add-on hereingeschmuggelt, das sie zu ihrem vollen taktischen Vorteil ausnutzte: Immer wenn sie beide auf bestimmte Ziegelsteine traten, schossen Flammen um sie herum hinauf.
Sie umkreiste ihn, wobei ihr Schwert in der brennenden Kammer glänzte. »Was denn?«
Tom konzentrierte sich lieber auf das Schwert als auf das Gesicht ihres Avatars. »Wir haben da so einen Ort bei uns im Turm, wo sich die Leute manchmal die Sterne anschauen. Das ist so etwas, wo sich Mädchen und Jungen treffen. Ich hatte da so einen schrägen Gedanken … Ich wünschte, du würdest bei uns im Turm leben, dann hätte ich dich mit hochnehmen können.«
Er warf Medusa einen raschen Blick zu. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.
»Bescheuert, oder?«, sagte Tom und lachte gezwungen.
Sie erwiderte nichts. Tom hackte mit seiner Axt auf sie ein und hoffte, sie werde seine Worte vergessen. Medusa parierte seine Schläge und schlitzte ihm dann mit einem kräftigen Hieb den Bauch auf. Anschließend kickte sie seine Leiche auf einen der mit Feuerfallen versehenen Ziegelsteine und ließ sie verbrennen.
Erst als sie mit einem Becken zurückkehrte und Wasser auf seinen brennenden Körper goss, sagte Medusa wieder etwas. »Im richtigen Leben würdest du mich nicht mögen. Ich wette, du stehst auf hübsche Mädchen.«
»Mädchen sagen immer, sie wären nicht hübsch, obwohl sie es in Wirklichkeit sind. Bei dir ist es bestimmt auch so.« Tom wusste es einfach.
Medusa betrachtete ihn eine ganze Weile nachdenklich. Und dann tat sie etwas Unerwartetes: Sie beugte sich zu ihm herunter und drückte ihm einen rauen Kuss auf die Lippen.
Tom hatte sich nicht mit seinem Neuronalprozessor eingeklinkt. Deshalb nahm er den Sinneseindruck nicht wahr. Es geschah nur in der virtuellen Realität – ein von seiner Datenbrille hergestelltes Trugbild von Brunhildes wunderschönem Gesicht, nur wenige Zentimeter vor dem seinen. Die Augen hatte sie geschlossen und ihre Lippen dorthin gedrückt, wo die seinen gewesen wären. Seine Datenhandschuhe vibrierten von der Berührung, als er seine Handflächen dorthin drückte, wo sich ihre virtuellen Arme befanden. Noch als Medusa sich allmählich zurückzog, klammerte er sich an ihren Avatar und spürte, wie ihn am ganzen Körper ein Schauer überlief, so als hätte er gerade tatsächlich ein Mädchen zum ersten Mal geküsst.
»Nicht so eilig.« Er zog sie wieder an sich und drückte seine virtuellen Lippen auf die ihren, um den Kuss zu erwidern.
Medusa lachte und entwand sich seinem Griff. »Hey, ich bin hier eingeklinkt. Deine Zähne sind gerade auf meine gestoßen.«
»Entschuldigung.« Dass er sich in einer öffentlichen VR-Halle befand und die Leute womöglich durch den hauchdünnen Vorhang, der ihn verbarg, sehen konnten, dass er jemanden küsste, scherte ihn nicht. Blitze durchfuhren ihn am ganzen Körper. »Bedeutet das jetzt, wir sind zusammen?«
»Wir kennen nicht einmal die Namen voneinander.«
»Schon, aber wir haben uns jetzt schon so oft getötet, dass ich finde, das ist schon etwas. Und, äh …« Tom holte erst tief Luft und ließ es dann wagemutig darauf ankommen. »Möchtest du wissen, wie ich aussehe?«
Medusa starrte ihn durch die glänzenden blauen Augen von Brunhilde an.
»Wir können es beide tun. Geben wir die Avatare einfach auf.« Er brachte die Worte nur mit Mühe hervor, denn so etwas tat er nie, wenn es nicht unbedingt sein musste. Doch er wollte Medusa sehen, auch wenn das hieß, dass sie ihn ebenfalls zu sehen bekommen würde. Und er wusste, wusste es einfach, dass Medusa sein Bild keinem anderen weitergeben würde. »Damit würden wir nicht unsere Identitäten preisgeben. Ich werde es keinem zeigen, wenn du es auch nicht tust.«
Medusa wich zurück.
»Falls du dir Sorgen um deine Identität machst, ich werde niemandem verraten, wie du aussiehst«, gelobte Tom, der spürte, wie sie sich zurückzog. »Ganz bestimmt nicht.«
Medusa starrte ihn im flackernden Licht der Fackeln an. »Ich muss dir etwas sagen. Der Gipfel im Kapitol steht kurz bevor.«
»Äh, ja, das weiß ich schon«, sagte Tom. Es lief ja immerhin überall in den Nachrichten.
»Elliot Ramirez wird dort kämpfen, aber alle hier wissen, dass er einen Vertreter haben wird.«
»Ja, so wie das bei Svetlana auch immer ist.«
»Ein Vertreter wie Alec Tarsus.«
Toms Herz setzte aus. Woher kannte sie diesen Namen?
Ihre nächsten Worte ließen ihm das Blut aus den Wangen weichen. »Oder Heather Akron. Oder Cadence Grey. Oder Karl Marsters.«
Das waren alles Mitglieder der Camelot Company.
Ihre Identitäten waren geheim. Medusa konnte sie nicht kennen. Das durfte sie nicht. Es sei denn …
Es sei denn, es gab irgendwo ein Leck.
Und zwar ein ernstes, sehr ernstes Leck.
»Ich habe mittlerweile alle Namen aus der Camelot Company gehört. Mitsamt ihren IPs. Es wird heute in den Nachrichten gesendet. Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst.« Sie blickte ihn eindringlich an. »Das dürfte sicherer für dich sein.«
Tom begriff, was sie damit meinte. Er schluckte heftig. »Ja, ich sollte dann wohl lieber gehen.«
Er zog sich seinen VR-Helm ab. Das Stimmengemurmel um ihn herum wirkte nicht besänftigend oder beruhigend. Tom sah den leeren Bildschirm an der Wand, und er bekam einen trockenen Mund, wohl wissend, dass es im Internet keine wirkliche Privatsphäre gab, auch nicht bei all seiner Vorsorge, all seiner Vorsicht, sich nur von außerhalb des Turms mit ihr zu treffen.
Die Identitäten der Mitglieder der CamCo waren aufgeflogen. So etwas würde hohe Wellen schlagen.
Und dabei würde nichts Gutes herauskommen.