FÜNFUNDZWANZIG

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf seinem Rückweg zum Turm. Aus Gesprächen von Leuten in der U-Bahn fing er Fetzen der besagten Namen auf. Namen, die der allgemeinen Öffentlichkeit nicht hätten bekannt sein sollen. Heather … Alec … Ralph … Emefa … Bis er das Pentagon erreicht hatte, hatte er alle Namen gehört. Sämtliche Kombattanten der CamCo waren aufgeflogen.

Und als er im Turm ankam, stellte es sich als die Katastrophe heraus, die er befürchtet hatte. Die Nachricht hatte ein Tohuwabohu ausgelöst; Rekruten umdrängten Tische in der von hektischem Stimmengewirr erfüllten Kantine. Die normalerweise nicht aktiven, in die Wände integrierten Bildschirme waren allesamt eingeschaltet und gaben die Nachrichten wieder.

Tom ging an mehreren CamCo-Mitgliedern vorbei. Snowden Gainey von der Napoleon Division hüpfte mehr oder weniger auf der Stelle und unterhielt sich aufgeregt mit Mason Meekins von Hannibal, der mit finsterem Gesichtsausdruck den Bildschirm in seiner Nähe betrachtete. Als Tom in den Aufzug trat, sah er auch dort auf dem normalerweise nicht aktiven, nur Notfällen vorbehaltenen Bildschirm die Nachrichten laufen. Der Reporter redete, während die Kamera über Fotos diverser aufgeflogener CamCo-Mitglieder schwenkte, Fotos aus Jahrbüchern, dem Internet und anderen Quellen. Als er das Jahrbuchfoto eines bebrillten Mädchens mit vorstehenden Zähnen und dichten Ponylocken sah, haute es ihn fast von den Socken. Der Bildlegende zufolge handelte es sich um Heather Akron.

Als Tom seine Stube erreichte, setzte ihn Vik über alles ins Bild, was im Verlauf der letzten Stunde Thema gewesen war: Die chinesischen Staatsnachrichten hatten sämtliche Identitäten der Mitglieder der CamCo veröffentlicht und sogar behauptet, man habe die »IPs ihrer PCs ausfindig gemacht.« Wer beim Militär war und von Neuronalprozessoren wusste, erkannte die wahre Bedeutung dieser Aussage: Über die IP-Adressen ließen sich jetzt die echten Namen der Camelot-Company-Kombattanten zusammensuchen.

»Elliot Ramirez muss tausend Tode sterben«, meinte Vik. »Er ist jetzt nicht mehr das einzige berühmte Gesicht hier.«

Tom dröhnte der Schädel. »Das ist übel.«

Vik warf sich auf sein Bett und schleuderte seine Stiefel von sich. »Ja, vor allem für Blackburn. Jemand muss sich in den Turm gehackt und alle Identitäten in die Finger bekommen haben.«

»Glaubst du?« Tom wusste, dass er sich lieber nicht hoffnungsvoll anhören sollte. Wenn alles Blackburns Schuld war, gab es vielleicht keine Untersuchung.

»Entweder das, oder wir haben eine undichte Stelle.«

Eine undichte Stelle. Tom lief es kalt den Rücken hinunter. Falls Blackburn nicht dafür verantwortlich war, würde er wie ein Irrer nach diesem Maulwurf suchen. Das würde noch tausendmal schlimmer werden als seine Jagd nach der Person, die sich in die Personaldatenbank gehackt hatte. Das hier war Landesverrat. Tom ging ans Fenster und starrte düster auf das Dach des alten Pentagons. Er steckte in der Klemme. Seine Treffen mit Medusa waren so auffällig wie eine riesengroße rote Fahne.

Vik schlug ihm mit der Hand auf die Schulter, was ihn zusammenzucken ließ. »Kopf hoch. Denk an den Gipfel.«

»Was ist damit?«

Vik klang schadenfroh. »Der russisch-chinesische Geheimdienst hat die IPs und Namen der CamCo-Leute in die Finger bekommen. Begreifst du nicht? Wenn sie erst einmal die Namen haben, lässt es sich nicht mehr abstreiten. Falls Elliot beim Gipfel im Kapitol vertreten wird, wird das Gesicht von Elliots Vertreter in allen Nachrichten gezeigt. Entweder blamieren wir uns beim Gipfel im Kapitol bis auf die Knochen, oder Elliot muss einen Vertreter bekommen, dessen Identität noch immer geheim ist und der für ihn kämpft. Einer von denjenigen unter uns, die nicht in der CamCo sind. Es wird Beförderungen geben.«

»Wir werden das nicht sein, Vik. Wir sind Rekruten. Viel eher kommt Nigel Harrison dran, weil er an erster Stelle auf der Warteliste zur CamCo steht.«

»Aber einer wird es eben sein. Die haben schon ewig niemanden mehr in die CamCo befördert.« Vik ließ sich wieder auf sein Bett fallen. Er schien überwältigt von der Vorstellung. »Stell dir das nur vor. Dein erster Kampf im All – gegen Medusa. Stell dir vor, gegen Medusa zu kämpfen

Tom musste sich total zusammenreißen, um nicht mit allem herauszuplatzen.

Mit einem Neuronalprozessor träumte man nicht. Man machte einfach zur vorprogrammierten Zeit die Augen auf und war anschließend hellwach. Doch als Tom um 05:13 die Augen aufschlug, wusste er, dass es zu früh war und etwas nicht stimmte.

Er schoss kerzengerade auf seinem Bett hoch und erkannte, was das Problem war: Lieutenant Blackburn, in voller Uniform, ragte über ihm auf und hatte das Kabel in der Hand, das er aus Toms Stammhirnport gezogen hatte. Hinter ihm warteten zwei bewaffnete Soldaten in der offenen Tür.

Tom bekam einen trockenen Mund. Er hatte daran gedacht, seine Treffen mit Medusa zu beichten, bevor jemand dahinterkam. Aber nun würde er keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.

»Mr Raines, wissen Sie, warum ich mich zu dieser unchristlich Stunde hier zu Ihnen hinaufschleppen musste?«, fragte Blackburn. »Der Grund dafür ist der, dass jemand in einem Etablissement namens Beringer Club Wind von dem gestrigen Leck bekommen hat. Er hielt es für seine patriotische Pflicht, mich aus dem Bett zu werfen und darüber zu informieren, dass Sie neulich dort waren. Er behauptet, sie hätten dort mit einer Online-Bekanntschaft kommuniziert. Mit jemandem in China

Plötzlich ergab alles auf schreckliche Weise einen Sinn.

Dalton. Natürlich, es war Dalton. Dalton steckte hinter allem.

Tom hätte etwas zu seiner Verteidigung sagen sollen. Er hätte so ziemlich alles tun sollen – außer lachen, doch genau das tat er.

»Ist da etwas Lustiges dran?«, wollte Blackburn wissen.

Erschrocken über sich selbst, hielt er sich die Hand vor den Mund. »Nein, Sir.« Seine Stimme war nur gedämpft zu hören. Sein Gehirn hingegen fügte nach wie vor die Mosaiksteine zusammen, und dieser grässliche Impuls zu lachen, ging nicht weg.

Dalton hatte ihm vor einigen Monaten mehr oder weniger gesagt, dass die Mitglieder der CamCo bald ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden würden.

Dalton hatte ihn durch Karl warnen lassen, dass Rache anstand.

Nun erfüllte Dalton seine »patriotische Pflicht« und stellte Tom eine Falle. Dem Beringer Club musste es irgendwie gelungen sein, seine Kontakte mit Medusa über Netsend nachzuvollziehen. Der Maulwurf schien gefunden, und dazu kam noch belastendes Material über Tom ans Licht. Es war alles so typisch Dalton.

»Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie ernst die Situation ist, Mr Raines? Wer diese Namen enthüllt hat, hat Landesverrat begangen. Auf Landesverrat steht eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren.«

Das Wort Gefängnis gab den Ausschlag. Das entsetzliche Verlangen zu lachen, löste sich in Luft auf. Tom hob den Blick zu Blackburn. »Hören Sie, ich habe da eine Online-Freundin in China, aber das ist …« Er zögerte, wohl wissend, dass er sich damit nur noch verdächtiger machen würde. Doch Ehrlichkeit war das Einzige, was er zu bieten hatte. »Sir, ich habe mich mit Medusa getroffen, okay? Aber ich kann es erklären. Ich habe nichts verraten, das schwöre ich.«

»Medusa.« Blackburn fuhr sich mit der flachen Hand über den Mund »Die russisch-chinesische Kombattantin, Medusa? Selbst Sie können nicht so dumm sein, Raines.«

»Wir haben bloß abgehangen und geredet und Games gespielt.« Die Worte sprudelten aus ihm heraus. »Ich war bloß neugierig auf sie, okay? Aber ich habe nie etwas gesagt, das der Geheimhaltung unterliegt. Ich war es nicht.«

Blackburn kniete sich hin, sodass er sich auf Augenhöhe befand. Seine Stimme wurde leiser. »Und sie hat Ihnen niemals einen Link zu der Website einer dritten Person geschickt? Hat Sie nie online irgendwohin verwiesen, wofür Sie ein Script laufen lassen mussten? Raines, sind Sie absolut sicher, dass sie nicht heimlich einen Trojaner in Ihren Prozessor gepflanzt hat, der ihr eine Hintertür zu unserem System geöffnet hat?«

»Das würde sie nicht tun.« Sie konnte es nicht gewesen sein. Es musste Dalton sein.

Aber …

Unwillkürlich erinnerte er sich wieder daran, wie Medusa ihm über Netsend eine Nachricht in den Beringer Club geschickt hatte. Es war ihr gelungen, seine Firewall zu überwinden und ihm eine Nachricht auf seinem Infoscreen zu hinterlassen, genau wie er es bei ihr getan hatte.

Wie er selbst es hinbekommen hatte, wusste er, nämlich so, wie er sich auch in die Satelliten eingeklinkt hatte und direkt durch die Firewall der Sun-Tzu-Zitadelle getrieben war. Das war der Weg, den er gehen konnte. Aber wenn er es sich recht überlegte, wusste er nach wie vor nicht, wie es ihr gelungen war. Wie hatte sie die Firewall überwunden und ihm eine Nachricht hinterlassen können?

Nein. Er schüttelte den Kopf. Nein, das würde Medusa nicht tun. Sie hatte ihn geküsst. Sie konnte es nicht sein.

»Aber sie mag mich. Wir sind nicht … Wir sind …« Er unterbrach sich. Seine Wangen glühten.

Er hatte genug gesagt. Mit einem tiefen Seufzer richtete sich Blackburn wieder auf. »Der Honigtopf ist der älteste Trick aus dem Spionagelehrbuch, Mr Raines. Hübsche Gesichter haben schon Präsidenten und Generäle übertölpelt, und dass eines davon einen jungen Teenager übertölpeln kann, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit.«

Tom erhob sich und zog wie betäubt seine Uniform an. In Gedanken ging er dabei jede einzelne Begegnung mit Medusa durch; dabei versuchte er, einen Hinweis darauf zu erhaschen, ob sie ihn manipuliert haben könnte. Er fand keinen. Das Leck konnte nicht auf ihn zurückgehen, oder?

Als Tom hinter Blackburn den Raum verließ, schnarchte Vik noch immer leise auf dem anderen Bett. In diesem Moment hätte Tom alles dafür gegeben, selbst auch noch zu schlafen.

Als er in den Gemeinschaftsraum der Rekruten trat, stellte er fest, dass auch dort bewaffnete Soldaten warteten. Als sie ihn erblickten, griffen sie zu ihren Waffen, und Tom gefror das Blut in den Adern. Erst jetzt begriff er den ganzen Ernst seiner Lage. Sein Herz schlug wie wild. Er hatte das Gefühl, keinen Schritt mehr machen zu können, sich nicht bewegen zu können.

Zehn Jahre Gefängnis …

»Runter mit den Waffen. Alle!«, befahl Blackburn in scharfem Ton. »Raines, achten Sie nicht auf sie. Wir gehen nach unten und reden.«

Toms Kehle war staubtrocken. »Ich bin kein Spion.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Blackburn. »Ich bin absolut sicher, dass nicht Sie es wären, wenn die Russen oder Chinesen einen Doppelagenten in den Turm einschleusen wollten. Also achten Sie nicht auf die Schusswaffen und konzentrieren Sie sich nur auf mich.« Er wies mit zwei Fingern auf seine Augen, woraufhin Tom sich darauf konzentrierte. »Ich bin mir sicher, dass diese Sache nicht auf einem bösen Vorsatz von Ihnen beruht. Sie werden nicht wegen Leichtgläubigkeit ins Gefängnis wandern. Aber wir müssen nach unten gehen, und ich muss mir Ihren Prozessor anschauen, damit ich ihn auf Schadprogramme hin überprüfen kann. Die könnten sich in diesem Moment Zugang zum Turm verschaffen.«

»In diesem Moment?«

»Ja, Raines. Deswegen machen wir einen Systemscan und sehen dann weiter. Hinterher benutzen wir den Memografen, um Ihre Begegnungen zu überprüfen, damit ich den Beweis dafür habe, dass Sie nicht absichtlich gehandelt haben. Verstanden?«

Tom schluckte und musste sofort noch einmal schlucken. »J … ja, Sir.« Als er sich in Bewegung setzte und Blackburn in die Aufzugskabine folgte, schienen an seinen Füßen Zementblöcke zu hängen.

In der Krankenstation legte ihm ein übernächtigt aussehender Dr. Gonzales eine Blutdruckmanschette um den Arm und begann, eine ärztliche Untersuchung bei ihm durchzuführen. Nach Blackburns Worten stand dann eine Memografie an.

»Eine Memografie ist fast so etwas wie eine normale Ansicht der Erinnerungen«, erklärte Blackburn. Er stand über einen Computer in der Nähe gebeugt, der über ein Neuronalkabel mit Toms Stammhirnport verbunden war. Auf dem Bildschirm flimmerten Daten, Toms Scan war in Vorbereitung.

Tom beobachtete diesen Bildschirm aus der Ferne. Während er darauf wartete, ob Blackburn etwas finden würde, lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

»Der Memograf wird die in Ihrem Prozessor indizierten Erinnerungen unter Verwendung eines alternativen Suchalgorithmus durchforsten«, fuhr Blackburn fort, den Blick auf den Bildschirm geheftet. »Dieses Mal steuern Sie das Gerät nicht. Es steuert sich selbst und sucht nach Erinnerungen und Gedankenbildern, die Sie zu verbergen suchen … Da!«

Sein Ausruf ließ Tom zusammenfahren. Er sah, wie der Lieutenant hastig etwas auf der Tastatur eingab. »Und da ist es.« Seine Stimme klang triumphierend. »Das muss die Schadsoftware sein. Von mir stammt das jedenfalls nicht.«

Toms Herz setzte aus. Er sprang auf und lief hinüber, weil er Medusas Verrat mit eigenen Augen sehen wollte. Dr. Gonzales fluchte, und Tom erkannte, dass er nach wie vor die Blutdruckmanschette trug, und das hinter ihm her schleifende Kabelgewirr einen Vorratskarton umgerissen hatte.

Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er packte die Rückenlehne von Blackburns Stuhl und schaute dem Mann über die Schulter, mit dem Blick hektisch über die Daten auf dem Bildschirm huschend. Als er den verdächtigen Dateinamen flüchtig zu sehen bekam, machte sich Erleichterung in ihm breit. Er schüttelte den Kopf. »Das ist keine Schadsoftware, Sir.«

»Raines, das hier ist eine komplexe Software. Ich nehme nicht an, dass Sie verstehen …«

»Ich sage Ihnen doch, es ist keine Schadsoftware. Das hier stammt von Wyatt.« Er dachte sich rasch einen Grund dafür aus, dass es dort war. »Ich hatte Wyatt nach den Kriegsspielen darum gebeten, es für mich zu schreiben. Sie wissen schon, weil meine Programme doch total mies sind.«

»Das kann man wohl sagen«, stimmte ihm Blackburn abwesend zu, während er das Programm studierte.

»Ist das alles, was Sie gefunden haben?«, fragte Tom hoffnungsvoll. »Sonst ist da nichts?«

Blackburn schaltete den Bildschirm aus. »Ja, das war’s.«

Tom hätte am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. Kein Honigtopf. Kein Verrat. Medusa hatte ihn nicht dazu benutzt, um den Turm auszuspionieren. Es war nicht seine Schuld. Er hüpfte zurück auf den Untersuchungstisch. Seine Erleichterung war so groß, dass er das Gefühl hatte, in die Stratosphäre hochschießen zu können. Dr. Gonzales nahm seine ärztliche Untersuchung wieder auf.

»Also machen wir jetzt bloß dieses Memodingsbums, und dann kann ich wieder gehen?«, fragte er Blackburn, während Dr. Gonzales seinen Rücken mit einem Stethoskop abhorchte.

»Wir klinken Sie an den Memografen, und danach können Sie Ihrer Wege gehen.«

Tom grinste. Er konnte nicht anders. Das waren die besten Nachrichten, die er je gehört hatte. Davon war er überzeugt.

Blackburns Blick verengte sich. »Aber wenn Sie glauben, ich würde Sie dafür, dass Sie ein solch unglaublicher Idiot gewesen sind, nicht zumindest unter eingeschränkte Bewegungsfreiheit stellen, dann werden Sie sich noch wundern.«

Tom tat es mit einem Achselzucken ab. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit war nichts im Vergleich zu zehn Jahren im Gefängnis.

Dr. Gonzales richtete sich auf und riss die Blutdruckmanschette ab. »Er ist gesund, Lieutenant. Ich unterschreibe jetzt die Vollmachtsformulare.«

»Vollmachtsformulare?«, wiederholte Tom.

Blackburn langte hinter sich und holte einen Stapel Papiere heraus. »Eine Memografie erfordert eine ärztliche Zustimmung.«

»Brauchen Sie dann sonst noch etwas?«, fragte Dr. Gonzales, während er erst die eine, dann die nächste und schließlich noch eine dritte Seite aufblätterte und unterschrieb. Der Stapel wuchs ständig an, und Tom fragte sich, warum so viele Dokumente für diese Sache nötig waren. »Soll ich jemanden wegen Inkontinenzversorgung mit nach unten schicken?«

Tom schaute Blackburn scharf an. »Inkontinenzversorgung?«

Blackburn schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein.«

»Inkontinenzversorgung? Ich dachte, Sie hätten gesagt, es handelt sich hier bloß um eine standardmäßige Ansicht!«

Blackburn sah ihn prüfend an. »Ist es auch, Raines. Solange Sie Ihrerseits keinen Widerstand leisten, ist es bloß eine standardmäßige Ansicht. Aber manchmal, vor allem am Anfang der Untersuchung, neigen die Menschen dazu, Widerstand gegen den Memografen zu leisten. Eine Memografie geht ans Eingemachte. Sie bringt Dinge an die Oberfläche, die Sie womöglich nicht teilen wollen, Erinnerungen, an die Sie sich nur halb erinnern. Außerdem holt sie sehr persönliche Gedankenbilder an die Oberfläche.«

»Persönliche Gedankenbilder«, wiederholte Tom, begreifend. »Zum Beispiel, äh, Tagträume.«

»Ja.«

»Und anderes, das so in diese Richtung geht.«

»Ja«, sagte Blackburn ungeduldig.

»Sie werden sie sehen«, wiederholte Tom.

»Ja, Raines, und wenn Sie nicht darüber hinwegkommen, dann werde ich letztendlich eine Menge davon zu sehen bekommen. Also keine falsche Scham, zu unser beider Wohl.«

In Toms Kopf dröhnte es. »Warum also dann Inkontinenzversorgung?«

»Ausgedehnter Widerstand führt zu einer ausgedehnten Memografie«, erläuterte Blackburn. »Das Gerät ist darauf angelegt, nach Erinnerungen zu suchen, die Sie aktiv verbergen wollen. Wenn Sie Widerstand leisten, fängt es damit an, andere, nicht damit zusammenhängende Erinnerungen auszugraben, um so Ihre Widerstandsfähigkeit zu neutralisieren. Es baut auf systematische Art und Weise Ihren psychologischen Verteidigungsmechanismus ab. Theoretisch könnte es Ihr Gehirn zerstören. Aber darum geht es hier nicht. Wenn Sie keinen Landesverrat begangen haben, brauchen Sie nichts vor mir zu verbergen, und die Sache wird ganz schnell vorüber sein.«

Nichtsdestotrotz nagte etwas an Tom. Und erst als sie die Krankenstation wieder verlassen hatten und den Flur entlang zum Aufzug gingen, wurde ihm klar, was es war. Blackburn wimmelte die bewaffneten Soldaten erneut mit einer Handbewegung ab und murrte dabei etwas von zu viel des Guten, sodass die Soldaten ihre Waffen abermals senkten und ein ganzes Stück hinter ihnen zurückblieben.

Auf halbem Weg zum Fahrstuhl blieb Tom abrupt stehen.

Er erinnerte sich an etwas, nämlich mit Yuri durch diese Flure gejoggt zu sein.

Mit Yuri.

Yuri, der eine neue Firewall bekommen hatte.

Toms vage Besorgnis verwandelte sich in echten Schrecken. Er kannte Yuris und Wyatts Geheimnis. Er hatte keinen Landesverrat begangen, die beiden aber schon. Da er es wusste, würde es auch Blackburn bald wissen. Die Memografie würde das in seinem Gehirn zutage bringen.

»Warten Sie. Ich will das nicht machen.«

Blackburn drehte sich um. »Sie haben keine Wahl, Raines.« Er musterte ihn. »Mir ist klar, dass Sie Angst haben …«

»Ich habe keine Angst«, protestierte Tom.

»Gut. Das sollten Sie auch nicht. Und jetzt bringen wir diese Sache hinter uns.«

»Ich will keine Memografie mitmachen, Sir!«

»Sie haben keine Wahl«, sagte Blackburn so langsam, als erklärte er einem kleinen Kind etwas. »Wenn es um die nationale Sicherheit geht, haben Sie kein Recht, sich zu weigern.«

Tom hörte sein Herz hämmern, so fest schlug es. Seine Unterarmtastatur trug er nicht mit sich, sodass er nun die nächstgelegene Wand nach einem Rechner absuchte. Vielleicht konnte er Wyatt ja über Netsend eine Warnung senden. Dann konnte sie Yuri wieder chiffrieren und vielleicht Beweise vertuschen oder so.

»Kann ich vorher noch jemanden kontaktieren?«

Blackburns Blick verengte sich. »Wen?«

Darauf wollte Tom keine Antwort geben.

»Allmählich machen Sie sich ernsthaft verdächtig, Mr Raines, ist Ihnen das klar?«

Tom atmete schwer. Er schaute erst die Soldaten und dann Blackburn an. Eine Untergangsstimmung überwältigte ihn.

»Okay, ich komme mit«, sagte Tom. Er machte Anstalten zu folgen, wartete jedoch nur darauf, dass Blackburn sich von ihm täuschen ließ und wandte sich dann von ihm ab. Tom wirbelte herum und rannte den Flur entlang.

»Hinterher!«, ertönten hinter ihm Rufe.

So dumm zu glauben, er könne ganz auf sich allein gestellt aus dem Pentagon fliehen, war Tom nicht. Es gab einen einzigen Menschen, der in diesem Moment eingreifen und die Katastrophe abwenden konnte. Jemand, den selbst General Marsh nicht antasten konnte. Er hoffte nur, dass sie da sein würde. Er warf sich gegen Olivia Ossares Glastür und hämmerte mit der Hand dagegen. Währenddessen hörte er das lauter werdende Getrampel schwerer Stiefelschritte.

Schwachkopf, Schwachkopf, Schwachkopf, hämmerten Toms Gedanken. Es ist ja noch nicht einmal 07:00, natürlich ist sie noch nicht hier …

Doch dann stand sie auf der anderen Seite des Schreibtisches auf, über den sie sich gebeugt hatte, um ihre Schubladen zu durchforsten. Erleichterung überfiel ihn. Kaum hatte sie die Glastür beiseitegeschoben, stürzte er zu ihr hinein, das wilde Verlangen bekämpfend, sie zu packen und im Kreis zu drehen oder so etwas.

»Sie sind doch dafür da, wenn wir ein Problem mit unseren militärischen Vormunden haben, nicht wahr?«, brachte Tom gehetzt hervor. »Tja, ich habe da gerade ein riesiges Problem mit meinen militärischen Vormunden.«

Sie runzelte die Stirn. »Was ist passiert?«

»Sie müssen mir helfen. Sie müssen einfach.« Tom hörte, wie jemand gegen die Tür hämmerte, und machte einen Satz nach vorn, weg von dem Geräusch, sodass er gegen ihren Schreibtisch stolperte.

Draußen vor der Tür standen Blackburns Soldaten und starrten sie beide an. Die enorme Tragweite dessen, was hier geschah, ließ Tom übel werden.

»Was gibt es?« Olivia trat auf die Tür zu.

»Nicht!« Tom packte ihren Arm. »Nicht aufmachen.«

Doch sie nahm sein Handgelenk und entzog sich sanft seinem Griff. »Tom, setz dich hin. Ich werde denen sagen, dass sie warten sollen.«

»Und was, wenn sie nicht auf Sie hören?«

Sie drückte ihm die Hand. »Sie werden auf mich hören.« In ihrer Stimme lag etwas Knallhartes. »Nun setz dich schon.«

Tom kam gar nicht richtig zu Atem. Doch in ihrer Stimme schwang eine Gelassenheit mit, eine Selbstsicherheit, die irgendwie dazu führte, dass er ihr glaubte.

Als sie sich den Soldaten zuwandte, schnappte er sich ihren Rechner, rief Netsend auf und begann, eine Nachricht an Wyatt zu tippen. Dann begriff er. Nein, das konnte er auch nicht tun. Blackburn konnte sie rückverfolgen. Rasch löschte er sie wieder. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, und ihm kam keine Idee, was er hätte unternehmen können. Es gab keine Möglichkeit für ihn, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Sein Blick richtete sich auf die Soldaten, die sich jenseits der Glastür nun mit Olivia stritten. Ihre Stimme klang immer noch sanft, und dann, überraschenderweise, ja wundersamerweise, zogen sich die Soldaten zurück. Nie hätte Tom gedacht, dass Kerle mit Schusswaffen auf diese Frau hören würden. Sie schloss die Tür und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz.

»Willst du mir erzählen, was passiert ist, Tom?«, fragte sie.

Tom versuchte, alles auf die Reihe zu bekommen. Er wusste, dass es ein Fehler gewesen war, vor Blackburn davonzulaufen, wusste aber nicht, was er sonst hätte tun sollen.

»Blackburn glaubt, dass ich der Maulwurf bin, und er will den Memografen bei mir zum Einsatz bringen.« Die Worte sprudelten nun immer schneller aus ihm heraus. »Ich bin aber nicht der Maulwurf. Ich schwöre, ich bin es nicht. Und er will nicht nur eine normale Erinnerungsansicht vornehmen. Die werden mir meine Erinnerungen aus dem Kopf reißen. Blackburn hat gesagt, es könnte einem das Gehirn zerstören, wenn man das Gerät zu lange einsetzt. Dr. Gonzales hat gesagt, man könnte dabei inkontinent werden. Ich will aber nicht inkontinent werden, okay? Ich will das nicht!«

Olivias Brauen zogen sich zusammen. »Die haben kein Recht, dich dazu zu zwingen, Tom. Ich werde mit Lieutenant Blackburn sprechen.«

»Er wird nicht auf Sie hören. Haben Sie irgendwelche zivilen Quellen, die mir helfen könnten? Egal welche? Ich weiß nämlich nicht, was ich tun soll.«

»Ich werde mit General Marsh reden.«

»Der ist gerade in Indien und trifft sich wegen des Gipfels im Kapitol mit anderen Militärs.«

Plötzlich stand Blackburn persönlich vor der Tür und sprach mit den Soldaten. Tom ballte die Hände zu Fäusten und schaute mit einem beklemmenden Kloß im Hals zu, wie Blackburn seine Unterarmtastatur anhob, etwas eingab und …

Klick. Das Türschloss sprang auf.

Blackburn kam hereinmarschiert.

Olivia sprang auf. »Was fällt Ihnen ein?«, schrie sie ihn an, eilte um ihren Schreibtisch herum und stellte sich zwischen Blackburn und Tom. »Das hier ist mein Büro. Sie haben nicht das Recht, hier einzudringen!«

»Und das hier ist einer unserer Rekruten.«

»Das können Sie nicht tun.« Als Blackburn auf Tom zuging, versperrte Olivia ihm den Weg. »Ich bin der Rechtsbeistand dieses Jungen, und ich lasse nicht zu, dass Sie ihn festnehmen und dieses Gerät bei ihm einsetzen. Er ist Zivilist, und Sie haben nicht die Befugnis dazu. Sie brechen das Gesetz, Lieutenant!«

Er ließ sich nicht beeindrucken. »Ein Gesetz ist ein Stück Papier, bis jemand willens und in der Lage ist, es durchzusetzen. Fragen wir die Herrschaften mit den Schusswaffen, ja? Ich breche hier das Gesetz. Möchte mich jemand verhaften?« Er warf die Hände in gespielter Unterwerfung in die Luft, während er sich zu seinen Soldaten umdrehte, die bloß schweigend dastanden. »Nicht? Tja, dann hätten wir die Antwort. Gehen Sie zur Seite, Ms Ossare.«

Er trat erneut ein Stück vor, doch sie hielt ihn auf, indem sie ihre Hände auf seine Brust legte. »Was fällt Ihnen ein.« Ihre Stimme bebte vor Wut. »Sie übertreten Ihre Befugnisse. Er hat einen Rechtsanspruch darauf …«

»Bevor Sie mich über Bürgerrechte belehren, sagen Sie mir lieber, wie Sie allen Ernstes hier drei lange Jahre arbeiten konnten, ohne sich ein Bild davon zu machen, wie der Hase läuft? Der Junge hier ist nicht in einem Ferienlager. Er ist ein militärischer Posten. Seine Rechte beginnen und enden mit diesem Neuronalprozessor in seinem Hirn. Und das ist immer noch mehr, als der Großteil dieses Packs für sich in Anspruch nehmen kann. Was meine Befugnisse angeht, so benutze ich rohe Gewalt. Sie benutzen Worte. Das eine übertrumpft das andere. Ich werde Ihnen zeigen, welches von beiden.« Er wischte ihre Hände von seiner Brust, wirbelte sie herum und schob sie beiseite.

Sie wollte erneut auf ihn losgehen, doch einer von Blackburns Männern packte sie um die Hüfte. Tom sprang auf, weil Olivia den Eindruck erweckte, als wolle sie gegen alle angehen, und er nicht zulassen würde, dass sie verletzt wurde. Er hatte getan, was er tun konnte, indem er hierhergeflüchtet war, um zu sehen, ob es zivile Hilfe gab. Es gab sie nicht. Es war vorbei, und wenn er der Sache jetzt nicht Einhalt gebot, würde es nur noch schlimmer werden.

»Ms Ossare, nicht! Es ist okay. Ich werde mit ihnen gehen.«

»Guter Junge, Raines«, sagte Blackburn, kam auf ihn zu und ergriff ihn. Dieses Mal befahl er den Soldaten nicht, ihre Waffen, die sie erhoben hatten, zu senken, sondern zerrte Tom aus dem Raum.

Kaum war sie wieder frei, rannte Olivia hinter ihnen her. Sie streckte ihre dunkle Hand aus und umschloss damit flüchtig die seine. »Tom, ich werde dich hier rausholen«, versprach sie. »Ich schwöre es.«

»Danke«, sagte Tom, bevor Blackburn ihn nach vorn und aus ihrer Reichweite riss. Doch er glaubte nicht daran, dass sie dazu in der Lage sein würde. Es gab nichts auf der Welt, was ihn nun noch vor dem Memografen bewahren konnte.