SIEBENUNDZWANZIG
Als Tom aufwachte, war er immer noch an den Stuhl gefesselt. Sein Schädel dröhnte, sein Kopf drohte zu zerplatzen. Nach der stundenlangen Memografie kamen ihm seine Gedanken verworren und seltsam vor. Matt starrte er Olivia Ossare an, die vor ihm stand, ihm die Riemen von den Handgelenken riss und vor sich hin murmelte. »Das ist barbarisch … bloß ein Kind.«
Seine Stimme klang kratzig. »Sie sind gekommen.«
»Tom!« Sie legte ihm ihre warme Handfläche unter das Kinn. »Alles in Ordnung mit dir?«
Er schloss die Augen, da dies einfacher war, als ihr eine Antwort zu geben. Sie half ihm aufzustehen. Mit schlotternden Knien ging er von dem Stuhl weg.
»Ist das hier vorbei?«, fragte er.
Ihr Griff um ihn verstärkte sich. »Ich arbeite noch daran, Tom. Im Moment kann man mit Lieutenant Blackburn nicht vernünftig sprechen. Ich habe ewig gebraucht, nur um hier hereinkommen und dich besuchen zu dürfen.«
Tom wurde schwarz vor Augen, und er geriet ins Schwanken. Behutsam ließ sie ihn zu Boden gleiten. Dort sackte er in sich zusammen und schlug mit dem Kopf gegen ihren Arm. Die Decke über ihm drehte sich wirr im Kreis.
Er spürte, dass sie ihm mit den Fingern durch das Haar strich. Während sie ihn am Kopf streichelte, blitzte in ihm die Erinnerung an seine Mutter auf, ganz dicht unter der Oberfläche. Er hielt die Augen geschlossen, während sich ein Kloß in seinem Hals bildete.
»Bitte machen Sie, dass das hier bald vorbei ist.«
Dass er laut gesprochen hatte, begriff er erst, als sie ihm sagte: »Ich tue mein Bestes. Ich habe versucht, mich mit deinem Vater in Verbindung zu setzen.«
»Mein Dad kann mir nicht helfen.«
»Doch, das kann er, Tom. Er kann das Sorgerecht für dich einklagen.«
Tom schlug die Augen auf. Er setzte sich so schnell auf, dass ihm wieder schwarz vor Augen wurde. »Sorgerecht?«
»Wenn dein Vater seine Zustimmung widerruft, hat das Militär nicht länger das Sorgerecht.«
Toms Kopf schmerzte. Ihm war, als müsste er sich übergeben. »Um das hier zu beenden, müsste ich den Dienst quittieren?« Sein Puls dröhnte ihm in den Ohren. »Aber der Neuronalprozessor soll nicht raus. Niemals.«
»Dein Gehirn wird letztendlich von ihm abhängig, aber er wurde dir ja erst vor fünf Monaten eingesetzt. Ich habe mit Dr. Gonzales gesprochen, und er meinte, es sei noch früh genug für eine stufenweise Entfernung. Mit deinem Freund Stephen habe sie etwas Ähnliches gemacht.«
Nein. Nein. Er wollte nicht dorthin zurück, wo er hergekommen war. Wollte nicht wieder der Verlierertyp Tom sein, der von Kasino zu Kasino zog, ohne Zukunft und ohne Vergangenheit, mit nichts, gar nichts …
Aber wenn er blieb, und Blackburn weiter sein Gehirn durchforstete …
Dann würde er wahnsinnig werden. Länger könnte er es nicht ertragen. Er würde wahnsinnig werden, und er würde Yuri und Wyatt verraten.
Die Ausweglosigkeit der Situation deprimierte ihn. Tom ballte eine Hand zur Faust und hämmerte damit auf den Fußboden. Die Welt um ihn herum wurde wieder scharf. Er schlug wieder und wieder zu. Dann ergriff Olivia sein Handgelenk.
»Tom, hör auf damit. Du verletzt dich sonst.«
Es war ihm egal. Den Schmerz nahm er nur weit entfernt in seinem Bewusstsein wahr, die Wut beherrschte alles. Am liebsten hätte er Blackburns Gesicht zu Brei geschlagen. Er wollte sich ihrem Griff entziehen, doch er war dermaßen erschöpft, dass er den Versuch bald aufgab.
»Ich nehme keinen Kontakt zu meinem Vater auf«, sagte Tom. »Es muss noch eine andere Möglichkeit geben.«
»Es gibt keine andere Möglichkeit, Tom. Wenn ich dich hier rausholen soll, muss dein Vater damit einverstanden sein.«
Toms Blick schweifte hinauf zum Memografen, der verschmort und stumm drohend über dem Stuhl und den Armriemen aufragte. »Eine andere Möglichkeit oder gar nichts.«
Am nächsten Morgen schickte Blackburn Soldaten, die Tom auf den Stuhl fesselten. Ein vollständig reparierter Memograf ragte über ihm auf. Tom zerrte an den Armriemen und inspizierte den Metallgreifer mit finsterem Gesicht. Nach unruhigem Schlaf war er immer noch benebelt im Kopf. Er sah, dass Blackburn in den Raum trat, einen bandagierten Arm an die Seite gepresst. Der Anblick erfüllte ihn mit gehässiger Schadenfreude.
»Tut der Arm weh?«, fragte er Blackburn, während dieser das Gerät vorbereitete.
»Nicht die Spur«, antwortete Blackburn.
Als Blackburn ihm zu nahe kam, schwang Tom seinen Fuß in Richtung des bandagierten Arms. Blackburn zischte und zog ihn gerade noch rechtzeitig zurück.
Tom grinste ihn hämisch an und gewann der Situation ein gemeines, finsteres Vergnügen ab. »Er tut weh.«
»Nicht so wie das hier gleich.« Als schmerzhafteste Vergeltung schaltete Blackburn den Memografen ein. Die gleißenden Lichtstrahlen drangen in Toms Schläfen ein, gruben sich tief und immer tiefer in sein Gehirn, seine Erinnerungen, entblößten die eine, verwarfen sie, entblößten die nächste, verwarfen sie auf der Suche nach Vengerov alle wie Abfall.
Neil … seine Mutter … Karl … seine Mutter … Dalton … seine Mutter … Er war dieses Mal einige Minuten darin, als er einen schrillen Ton hörte und die Maschine ausgeschaltet wurde.
Toms vernebeltes Hirn benötigte einen Moment, bevor er General Marshs Stimme erkannte.
»Was genau tun Sie hier eigentlich, Lieutenant?«
Tom horchte auf seinem Stuhl auf, und eine Hochstimmung erfasste ihn. Er sah zu, wie Marsh und Blackburn sich einen Machtkampf lieferten, den Bildschirm zwischen sich. »Ich untersuche die undichte Stelle, General. Wie Sie angeordnet hatten.«
»Ich hatte nicht angeordnet, dass Sie Raines an den Memografen fesseln sollen. Holen Sie ihn aus diesem Stuhl raus. Sofort!«
Blackburn regte sich nicht. »Nein, Sir.«
»Wie bitte?«
»Er bleibt, wo er ist.«
»Das ist ein Befehl!«
»Und ich missachte ihn, Sir.«
Marsh fluchte und stürmte auf Tom zu. Sein Gesicht war wutverzerrt, und Tom sackte in sich zusammen, so erleichtert, dass er den alten General am liebsten umarmt hätte.
Blackburn folgte diesem mit bedächtigen Schritten. »Bevor Sie ihn befreien, möchte ich eines klarstellen, Sir.«
»Was?« Marsh wirbelte zu ihm herum, die knorrigen Fäuste in die Seiten gestemmt.
»Wenn Sie ihn aus diesem Stuhl herausholen, dann werde ich gehen«, sagte Blackburn, »ich gehe dann weg.«
Marsh blieb eine ganze Weile stumm. »Drohen Sie mir?«
»Ja, Sir, genau das tue ich. Allerdings werde ich dann nicht nur einfach gehen. Ich werde diese ganze Einrichtung hier mit einem Abschiedsgeschenk schmücken, das Obsidian Corp. nicht reparieren kann.«
Tom konnte nicht fassen, dass Blackburn, ein Lieutenant, einem General drohte. So lief das nicht. Hass und Vorfreude kamen in ihm auf. Marsh würde dafür sorgen, dass es ihm leidtat!
»James, das können Sie nicht tun«, sagte Marsh mit flehendem Unterton. »Ich weiß, dass diese undichte Stelle Ihren Stolz kränken muss, aber das geht jetzt zu weit.«
»Wetten?«, erwiderte Blackburn einfach.
Ungläubig starrte Tom auf Marshs Rücken. Wieso befahl er den Soldaten nicht, Blackburn zu verhaften? Oder unternahm sonst irgendetwas, das für einen General gegenüber einem Lieutenant, der es wagte, so mit ihm zu reden, halbwegs angemessen war?
Dann verließ Blackburn tatsächlich den Raum und ließ sie allein, so als wäre er von der Macht seiner Worte so überzeugt, dass er sich nicht die Mühe machen musste, sich weiter mit Marsh auseinanderzusetzen.
»General!«, flehte Tom verzweifelt. »Bitte, General, kommen Sie …«
Marsh stieß einen tiefen Seufzer aus und drehte sich um. »Tom, ich fürchte, Sie haben gerade mit angesehen, wie mir die Hände gebunden wurden.«
Mit nacktem Unglauben starrte Tom ihn an. Marsh ging aus dem Raum und ließ Tom allein auf dem Stuhl gefesselt zurück. Minuten vergingen, während denen Tom in den menschenleeren Raum starrte und sich im Stich gelassen fühlte.
Dann vernahm er Blackburns bedächtige Schritte und schloss die Augen, weil er es nicht ertragen hätte, ihn anzusehen. Blackburn schaltete den Memografen nicht sofort wieder ein. Zuvor schnallte er Tom einen Arm los und gab ihm Wasser, doch Toms Arm zitterte so stark, dass er nicht in der Lage war, das Glas zu halten. Daher schnallte Blackburn ihn wieder fest und hielt das Glas für ihn.
Tom kam ein verrückter Gedanke. Je länger er Wasser trinken würde, desto mehr Zeit würde er herausschinden, bevor die Memografie weiterging. Daher bat er um mehr, immer mehr. Selbst als sein Magen sich anfühlte, als platzte er gleich, bat er um mehr.
»Es reicht jetzt. Sonst wird Ihnen noch schlecht«, sagte Blackburn schließlich und weigerte sich, ihm ein weiteres Glas zu reichen.
Das gab den Ausschlag. Wird Ihnen noch schlecht … Das war auf einmal das Komischste, was er jemals gehört hatte. Tom fing an zu lachen – ein wildes, hysterisches Lachen, das seinen ganzen Körper durchschüttelte. Er lachte, bis ihm der Magen schmerzte, bis ihm die Augen tränten, bis ihm wirklich schlecht wurde, und selbst dann konnte er erst aufhören, als die Strahlen sich wieder in seinen Kopf bohrten.
Blackburn stand nur da und beobachtete ihn, rieb sich immer wieder mit der flachen Hand über den Mund und nahm Toms Gehirn auseinander.
Tom kam in einer kleinen, verschlossenen Zelle, die einen Blick auf den Memografen gewährte, wieder zu sich. Er befand sich in der Mitte des Raumes. Das summende elektrische Licht über ihm und die hellen scharfen Strahlen verursachten eine Reizüberflutung in seinem Kopf. Vor seinem inneren Auge verschwammen Bilder wie Gespenster. Er griff auf die einzige Möglichkeit zurück, die ihn wieder zu Verstand kommen lassen konnte und stieß mit der Faust immer wieder gegen die Wand, bis der Schmerz, der in seinen Knöcheln explodierte, sein Bewusstsein beherrschte und das an den Wänden verschmierte Blut ihm wieder die Augen öffnete.
Jemand glitt durch die Tür, und eine sanfte, aber feste Hand umklammerte sein Handgelenk. Olivia Ossare packte ihn am Arm, drängte ihn mit sanfter Gewalt dazu, sich auf das Bett zu setzen, und bot ihm ein Glas Wasser an. Gierig stürzte Tom es hinunter, sich nur halb bewusst, dass Olivia währenddessen seine blutigen Knöchel inspizierte. Er fühlte sich so seltsam, so absolut seltsam, als ob er im Begriff stand, aus der Haut zu fahren.
Er bekam gar nicht mit, dass er an der Granitwand zusammensackte. Erst als er spürte, wie ihre Finger ihm wieder durch das Haar fuhren, kam er allmählich zu sich. Tom presste die Augen noch stärker zusammen, denn obwohl er nicht verstand, warum ihre Berührung so beruhigend war, befürchtete er, das Gefühl könne wieder verschwinden, wenn er die Augen aufmachte.
»Ich glaube, ich bin bereit für Plan B«, gestand Tom, als er schließlich wieder sprechen konnte, sich aber matt und leer fühlte. Viel mehr würde er nicht ertragen können. »Bitte finden Sie meinen Vater. Bitte holen Sie mich hier raus.«
»Tom«, flüsterte sie, »das habe ich schon.«
Nachdem sein Vater gerichtliche Schritte ergriffen hatte, um Tom aus dem Turm herausholen zu können, durfte Blackburn ihm kein Haar mehr krümmen und kein einziges Gerät mehr bei ihm anschließen. Als Olivia mit den Militärpolizisten ankam, stand Blackburn mitten in der abgedunkelten Memografenkammer und folgte Tom selbst dann noch mit seinen Augen, als er aus seiner Zelle geführt wurde. Mittlerweile lümmelte sich Tom in Olivias Büro und hörte zu, wie sie sich mit General Marsh und einem Militäranwalt über Rechtsfragen stritt. Sie redeten über seinen Kopf hinweg. Er wollte aber auch gar nichts mehr davon hören.
Was es zu bedeuten hatte, wusste er. Ein stufenweiser Abbau des Neuronalprozessors. Entfernung aus dem Turm. Wieder mit Neil leben.
Das war der Preis dafür, dass er Yuri oder Wyatt niemals verraten würde. Blackburn könnte nie wieder mit dem Memografen auf Raubzug durch sein Gehirn gehen. Er würde seine geistige Gesundheit behalten.
Vielleicht.
Ein Teil von Tom hatte den Impuls, mit dem Kopf auf den Schreibtisch vor ihm zu hämmern. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, wieder in sein altes Leben zurückkehren zu müssen. Nicht nach alldem hier. Nicht nach dem, was er hier erfahren und erlebt hatte. Und der Gedanke, dass Dalton gewonnen hatte, brachte ihn fast um. Dalton hatte ihn geradewegs aus dem Turm gekickt. Erst eine ganze Welt präsentiert und sie dann wieder weggenommen zu bekommen war noch viel schlimmer. Besser wäre es gewesen, wenn er gar nicht erst in den Turm gekommen wäre.
»Darf ich unter vier Augen mit ihm sprechen?«, fragte Marsh Olivia.
Olivia schaute Tom an. »Das liegt an dir.«
Tom zuckte mit der Schulter. Erst als der Anwalt und Ms Ossare den Raum verlassen hatten, hob er den Blick zu General Marsh und starrte ihn mit offener Verachtung an. Das hier war der Kerl, dem die Hände gebunden worden waren.
»Warum haben Sie mich nicht an den Screenings und psychologischen Tests teilnehmen lassen wie alle anderen auch?« Toms Stimme bebte vor Wut. »Blackburn glaubt, ich wäre Teil einer Verschwörung, weil ich nicht die Tests durchlaufen habe wie die anderen! Warum haben Sie mich die Tests nicht einfach machen lassen und das hier verhindert?«
»Um ehrlich zu sein, mein Junge, habe ich Sie nicht psychologisch testen lassen, weil ich nicht glaube, dass Sie sie bestanden hätten.«
»ICH BIN NICHT GESTÖRT!«, schrie Tom, wohl wissend, wie gestört er sich dabei anhörte.
»Nur die Ruhe, Tom.« Marsh stand auf, ging um Olivias Schreibtisch herum und betrachtete einen auf ihrer Wand eingerahmten Tintenklecks. »Die Wahrheit ist, dass ich Sie nicht über offizielle Kanäle habe ausfindig machen lassen. Sie waren ein Seitenprojekt von mir. Schließlich ziehe ich meist nicht persönlich los, um Rekruten zu gewinnen.«
Tom starrte angespannt auf Marshs müdes Gesicht, das sich in der Glasscheibe über dem Tintenklecks spiegelte.
»Ich hielt nach etwas anderem Ausschau. Sie haben die Camelot Company im Einsatz gesehen. Diese Kids sind die besten, die das Land hervorgebracht hat. Vielseitig, clever, von angenehmem Äußeren.«
»So wie Karl Marsters?«
»Nun, die meisten jedenfalls.« Marsh neigte den Kopf, in diesem Punkt ein Zugeständnis machend. »Es sind bodenständige Amerikaner, die es im Leben zu etwas bringen werden. Solche Leute rekrutieren wir. Diese Art Kids locken wir in der Regel an.«
»Im Gegensatz zu mir.«
Da war er nun wieder, der Punkt, über den sich Tom von Anfang an gewundert hatte. Er wusste, wie seltsam es war, dass Marsh ausgerechnet ihn rekrutiert hatte. Dass es ein krasser Widerspruch war, hatte er ignoriert. Und erst jetzt, da diese Widersprüchlichkeit mit Macht ans Tageslicht kam, gab Marsh ihm eine Antwort. Tom hätte ihn dafür in der Luft zerreißen können.
»Im Gegensatz zu Ihnen«, stimmte Marsh zu. »Erinnern Sie sich an das Szenario mit dem Panzer, Tom, das ich Sie im Dusty Squanto durchlaufen ließ? Es gibt darin mehrere Stufen. In der ersten Stufe muss sich die Testperson dazu entscheiden, direkt auf den Panzer loszugehen, statt sich die Panzerabwehrwaffen zu besorgen. Und dann kommt die nächste, die entscheidende Stufe, an der die meisten unserer Auszubildenden im Turm scheitern.«
»Welche?«, fragte Tom elend.
»Sie machen die Luke auf und lassen sich hineinfallen. Und vermasseln es damit. Sie lassen sich in den Panzer fallen und stellen fest, dass der Panzerfahrer im Sterben liegt, weil er der Marsatmosphäre ausgesetzt ist.«
»Und dann töten sie den Kerl.«
Marsh schüttelte den Kopf. »Das tun die meisten Auszubildenden eben nicht. Wenn sie den Mann einfach so erschießen könnten, wäre das kein Problem, aber mit einem Ionen-Schwefel-Streugewehr in einem geschlossenen Raum ist das nicht möglich. Also bauen sie darauf, dass der Mann von allein stirbt. Dabei kalkulieren sie aber die Backup-Systeme des Panzers nicht ein: automatische Lukenverriegelung, die Druckanlagen und die verborgene Waffe des Panzerfahrers. Der Mann erholt sich und tötet die Versuchsperson. Der Einzige hier im Turm, der diese Phase überlebt hat, waren Sie.«
»Ich hatte gar keine Ahnung von diesen Backup-Systemen.«
»Sie haben den Mann erschlagen, bevor dies überhaupt zum Thema wurde. Sie haben das Szenario für sich entschieden. Sie haben einen Sterbenden totgeschlagen. Sie haben etwas getan, wovor die anderen zurückgeschreckt sind.«
»Das war ja bloß ein Videogame.«
»Es ist der Instinkt, der deutlich wurde. Das, nach dem ich gesucht hatte.«
»Sie können mir nicht erzählen, Karl Marsters hätte Skrupel, einen Sterbenden totzuprügeln.«
»Karl Marsters ist nicht direkt auf den Panzer losgegangen. Das war das Problem. Ich habe Tausende Teenager durch dieses Szenario geschickt. Dabei bin ich auf eine Menge gestoßen, die diesen Panzerfahrer erschlagen hätten – eine Menge mit dem entsprechenden Killerinstinkt –, aber die haben es ausnahmslos versäumt, direkt den Panzer anzugreifen, weil sie nicht imstande waren, den besten Schachzug ihres Gegners vorherzusehen. Diejenigen, die brutal genug waren, einen Sterbenden zu erschlagen, hatten nicht das notwendige Auffassungsvermögen, um die Schritte vorherzusehen, die der Panzerfahrer machen würde. Sie hingegen haben nicht nur bestanden, Sie haben gleich beim ersten Versuch ins Schwarze getroffen. Ich hatte mir das bei Ihnen gedacht. Deswegen habe ich meine ganze Aufmerksamkeit auf Sie gerichtet.«
Deswegen also hatte Marsh ihm nicht geholfen. Der Gedanke schmerzte ihn. Er hatte solch hohe Erwartungen gehabt, und Tom hatte ihnen nicht entsprochen. »Ich muss eine große Enttäuschung für Sie gewesen sein.«
»Überhaupt nicht. Sie haben eine schlechte Impulskontrolle, und Sie sind arroganter, als es gut für Sie wäre. Außerdem passen Sie genau in das Schema, nach dem ich gesucht habe. Sie sind genau der Typ Kombattant, der uns fehlt.«
Tom erinnerte sich an etwas, was Elliot und Nigel gesagt hatten. Darüber, dass das Militär nach jemand anderem suchte. Jemand … »Sie suchen jemanden, der bösartig ist.«
»Ja, Tom.« Marsh beugte sich mit durchdringendem Blick zu ihm vor. »Bösartig. Rücksichtslos – aber nur, wenn es sein muss. Jemand, der zuschlägt, wenn er weiß, dass es wehtun wird. Jemand, der den tödlichen Schlag ausführt. Das sind die Menschen, die Kriege gewinnen. Das sind die Menschen, welche die Medusas dieser Welt zur Strecke bringen. Schauen Sie sich Achilles an. Er wurde nicht von einem Krieger überwältigt, der stärker, schneller oder besser gewesen wäre. Er wurde von einem Pfeil genau an seiner Schwachstelle zu Fall gebracht. Sie haben ein Gespür für solche Schwachstellen. Sie könnten etwas erreichen. Sie könnten die Besten der anderen Seite besiegen. Ich war bereit, das Risiko einzugehen, Sie über inoffizielle Kanäle zu rekrutieren. Und wenn Sie so gut wären, wie ich hoffte …«
»Wäre das das Tüpfelchen auf dem i gewesen?«, spottete Tom.
»Nehmen Sie den Mund nicht zu voll. Ich bin Ihr Vorgesetzter bis zu dem Tag, an dem Sie den Turm verlassen, Rekrut.«
»Jetzt also zählt auf einmal der höhere Dienstgrad?« Zorn erfüllte ihn. »In der Memografenkammer war das nicht so! Lieutenant Blackburn kam damit durch, Ihnen zu drohen!«
»Das ist etwas vollkommen anderes.«
»Inwiefern?«
»Weil er weiß, dass ich es mir nicht erlauben kann, ihn zu verlieren. Er tut hier etwas unschätzbar Wertvolles, und er tut es für wenig Geld.«
Tom blinzelte. »Die Programmierung?«
»Obsidian Corp. hat eure Prozessoren entwickelt, Tom. Sie haben sich auch mit eurer Software befasst. Weil sie die Einzigen waren, die mit Zorten II programmierten, haben sie es uns hundsteuer in Rechnung gestellt. Wir haben versucht, an der Kostenschraube zu drehen, indem wir unsere eigenen Leute ausbildeten, aber Obsidian Corp. hat sie uns immer abgeworben. Dann haben wir versucht, unsere Offiziere dazu zu zwingen, ihre Dienstzeit bis zum Ende abzuleisten. Doch schon bald bekamen wir wütende Anrufe von Senatoren, die uns im Auftrag von Obsidian befahlen, die Programmierer freizustellen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, versuchte dann Joseph Vengerov ständig, uns unsere eigenen Programmierer als Berater zurückzuleasen. Es war finanziell nicht vertretbar. Lieutenant Blackburn ist es.«
»Also dreht sich hier alles ums Geld.«
»Es geht immer ums Geld, mein Junge. Krieg ist teuer. Wir senken die Ausgaben, wo immer wir können. Deshalb befinden sich alle unsere Werften im All. Deshalb brauchen Kombattanten Sponsoren. Die Einzigen in diesem Land, die es sich erlauben können, Steuern zu bezahlen, um das Militär zu unterstützen, sind zugleich diejenigen, in deren Macht es steht zu verhindern, dass sie sie bezahlen müssen. Das ist leider eine Tatsache. Und was die Ressourcen angeht, die wir im All gewinnen? Wir können von Glück reden, wenn wir auch nur einen Penny von dem Gewinn zu sehen bekommen. Wir sind noch nicht einmal im Besitz von Merkur, und schon hat Senator Bixby Nobridis die exklusiven Bohrrechte zugesagt. Deswegen brauche ich Lieutenant Blackburn. Er macht alles, was vorher Obsidian gemacht hat, und er macht es für das Gehalt eines Offiziers. Und nicht nur das. Er macht es besser. Und das Beste ist, Joseph Vengerov könnte ihn zuscheißen mit seinem Geld, Blackburn würde eine Stelle bei Obsidian Corp. trotzdem ablehnen – weil sie diejenigen waren, die hinter dem ersten Einsatz von Neuronalprozessoren steckten. Tatsächlich stellte Lieutenant Blackburn nur eine einzige Bedingung, als er in den Turm kam: Er wollte den Auszubildenden beibringen, wie sie Zorten II programmieren können.«
»Nur dafür ist er hierhergekommen?«
»Mehr will er nicht. Deswegen habe ich mich weit aus dem Fenster gelehnt, um ihn in meinem Stab zu halten. Wenn er mir kündigt oder, schlimmer noch, seine Drohung wahrmacht, dann wird jede Zusicherung, die ich gegenüber dem Verteidigungsausschuss gemacht habe, infrage gestellt werden und ich persönlich auch.«
»Ich glaube es nicht.« Toms Stimme bebte. Blackburn musste noch einen anderen Beweggrund haben. Er war nicht ehrlich, er war böse und …
»Das ist die Wahrheit, Tom.« Marsh hob die flache Hand hoch. »Er will, dass Sie lernen. Schauen Sie doch, was ihm mit seinem eigenen Prozessor widerfahren ist.«
»Ja, ich weiß, es hat ihn wahnsinnig gemacht.«
»Mehr noch. Alle drei Erwachsenen, die den Neuronalprozessor überlebt haben, haben auf unterschiedliche Weise reagiert. Die beiden anderen hatten zwar ernsthafte Probleme, waren aber bei klarem Verstand, zumindest meistens. Major Blackburn war nie bei klarem Verstand.«
»Major«, wiederholte Tom.
»Er war Major in der US Army. Jahrgangsbester in West Point. Als er den Prozessor implantiert bekam, hatte er diesen psychotischen Anfall, aber er weigerte sich zu glauben, dass er krank war, und sprach auch nicht auf die medikamentöse Behandlung an. Dann meldete sich Obsidian Corp. und bot an, die Überlebenden in ihre Obhut zu nehmen. Es war ja ihr Projekt, deshalb waren sie bereit, für die Kosten aufzukommen und sie mit ihren eigenen Therapien zu behandeln. Die anderen beiden Überlebenden gingen freiwillig. Major Blackburn nicht. Er entzog sich ihrer Obhut und verschwand. Er war wie vom Erdboden verschluckt, und ich sage Ihnen, Tom, im Zeitalter der absoluten Überwachung ist das keine leichte Aufgabe. Er hat sogar seine Familie wiedergefunden.«
Toms Mund klappte auf und wieder zu. »Lieutenant Blackburn hat Familie.«
»Major Blackburn hatte«, korrigierte ihn Marsh, »eine Frau, zwei Kinder, ein Haus in Wyoming. Wir postierten Soldaten vor dem Haus und warteten darauf, dass er aufkreuzen würde, doch er hat sie uns trotzdem direkt vor der Nase weggeschnappt. Jahrelang hörten wir nichts mehr von ihm. Dann hat uns eines Tages aus heiterem Himmel seine Frau einen Tipp gegeben. Sie hatte mittlerweile begriffen, dass er den Verstand verloren hatte. Er war paranoid, unberechenbar, und sie hatte Angst vor ihm. Sie verriet uns, dass er sie und die Kinder mitgenommen und sich mit ihnen auf einem Grundstück außerhalb von Roanoke, Texas, verschanzt hatte.«
Roanoke. Das Wort ließ Tom innerlich schaudern. »Und was ist passiert?«
Marsh trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Er war bis an die Zähne bewaffnet. Seine Frau wusste, dass Major Blackburn ein Blutbad anrichten konnte, wenn wir kommen würden, um uns den Prozessor zurückzuholen. Sie erklärte sich bereit, während der Belagerung in seiner Nähe zu bleiben, um uns über seine Schritte zu unterrichten, falls wir unsererseits bereit wären, die Kinder herauszuschmuggeln, bevor die Schießerei beginnen würde. Am Tag der Operation gelang es ihr, die Kinder hinauszuschleusen zu einem Team, das dort wartete, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Und als dieses Team dann weg von dem Haus fuhr, tja … dann stellten sie auf die harte Tour fest, dass Major Blackburn die Gegend mit Landminen gespickt hatte.«
Die Erkenntnis verschlug Tom die Sprache. Er brauchte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte. »In dem Auto waren seine Kinder?«
»Ja.«
»Er hat seine eigenen Kinder in die Luft gejagt.«
»Ja, Tom.«
Es ging Tom einfach nicht in den Kopf.
»Als wir dann endlich vorrückten, leistete Major Blackburn keinen Widerstand«, sagte Marsh. »So entrückt er auch war, selbst er begriff, was geschehen war. Und selbst nachdem er seinen eigenen Neuronalprozessor umprogrammiert hatte, dauerte es noch Jahre, bis er auch nur die kleinste Bewegungsfreiheit zugestanden bekam – als so gefährlich hatte er sich erwiesen. Also werden Sie jetzt hoffentlich anerkennen, wie weit ich mich aus dem Fenster lehnen musste, um ihn hierherzuholen. Die Armee hätte ihn nie mehr haben wollen. Ihre Jungs fuhren diesen Wagen auf die Landmine. Deshalb ist James Blackburn jetzt in meiner Abteilung und unterliegt meiner Verantwortung. Wenn er untergeht, gehe ich auch unter, und das weiß er.«
In Toms Kopf hämmerte es. »Dann bin ich also im Eimer.« Die Tragweite lastete bleischwer auf ihm. »Er hat Sie damit in der Hand, also wenn ich bleibe, wird mich Blackburn mit dem Memografen in den Wahnsinn treiben, und Sie können ihn nicht aufhalten. Ich muss also den Dienst quittieren.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Ich kann das nicht entscheiden, aber falls die Senatoren im Verteidigungsausschuss die direkte Anweisung erteilen würden, den Ball flach zu halten, dann müsste er Sie in Frieden lassen. Wenn Sie wollen, dass die zu Ihren Gunsten eingreifen, Tom, dann müssen Sie so wertvoll sein, dass die Sie gar nicht gehen lassen können. Und das müssten Sie so öffentlich demonstrieren, dass es Eindruck hinterlässt.«
Tom setzte sich aufrecht. Er war besorgt und angespannt. Zugleich glomm tief in ihm ein Funken Hoffnung auf. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
»Wie denn? General, ich würde alles tun.«
»Sie begleiten mich zum Gipfel im Kapitol. Sie werden es sein, der Elliot vertritt. Sie werden es sein, der Medusa besiegt.«