SECHSUNDZWANZIG

Heute ähnelte die Calisthenics Arena einer tropischen Insel. Tom stürmte los, schneller und stärker als alle anderen in der Simulation. Vor einer ruhigen, sonnenbeschienenen kleinen Bucht wartete er, um Heather über den Stamm einer umgestürzten Palme zu helfen. Sie sprang über den Baumstamm hinweg, geriet jedoch ins Stolpern und kreischte überrascht auf. Ihre Uniform war abgefallen!

Sie blickte mit ihren wunderschönen Augen zu ihm auf. »O nein, was soll ich nur tun, Tom? Ohne Kleider ist es doch so kalt. Und Zombies greifen mich an!«

Eine Horde Zombies ging auf sie los. Mit den Hieben seiner mächtigen Fäuste fällte Tom sie alle. Heather schrie, als sie die Zombies erblickte, und bewunderte dann Toms Heldenmut.

Tom drehte sich um und schritt voran. Er überragte sie um dreißig Zentimeter, und seine Schultern waren so breit wie Siegfrieds. Heathers wunderschöne Augen ergötzten sich am Anblick seines makellosen Waschbrettbauchs, entblößt an den Stellen, wo die Zombies seinen Uniformrock zerfetzt hatten. »Oh, Tom, du bist so durchtrainiert und mutig. Du bist ein viel tollerer Mann als Elliot Ramirez.«

Wyatt ging neben ihm und sagte: »Das stimmt! Das ist er wirklich!«

Tom nahm Heather in seine muskulösen Arme. »Mach dir keine Sorgen. Du brauchst keine Kleidung. Nicht, wenn Tom Raines bei dir ist.«

Erneut ertönte ein spitzer, mädchenhafter Schrei.

Es war Ching Shih, die chinesische Piratin, die Medusa in Pirate Wars verkörperte. Sie war über den gleichen Baumstamm gestolpert und hatte ebenfalls ihre Uniform verloren. Aber sie war nicht wirklich Ching Shih, sondern eine jüngere, viel hübschere Version von dieser. Es war Medusa, so wie Tom sie sich vorstellte.

»O nein, Tom«, sagte Medusa. »Mir ist jetzt auch kalt!«

Tom kicherte. »Glück für dich, dass ich zwei Arme habe.« Er streckte einen Arm nach ihr aus, und Medusa gesellte sich freudig zu ihnen.

Heather zog eine Schnute. »Tom, ich will dich nicht teilen.«

»Vielleicht will ich Tom ja nicht mit dir teilen, Heather.« Medusa drängte sich an Toms mächtige Brust.

Tom lächelte die beiden Mädchen in seinen Armen an. »Streitet euch nicht um mich, Ladys. Der große, starke Tom kann euch beide lieben.«

Sie erröteten, murmelten etwas davon, wie gut er doch aussah und wie charmant er war, und dann taxierten sie einander.

»Ihre Fantasien gehen ja alle in die gleiche Richtung«, klagte Blackburn. Er saß neben dem Memografen und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Auf dem Bildschirm über ihnen waren Toms Gedankenbilder zu sehen. »Langweilt Sie das denn nicht irgendwann?«

»Dann sehen Sie einfach nicht hin!«, schrie Tom ihn an.

»Beruhigen Sie sich. Sie werden hysterisch … großer, starker Tom.«

Tom schloss die Augen. Am liebsten wäre er auf der Stelle tot umgefallen. Aber vorher wollte er erleben, wie Blackburn tot umfiel. Nein, lieber wie er ausgeweidet werden würde.

Er saß unter dem Memografen, die Arme festgeschnallt, damit er keinen weiteren Fluchtversuch unternehmen konnte. Die Lichtstrahlen, die aus dem Greifer des Geräts kamen, leuchteten grell in seine Schläfen. Er hoffte, ein Meteorit würde im Turm einschlagen und alles vernichten. Er hoffte auf irgendetwas, das diese Sache hier beenden würde.

Als die Fantasievorstellung ihren natürlichen Verlauf nahm, stieß Blackburn gereizt die Luft aus und sagte: »Es reicht.« Er stand auf, langte nach oben und schaltete den Memografen ab.

»Sind wir fertig?«, fragte Tom hoffnungsvoll.

»Wir haben noch nicht einmal angefangen, Raines. Sie und ich haben drei Stunden mit Ihren schwachsinnigen Fantasien vergeudet. Wann geht es Ihnen endlich in den Kopf, dass Sie nichts vor mir verbergen können, solange Sie hier auf diesem Stuhl sitzen? Wenn Sie bereits bei etwas so wenig Peinlichem Widerstand leisten wie bei diesen …« – er suchte nach dem richtigen Ausdruck – »diesen unwahrscheinlichen Begegnungen, die Sie sich da mit verschiedenen weiblichen Auszubildenden vorstellen, dann wird das hier eine lang andauernde Tortur für uns beide.«

Tom starrte mit zornigem Gesicht auf den Bildschirm, die Fäuste gegen die Armlehnen gepresst.

Blackburn schnippte mit den Fingern, um Toms Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Versuchen Sie es mal damit, Raines. Denken Sie nicht an einen Elefanten.«

»Was?«

»Denken Sie nicht an einen Elefanten. Denken Sie nicht – ich wiederhole, nicht – an einen Elefanten.« Er ließ die Worte einen Moment in der Luft schweben. Dann fragte er: »Sie denken gerade an einen Elefanten, nicht wahr?«

»Ja, ich denke gerade an einen blöden Elefanten! Wieso?«

»So funktioniert das«, erklärte Blackburn und wies auf den Bildschirm. »Wenn Sie versuchen, nicht an diesen Elefanten zu denken, nimmt dieser Elefant in Ihrem Bewusstsein erst recht Gestalt an. Der Memograf spürt dieses Bewusstsein. Er merkt, dass Sie etwas verbergen. Er hört erst dann auf, den Rest Ihrer Erinnerungen zu durchstöbern, wenn er spürt, dass Sie damit aufhören, den Elefanten vor ihm zu verbergen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass wenn ich mich weiterhin dagegen sträube, dass Sie alles in meinem Gehirn sehen können, Sie am Ende tatsächlich alles in meinem Gehirn sehen können? Ist das richtig?«

»Ja, so ist es – desensibilisieren Sie sich also lieber schnell. Wenn Sie sich zu lange wehren, dann garantiere ich Ihnen, dass hinterher nicht mehr viel von Ihrem Verstand übrig ist. Gegen einen Memografen kann man sich nicht zur Wehr setzen.«

Toms Brust schmerzte, als Blackburn das Gerät wieder einschaltete. Er wollte am liebsten den Kopf einziehen, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte – die Strahlen folgten ihm und richteten sich erneut auf seine Schläfen aus. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit machte sich in ihm breit. Er hatte es bereits total satt, wollte nur noch wieder zurück auf seine Stube.

»Fortschritt«, bemerkte Blackburn. »Sehr gut.«

Tom hob den Kopf und bemerkte, dass die Fantasien endlich weg waren. Er hatte sich wohl desensibilisiert und akzeptiert, dass Blackburn sie sehen konnte. Allerdings war das nächste Bild, das der Memograf aufrief, auch nicht viel besser.

Es war Toms allererster Schultag. Er war elf Jahre alt und starrte auf die Klauen seines Lord-Krull-Avatars, während Ms Falmouth ihn anschrie, er sei unverschämt. Dann forderte sie ihn auf, etwas vorzulesen, was an der Tafel stand. Tom wich aus, wollte sich herausreden, doch sie drängte ihn erbarmungslos und trieb ihn in die Enge. Tom kannte die Buchstaben ein wenig, und so versuchte er es mit »Lie–in-co-le-in …«, während er auf das Wort »Lincoln« starrte. Als seine Klassenkameraden begriffen, dass er nicht lesen konnte, erfüllte Gelächter den Unterrichtsraum.

Sein Gesicht wurde auf einmal glutheiß. »Das ist nicht geschehen.« Er konnte nicht anders, als zu lügen, denn eher hätte er sich die Zunge abgebissen, als es gegenüber Blackburn einzugestehen. »Das war genauso wenig real wie die Fantasien.«

»Ehrlich, Raines – mir ist das egal.« Blackburn nippte an seinem Kaffee und wirkte gelangweilt.

Tom entspannte sich ein wenig, als er begriff, dass Blackburn es ernst meinte. Die Erinnerungen an Rosewood verblichen. Die Szene veränderte sich erneut.

Neil.

Nein, nicht sein Vater. Nicht vor Blackburn. Bitte nicht sein Vater.

Weil Tom dagegen ankämpfte, verbiss sich der Memograf in dieses Thema.

Es war jener Abend, als Tom noch klein war und zwei Typen in ihr Zimmer platzten. Sie brüllten Neil wegen Geld an und schlugen ihn zusammen. Sie nahmen Neil die Uhr weg, weil diese das Einzige war, was er noch besaß. Tom bekam es so sehr mit der Angst zu tun, dass er sich unter dem Bett zusammenkauerte und sich in die Hose machte. Hinterher versuchte Neil, ihn zu beruhigen, und sagte ihm, es wäre okay, die Männer wären jetzt weg. Doch Tom wollte seine Mom und hielt sich die Ohren zu, als Neil erklärte, sie würde nicht kommen, würde nie wieder bei ihnen sein …

Toms Körper verkrampfte sich, und er knirschte mit den Zähnen. Er hatte seit so vielen Jahren nicht mehr an diesen Abend gedacht. Er musste ihn regelrecht vergessen haben, und nun war er in seinem Gehirn, als hätte er erst vor Kurzem stattgefunden.

Blackburn schwenkte seinen Stuhl herum und musterte Tom über seine Kaffeetasse hinweg. »Ich hatte Sie gewarnt, dass der Memograf tief vergrabene Erinnerungen zum Vorschein bringt und Ihre psychologischen Verteidigungsmechanismen außer Kraft setzt. Es wird immer schlimmer werden, wenn Sie das, was Sie verbergen, nicht freiwillig preisgeben.«

Toms Gedanken schnellten zu Yuri und Wyatt, und genauso schnell zwang er sich dazu, sie fallen zu lassen. »Ich verberge nichts.«

»Wenn es so wäre, wäre die Sache hier schon vorbei, und wir beide säßen beim Frühstück.«

Der Memograf grub immer weiter, brachte immer mehr Erinnerungen zum Vorschein – einen endlosen Katalog davon. Tom beschloss, dass er das Gerät verabscheute, so vollkommen verabscheute, dass er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Am liebsten hätte er das Ding in die Luft gejagt, wäre in es eingedrungen so wie in den Klärbehälter im Beringer Club und hätte es von innen hochgejagt …

Und dann begann die Memografie, sich in genau diese Erinnerung zu vergraben. Der Bildschirm war voll davon: Das Kabelgeflecht, die Elektrizität, Toms Bewusstsein, das in das Abwassersystem des Beringer Club eindrang und sich mit ihm verband. Das hochsteigende Abwasser, das in die verkehrte Richtung gepumpt wurde …

Zuerst warf Blackburn lediglich einen trägen Blick auf das Bild. Dann setzte er sich kerzengerade auf, und als der Bildschirm zeigte, wie das Abwasser über den Fußboden des Beringer Club schwemmte, war er auf den Beinen und schaute mit weit geöffnetem Mund zu.

»Was ist das, Raines?« Er drehte sich um, und im Halbdunkel des flackernden Lichts funkelten seine Augen. »Was habe ich da gerade gesehen?«

Toms Kopf platzte fast. Na super. Jetzt wusste Blackburn, was er den Managern von Dominion Agra angetan hatte, und das würde er dann Marsh stecken. »Hören Sie, ich weiß, dass Sie einen Haufen Geld in die Kriegsanstrengungen gesteckt haben, aber diese Typen von Dominion hatten es verdient.«

»Das meine ich nicht. Die Maschine. Was war das?«

Tom blinzelte. Ihm ging auf, dass Blackburn nicht einmal Fragen zu der Lokalität stellte, die er überflutet hatte. »Ich habe eine Abwasseranlage neu programmiert.«

»Das war keine Programmierung. Sie haben sich mit ihr verbunden!«

»Oh. Irgendwie schon.«

Blackburn langte nach oben und verstellte eine Reihe von Steuerungsknöpfen an dem Memografen. Die auf Toms Schläfen gerichteten Lichtbänder verblassten, und Tom fühlte sich wie ein Gummiband, das festgezurrt worden war und sich nun löste. Ein überwältigendes Gefühl von Erleichterung überflutete ihn.

Blackburn spielte die Erinnerung mit der Abwasseranlage wieder und wieder ab. »Wie ist das möglich? Diese Anlage ist doch nicht darauf angelegt und besitzt keine neuronale Schnittstelle. War das ein abgedrehter Hardwarefehler?«

Tom begriff, dass Blackburn viel mehr an dieser Sache interessiert war als daran, ob er ein Verräter war oder nicht.

Hoffnung keimte in ihm auf. Er konnte diese Sache einsetzen, davon war er überzeugt. Wenn es ihm nur gelang, dass Blackburn sich in dieser Sache verlor, dann würden Yuri und Wyatt kein Thema mehr sein.

»Es muss irgendwie manipuliert worden sein«, murmelte Blackburn vor sich hin. »Das kann nicht die wirkliche Erinnerung sein.«

»Kann es doch«, schaltete sich Tom ein. »Sie ist es. Ich habe meinen Prozessor eingesetzt, um die Steuerung der Kläranlage zu manipulieren.«

Blackburn wandte sich wieder ihm zu. Der Schock stand ihm im Gesicht geschrieben. »Sie haben das hier vorher schon einmal getan.«

»Ein paarmal, ja.«

Er holte scharf Luft. »Nach Belieben?«

»Mehr oder weniger.«

Eine ganze Weile starrte Blackburn ihn einfach nur an. Dann fand er seine Sprache wieder. »Zeigen Sie mir die anderen.«

»Hören Sie auf mit der Memografie.«

»Raines …«

»Ich bin nicht der Verräter, Sir. Sie wissen es. Schwören Sie, dass Sie die Memografie beenden, dann zeige ich Ihnen alles, was Sie wollen.«

Blackburn setzte ein ironisches Lächeln auf. »Ihnen ist schon klar, dass Sie damit drohen, mir ein Geheimnis vorzuenthalten, während Sie angeschnallt unter einem Memografen liegen.«

»Warum so viel Zeit damit verschwenden, es alles aus meinem Gehirn auszugraben, wenn ich doch bereit bin, es Ihnen freiwillig zu geben?«

Blackburn dachte darüber nach. »Na schön, Raines. Sie zeigen mir die Erinnerungen, dann weiche ich von den Vorschriften ab und beende die Memografie. Abgemacht.«

»Ich brauche eine Garantie.«

»Garantien gibt es keine. Ich kann Ihnen nur mein Wort geben.«

»Nehmen Sie mir wenigstens diese Riemen ab!«

Blackburn kam einen Schritt auf ihn zu und löste die Riemen. »Nicht weglaufen.«

Toms Magen zog sich zusammen. Er hatte keine Druckmittel, um sicherzustellen, dass Blackburn sich an ihre Abmachung hielt – doch wenn er die Erinnerungen nicht freiwillig preisgab, würde Blackburn sich trotzdem durchsetzen. Er würde die Memografie schlichtweg fortsetzen und ihm alles herauspressen. Tom blieb nichts anderes übrig, als klein beizugeben und darauf zu hoffen, dass Blackburn es ehrlich mit seinem Versprechen meinte.

Blackburn drückte auf einen Button auf dem Greifer und schaltete den Memografen wieder an. Dieses Mal aber zwang er Tom nicht, seine Erinnerungen preiszugeben, denn Tom arbeitete mit. Er gab von sich aus preis, damals, wie er während der Kriegsspiele die Satelliten ausfindig gemacht hatte, wie er Medusa aufgespürt hatte und sogar wie er während seiner Bewusstlosigkeit nach der OP eine Verbindung zum Internet hergestellt hatte. Die Szenerie von Rio, der Grand Canyon, der Stausee, die Schnellstraße bei Mumbai …

»Sieh sich das einer an«, murmelte Blackburn, während er die Szene mit dem Satelliten noch einmal abspielte. »Direkt durch die Firewall der Zitadelle, als gäbe es sie überhaupt nicht. Es gibt keine Technologie auf der Welt, die so etwas fertigbringt.«

»Ich weiß auch nicht genau, wie es funktioniert«, gab Tom zu. »Es geschieht auf dem gleichen Weg, auf dem ich Medusa beim ersten Mal eine Nachricht gesendet habe. Irgendwie bin ich durch die Firewall gelangt und habe ihr über Netsend ein Hallo auf ihrem Neuronalprozessor hinterlassen.«

Blackburn bestand darauf, sich dies noch einmal im Detail anzuschauen, sodass Tom mit seinen Gedanken dorthin zurückkehrte. Dann spielte Blackburn die Szenen alle noch mehrmals ab, wieder und wieder. Der Kaffee in seiner Tasse wurde kalt. Die Stunden zogen sich hin, während Blackburn die Erinnerungen immer wieder durchging. Allmählich fragte sich Tom, ob er selbst vergessen worden war. Seine Kehle trocknete aus, und sein Magen grummelte, weil er einen Bärenhunger hatte.

Nach einer weiteren Wiederholung der Erinnerungen wurde der Bildschirm schwarz.

Blackburn saß im Halbdunkel da und starrte dorthin, wo eben noch die Bilder zu sehen gewesen waren. Zum ersten Mal seit Stunden sagte er etwas. »Wer weiß sonst noch davon?«

»Vik … irgendwie. Ich habe ihm davon erzählt, aber er hat mir nicht geglaubt.«

Blackburn musterte ihn. »Das hier bedeutet Ihnen nicht wirklich etwas, oder? Sie haben nicht die leiseste Ahnung von der Tragweite. Sie haben etwas getan, das eigentlich nicht möglich ist.«

»Doch, ich weiß, dass die Fähigkeit, sich mit einer anderen Technologie zu koppeln etwas Außergewöhnliches ist. Ich habe bloß noch nicht wirklich darüber nachgedacht, äh, oder mich noch nicht damit auseinandergesetzt, was dieses Außergewöhnliche bedeuten könnte.«

Blackburns Blick aus seinen grauen Augen huschte zwischen Tom und dem Memografen hin und her. »Dann wollen wir mal über das hier reden. Diese Erinnerungen haben Sie nicht verborgen. Was genau haben Sie denn während der Memografie versteckt?«

»Rein private Angelegenheiten.«

Blackburn strich sich über das Kinn, während er den Blick abwägend auf Tom gerichtet hielt. »Ich habe mir Ihre Akte angeschaut, Raines. Sie haben überhaupt keine psychologischen Tests absolviert, bevor Sie hierherkamen. Die gehören aber zum Standardverfahren – wussten Sie das?«

»Äh, davon hatte ich keine Ahnung, nein.«

»Sie sind ein Auszubildender, der rekrutiert wurde, obwohl er keinen nennenswerten Werdegang hat«, murmelte Blackburn wie zu sich selbst, während er sich wieder dem Bildschirm zuwandte. »Ein Auszubildender ohne Bildung, ohne Screenings, ohne Krankengeschichte …«

»Mein Dad ist immer mit uns durch die Gegend gezogen, und ich war noch nie krank, deshalb! Ich war seit meiner Geburt noch nie im Krankenhaus.«

»Und jetzt das hier. Gibt es einen Zusammenhang?«

»Verrückter Zufall, Sir. Sind wir dann fertig?«

Plötzlich fragte Blackburn: »Hatten Sie Verbindung mit Obsidian Corp? Oder mit einem Mann namens Joseph Vengerov?«

Toms Gedanken schnellten zurück in den Beringer Club.

»Sie hatten Kontakt«, stieß Blackburn leise hervor, nachdem er Toms Reaktion gesehen hatte. Ein Glanz stahl sich in seine Augen. »Wann

»Es hatte nichts mit dem hier zu tun.«

»Zeigen Sie es mir«, forderte Blackburn ihn auf und stellte den Memografen wieder an.

Tom gab die Erinnerung preis. Vengerov und Dalton erschienen auf dem Bildschirm, und Vengerov schaute Tom an und sprach diese Worte: »Und wie kommt das Projekt voran?«

In diesem Moment begriff er es erst selbst: Sie hatten über seine Neuprogrammierung gesprochen. Das würde Blackburn niemals auf sich beruhen lassen – er würde alles wissen wollen über einen Koalitionskonzern, der den Neuronalprozessor eines Auszubildenden manipuliert hatte.

Das würde zu Wyatt führen, die ihm die Firewall verschafft hatte.

Das wiederum würde zu Yuris Firewall führen – und ihrem Landesverrat.

Es konnte dazu führen, dass Wyatt genau hier unten landete, festgeschnallt bei einer Memografie. Danach Yuri, dem das Gehirn zerstört werden würde. Es konnte dazu führen, dass sie beide ins Gefängnis wanderten und wahrscheinlich auch Tom, weil er sie gedeckt hatte.

Er durfte nicht zulassen, dass es dazu kam. Er verdrängte die Erinnerung aus seinen Gedanken.

»Was tun Sie da?«, wollte Blackburn jetzt wissen, als das Bild einfror.

Tom saß auf dem Stuhl, die Augen zugekniffen. Er begriff, dass er auf keinen Fall etwas preisgeben durfte. Er dachte wieder an Wyatt und fragte sich, wie viel schlimmer es für sie sein würde, nachdem sie Blackburn ihr Vertrauen geschenkt hatte, nachdem sich Blackburn gegen sie gewendet hatte. »Nein, diese Erinnerung zeige ich Ihnen nicht.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte Nein.« Entschlossen machte Tom die Augen wieder auf. »Wir hatten eine Abmachung: Ich zeige Ihnen die anderen Erinnerungen, und wir sind fertig. Tja, ich habe sie Ihnen alle gezeigt. Wir sind fertig.«

»Zuerst noch Vengerov.«

»Nein.«

»Ich will den Rest sehen, Raines.«

»Nein!«

Blackburn trat dicht an ihn heran. Im Lichtschein des Memografen sah er aus wie ein Irrer aus einem Horrorfilm. »Sie werden mir diese Erinnerung zeigen, Raines!«

»Das werde ich nicht! Sie hat nichts hiermit zu tun!«

Als Blackburn Anstalten machte, ihn erneut festzuschnallen, verlor Tom die Selbstbeherrschung und trat wie wild um sich. Blackburn verpasste ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Es war ein dröhnender Schlag genau auf Toms Kinn, der ihn auf den Stuhl zurückschleuderte. Als er die Orientierung wiedergewann, strafften sich die Riemen bereits erneut um seine Handgelenke. Verzweifelt versuchte er, sich zu befreien, doch er war wieder an den Stuhl gefesselt.

Blackburn trat zurück. »Da wären wir nun also. Sie haben die Wahl, Raines.« Blackburn stand so, dass das Bild von Vengerov auf sein Gesicht projiziert wurde, und dieses sah aus, als wäre es ein Zerrspiegel. »Entweder zeigen Sie mir den Rest dieser Erinnerung freiwillig, oder ich presse es aus Ihnen heraus. Ehrenwort, ich werde es zu sehen bekommen, und wenn ich dafür Ihr Gehirn zerquetschen muss.«

Tom biss die Zähne zusammen. Sein Gesicht fühlte sich nach dem Schlag betäubt an. »Kommen Sie, warum hören Sie nicht auf mich? Es hat überhaupt nichts mit dem hier zu tun!«

»Sie haben es so gewollt.«

So wie er die Worte aussprach, klangen sie wie ein Todesurteil. Er aktivierte das Gerät auf höchste Leistung. Die Lichtstrahlen stachen grell auf Toms Schläfen und löschten die Welt um ihn herum aus.

Tom prallte so fest mit dem Kopf gegen die Kopfstütze, dass ihm ein spitzer Schmerz in den Nacken fuhr. Die Riemen an seinen Handgelenken scheuerten ihm die Haut auf. Eine Erinnerung nach der anderen sauste vorbei, es war schrecklich und fühlte sich an, als würden ihm die Organe einzeln aus dem Körper gerissen.

Die Stunden, während denen seine Erinnerungen von einem Thema zum anderen schnellten, zogen sich dahin. Manchmal stieß er dabei auf eine besonders unangenehme, und diese traf ihn dann so, als hätte er sich gerade einen Knochen gebrochen, von dem er zuvor gar nichts gewusst hatte. Als Blackburn ihm gegen 20:00 eine Tasse an die Lippen hielt, kam er langsam zu sich. »Sie müssen Durst haben.«

Auf dem Bildschirm sah er: Tom war neun und versuchte, auf einer Bank an einer Bushaltestelle einzuschlafen, doch Neil stand mitten in der morgendlichen Menschenmenge, noch immer betrunken von der Nacht, und schimpfte wie blöde mit den Leuten, die an ihm vorbeigingen. »Unterwegs, um heute für Milgram zu stimmen? Ist ein Mann von Obsidian. Oder Wantube? Der gehört Dominion!«

Er wollte nichts annehmen von Blackburn. Er bemühte sich, den Kopf wegzudrehen, doch Blackburn packte ihn am Kinn und schüttete; kaum benetzte das Wasser seine Zunge, begriff Tom, dass er am Verdursten war. Er trank in großen Schlucken, während … Sein Vater zog nach wie vor lautstark über die an ihm vorbeieilenden Menschen her. »Ha! Eure Stimme ist so oder so für die Koalition! Begreift ihr das nicht? Ihr habt gar keine Wahl! Kapiert das denn keiner von euch?«

Blackburn stellte das Glas wieder ab, als der Polizist kam. »Was soll das heißen, Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung?«, schwadronierte Neil. »Ist die Freiheit der Rede jetzt eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung?« Tom stand von der Bank auf, da er erkannte, wohin dies führen würde …

»Das ist unnötig, Raines. Warum kämpfen Sie gegen mich an?«

Tom starrte auf Blackburns Tarnanzug, auf dem nun das Bild von Neil projiziert wurde, wie dieser sich mit drei Polizisten eine lautstarke Auseinandersetzung lieferte. Er schloss die Augen, wollte nicht zusehen, wie sein Dad mit dem Elektroschocker zu Fall gebracht wurde wie beim letzten Mal.

»Welche Macht hat Vengerov über Sie?«, fragte Blackburn, während er sich vor Toms Stuhl niederließ, unerträglich dicht vor ihm. »Geld? Drohungen? Erpressung? Mir können Sie es sagen. Etwas muss es sein.«

Tom hörte, wie sein Vater vor Wut brüllte – und sich immer noch wehrte. Er holte mehrmals keuchend Luft, hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken, während sein Vater auf dem Bildschirm schrie und Blackburn sich dicht vor ihn drängte.

»Diese Fähigkeit, die Sie da besitzen … Betrifft es das Projekt, von dem er gesprochen hat? Vengerov hat offenkundig etwas damit zu tun. Ist es Thema des nächsten großen Experiments von Obsidian Corp? Hat er deswegen durchgesetzt, dass man bei Ihnen auf Psychotests verzichtet? Sagen Sie es mir einfach, Raines.« Wut schwang in seiner Stimme mit. »Ein Billionär bedarf wohl nicht des Schutzes eines vierzehn Jahre alten Jungen!«

»Ich habe es Ihnen schon gesagt«, krächzte Tom.

»Nein, haben Sie nicht! Sie haben gelogen

Ich schütze ihn nicht!, hätte Tom ihn anschreien wollen. Vengerov ist mir egal! Aber es wäre wie ein Schrei gegen einen tosenden Wind gewesen – sinnlos. Absolut sinnlos.

»Vengerov ist keiner von den Guten. Er ist das hier nicht wert.« Blackburn beugte sich noch dichter zu ihm herunter und flüsterte Tom jetzt direkt ins Ohr. »Man darf ihm nicht trauen. Er ist der Verantwortliche, Sie wissen schon – für all diese Todesfälle. Nicht bloß die toten Soldaten aus meiner Testgruppe. Auch andere.«

Die Schreie von Toms Dad und den Polizisten verebbten, und er wusste, dass er sich auf dem Bildschirm mitten auf dem Busbahnhof sehen würde, zuschauend, wie sein Vater in Handschellen abgeführt wurde. Er war im Begriff zu folgen, blieb dann aber stehen, als ihm klar wurde, wo er landen würde, falls er es tat – irgendwo in einer Pflegestelle. Sein Dad würde nicht wollen, dass er ihm folgte. Noch immer erinnerte sich Tom an dieses Gefühl, hoffnungslos verloren mitten in einer geschäftigen Menge zu stehen und sich zu fragen, was er jetzt tun sollte, wohin er jetzt gehen sollte, während ihm zumute war, als würde er durch den Fleischwolf gedreht. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er sich an dieses Gefühl nicht erinnerte – er empfand es erst jetzt, in diesem Moment.

»Wir waren nicht die Ersten, deren Gehirne er zerstört hat«, fuhr Blackburn fort. »Es gab vorher schon eintausend Russen, damals, als Vengerov bei LM Lymer Fleet das Sagen hatte. Er hatte gerade das Unternehmen seines Vaters übernommen. Sein Kalkül war, sich einen Namen zu machen, indem er einen kühnen Schritt machte, auch wenn er dabei das Leben anderer aufs Spiel setzte. Die meisten sind dabei ums Leben gekommen, wie bei uns auch. Der Unterschied war der, dass die Russen die geistig Verkrüppelten getötet haben, um das ganze Projekt zu vertuschen. Deshalb musste Vengerov in die USA auswandern. Sie hätten ihm nie wieder ein neues Experiment genehmigt, und er benötigte lebende Versuchsobjekte, lebende Erwachsene. Unserem Militär erklärte er, er brauche lediglich ein paar Hundert. Er versicherte ihnen, es würde mindestens eine Handvoll von ihnen den Neuronalprozessor überleben, und mehr bräuchte er nicht. Also haben sie ihm ein paar Hundert von uns für dieses großartige Experiment zugeteilt.«

Tom starrte auf den Bildschirm, eine lächelnde blonde Frau … Es war seine Mutter, noch ganz jung, damals, als er noch so klein war, dass er die Situation schon vergessen hatte. Sie schaute ihn an und lächelte, während ihr das Haar offen über die Schultern fiel. Tom klammerte sich an sie, während sie ihn huckepack die dunkle Straße entlangtrug …

Blackburn musste etwas auf seinem Gesicht gesehen haben, denn sein Blick folgte Toms zum Bildschirm.

Sie wirbelte ihn in einem Kreis herum, sodass die Straßenlichter ihm vor den Augen schwirrten. »Und was sollen wir zu essen holen?«

»Eiscreme, Mama!«

Seine Mutter lachte, hörte auf, ihn herumzuwirbeln, und geriet ein wenig ins Taumeln. »Wir holen uns einen Becher Eis, der größer ist als dein Kopf, Tommy. Und dazu heiße Schokosoße.« Ihr Haar wurde gegen sein Gesicht gedrückt, und …

Die Erinnerung brannte sich in seinen Kopf. Tom war sich der Strahlen bewusst, die sich in sein Gehirn gruben, doch er musste einfach hinschauen, weil er sich nicht daran erinnern konnte, jemals mit seiner Mutter gelebt zu haben. Er hatte keine Erinnerung daran, dass seine Mutter ihn, tja, geliebt hatte. So erinnerte er sich nicht an sie. Er hielt es nicht aus, dies zu sehen.

»Es schmerzt sehr, sie zu sehen, nicht wahr?«, bemerkte Blackburn und schaute nun wieder ihn an. »Dann kann ich Ihnen garantieren, dass Sie sie in den bevorstehenden Stunden noch öfter sehen werden, wenn Sie mir nicht …«

Plötzlich geschah etwas.

Tom blickte durch seine eigenen Augen und tat es doch nicht, er sah Feuer, dann verschmolz der Memograf mit seinem Gehirn, und aus den Reglern sprühte ein Funkenregen. Mit jäher Wut ließ Tom einen elektrischen Stromschlag aus dem Metallgreifer fließen.

Blackburn schrie auf und stürzte zu Boden.

Tom schnellte wieder in sich zurück, der Gestank von Rauch drang ihm in die Nasenlöcher, während sein Herz in der Brust einen Satz machte. Blackburn lag wie betäubt auf dem Boden, und sein Atem ging in abgehackten Stößen. Als er sich mühsam wieder hochrappelte, hing ein Arm nutzlos an seiner Seite herab.

Mit verstörtem Blick inspizierte er den Memografen. Dunkler Rauch stieg spiralförmig auf. Auf Blackburns Gesicht spiegelte sich Erkenntnis wider. »Das waren Sie, nicht wahr?« Sein Blick senkte sich auf Tom. »Sie haben sich in das Gerät eingeklinkt.«

Tom wusste es nicht. Im Moment wusste er gar nichts mehr, nur dass er müde und ihm übel war, und er wünschte, er hätte Blackburn umgebracht. »Wenn Sie es wieder einschalten, lasse ich Sie verbrutzeln!«

Den versengten Arm an den Körper gepresst, umkreiste Blackburn den Memografen. »Sie haben einen der Gelenkarme durchbrennen lassen, um mich aufzuhalten.« Er hielt inne, ein seltsames Lächeln auf den Lippen, während er einen Moment benötigte, um zu begreifen. »Wer hätte gedacht, dass Sie so etwas fertigbringen? Mein Gott, Raines.«

»Ich mache es wieder, das schwöre ich!«, schrie Tom ihn an.

Blackburn schien lediglich neugierig geworden zu sein. Er hob seinen unverletzten Arm und packte einen der noch intakten Gelenkarme. »Machen Sie. Ich berühre ihn. Sie können mich nicht verfehlen. Machen Sie es noch einmal.«

»Ich bluffe nicht! Ich töte Sie durch einen Stromschlag!«

»Und ich warte mit angehaltenem Atem.« Blackburn hörte sich nicht einmal sarkastisch an. »Machen Sie, Raines.«

Aber das konnte Tom nicht. Seine Brust war wie zugeschnürt. Er hatte das Gefühl, als würde er gleich zusammenbrechen, und lieber hätte er sich bei lebendigem Leib häuten lassen, als Blackburn dies sehen zu lassen.

»Sie sind ja krank.«

»Ja, diesen Spruch habe ich schon öfter gehört.« Blackburn ließ das Bein los und senkte seinen Arm an der Seite. »Wie ich sehe, können Sie das nicht auf Kommando tun. Das ist gut zu wissen, für morgen früh.«