NEUNUNDZWANZIG

Nigel Harrison war nicht dumm. Am Tag des Gipfels im Kapitol begriff er in dem Moment, in dem sich Tom und Elliot zu ihm in den privaten Wagen gesellten, dass nicht er derjenige sein würde, der gegen Medusa kämpfen würde.

»Oh. Super.« Sein zartes Gesicht zuckte vor Abscheu. »Ich schätze mal, das bedeutet, dass ich hier der Scheinstellvertreter bin.«

»Tom ist hier für den Fall, dass es dir nicht gelingt, Medusa zu besiegen, Nigel«, sagte Elliot. »Für einen Rekruten ist er sehr gut.«

»Aber er ist trotzdem nur ein Rekrut«, protestierte Nigel. »Er ist erst im ersten Kurs für Taktik. Er wird sich in ein echtes Raumschiff einklinken und gegen ein anderes echtes Raumschiff antreten – und das wird er beim Gipfel im Kapitol zum ersten Mal machen? Was für einen Sinn soll das deiner Meinung nach ergeben, Elliot?«

So wie Nigel es ausdrückte, ergab es plötzlich auch für Tom keinen Sinn mehr. Ein bedrückendes Gefühl überkam ihn. Ja, Marsh und Elliot hatten ihm gesagt, er werde richtige Raumschiffe lenken. Aber sie hatten auch gesagt, dass es sich nicht um eine richtige Schlacht handelte, sondern eher um ein Spiel. Tom war davon überzeugt gewesen, dass er ein Spiel gewinnen konnte.

Erst jetzt ging ihm auf, dass dieses Spiel echt sein würde. Es würde ein echtes Schiff geben und ein echtes Spiel.

»Tom hat sich alles heruntergeladen, was er über Navigation wissen muss«, sagte Elliot zu Nigel, »und General Marsh hat dafür gesorgt, dass er sich in eines der Schiffe in der Erdumlaufbahn einklinken konnte, um Praxis zu bekommen. Er hat es sofort begriffen. Tom ist ein Naturtalent.«

»Wird Marsh allmählich senil, Raines? Wie hast du ihm das aufgeschwatzt?«, kreischte Nigel.

»Habe ich überhaupt nicht«, blaffte Tom ihn an. »Es war seine Idee, nicht meine.«

»Wir sollen einander unterstützen, Nigel«, erinnerte Elliot ihn.

»Ich soll damit einverstanden sein, mich wegen eines Rekruten hinten anzustellen?«, schrie Nigel. »Bei einem vom Gehobenen Dienst könnte ich es verstehen – die haben Erfahrung mit den Schiffen. Sogar wenn Marsh einen vom Mittleren Dienst ausgesucht hätte, könnte ich das verstehen – weil die schon mal mit der CamCo unterwegs waren und Schlachten aus der Nähe gesehen haben. Aber er ist Rekrut. Ein Rekrut! Das ist unglaublich!«

»Mir gefällt deine Einstellung nicht, Nigel.«

»Und mir gefallen Leute nicht, die so reden, als wären sie Betreuer in einem Feriencamp«, höhnte Nigel.

»Jetzt bist du einfach nur kleinkariert …«

Tom ließ die beiden weiter streiten, während seine Nerven blank lagen. Obwohl Elliot enttäuscht darüber war, einen Vertreter zu haben, freute er sich offenkundig darüber, dass es einer seiner eigenen Rekruten war, der den Großteil des Kampfes übernehmen würde. Er hatte Tom sogar zugeschaut, als dieser sich an der Navigation eines Schiffes versuchte – es war wirklich ganz wie bei Angewandte Simulationen. Hinterher hatte er ihm gesagt, er habe einen tollen Job gemacht. Aber so war Elliot eben. Wahrscheinlich hätte er ihn sogar noch ermutigt, wenn er das Schiff versehentlich gegen den Mond gerammt hätte. Doch nun dachte Tom über Nigels Worte nach. Er war so auf diese Chance erpicht gewesen, sich zu rehabilitieren, dass er gar nicht so richtig darüber nachgedacht hatte, ob er bereit dazu war. Vor den Augen von Elliot und General Marsh hatte er dieses Testschiff vielleicht zwanzig Minuten um den Mond herumgeflogen. Aber nicht während einer Schlacht. Nicht in einer absoluten Stresssituation. Er bekam Magenschmerzen.

»Was für ein Spiel wird es denn sein?«, fragte Tom, bemüht, seine Nerven zu beruhigen.

»Eine erbärmliche Farce«, erwiderte Nigel bitter.

Elliot ging nicht auf ihn ein. »Das ändert sich von Jahr zu Jahr, Tom. Die Leistungsschau beim Gipfel im Kapitol ist keine echte Schlacht. Es ist eher ein Vorwand, um die Mitglieder der Koalition zu unterhalten und der Öffentlichkeit eine Schau abzuliefern. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden du und Medusa eine kleine Aufgabe lösen müssen. Gewinner ist der, der sie als Erster absolviert hat, und das siegreiche Land gewinnt an Ansehen.«

Tom starrte ihn an. »Wenn ich verliere, füge ich also dem Ansehen unseres Landes Schaden zu.«

»Genau«, sagte Nigel gehässig. »Aber mach dir bloß keinen Stress.«

»Nein.« Elliot beugte sich zu ihm vor und umklammerte ihm ermutigend die Schulter. »Betrachte es nicht auf diese Weise, Tom. Niemand rechnet damit, dass unsere Seite in diesem Jahr gewinnt.«

»Oh. Das ist ja echt beruhigend«, sagte Tom.

»Nun, so war es aber gemeint. Solltest du oder solltest du« – Elliot besann sich darauf, Nigel mit ins Boot zu nehmen und deutete mit dem Kopf auf ihn, woraufhin dieser die Augen verdrehte, da er die Geste als genauso symbolisch verstand, wie sie gemeint war – »am Ende Medusa besiegen, dann wäre das für alle eine große Überraschung. Wir wissen alle, dass Medusa in einer anderen Liga spielt als wir. Das weiß die Koalition auch. Deswegen lass dich nicht unter Druck setzen. Wenn du verlierst, geht davon die Welt nicht unter.«

Elliot kannte also die Konsequenzen für Tom nicht. Für Tom würde die Welt untergehen.

Falls er beim Gipfel verlor, würde er alles verlieren. Seinen Platz im Turm, seinen Neuronalprozessor, seine Freunde, seine Zukunft. Alles.

In der Nähe des Kapitols stieg Elliot aus ihrem Privatwagen aus und in eine Limousine um, bereit für seinen öffentlichen Auftritt und seinen Fototermin mit Politikern, Nobridis Managern und den sich anbiedernden Vertretern der Medien.

Tom und Nigel saßen stumm da, während ihr Wagen auf ihrer beider Bestimmungsort zufuhr. Toms Besorgnis wuchs so sehr, dass er sich kaum etwas aus Nigels finsteren Blicken machte. Sie hatten zwar das gleiche Ziel wie Elliot – das Kapitol –, näherten sich diesem jedoch diskreter. Ihre Identitäten und IPs waren nicht durchgesickert. Da ihre Namen Staatsgeheimnisse waren, konnten sie beide Elliot vertreten. Es bestand also keine Gefahr, dass die russisch-chinesische Seite Amerika in Verlegenheit brachte, indem sie aller Welt verkündete, wer der tatsächliche Pilot von Elliots Schiff war.

Ihr Wagen hielt vor dem Hart Senate Office Building. Tom blieb wie erstarrt auf seinem Sitz hocken. Die Fahrt war allzu schnell vergangen.

»Jetzt kommst du ins Schwitzen, was?«, höhnte Nigel, der sich an Toms Unbehagen weidete.

»Halt’s Maul.« Tom drängte sich aus dem Wagen.

General Marsh erwartete sie im Foyer. »Gut, gut, dann kommt mal mit, ihr beiden.« Hastig begleitete er sie durch die Sicherheitsschleuse, die summte, als sie hindurchgingen. Dann durchschritten sie die marmorne Halle und steuerten die Aufzüge an.

Sie drängten sich in den Aufzug, der normalerweise nur US-Senatoren vorbehalten war, und fuhren ins Kellergeschoss hinunter. Dort setzten sie sich in einen kleinen U-Bahn-Wagen. Dieser sauste die Gleise entlang und beförderte sie in Richtung des geheimen Kellereingangs des Kapitols.

Während sie über die Schienen donnerten, musterte der General Tom. »Seid ihr beide bereit?«

Nigels Gesicht zuckte. Das war seine einzige Reaktion, denn er wusste, dass der General die Frage nicht wirklich an ihn gerichtet hatte.

»Ja, Sir. Ich bin bereit.« Tom war froh, dass seine Stimme nicht zitterte.

Marsh führte sie durch private Flure in den unteren Geschossen des Kapitols zu einem verborgenen Raum unterhalb der Rundhalle. Der Raum war lang, schmal und schalldicht. In ihm standen zwei Stühle. Eine Wand diente als Projektionsschirm, auf dem die Bilder aus der wuchtigen Kuppel in der Mitte des Kapitols übertragen wurden.

Tom starrte auf den Bildschirm. Zu sehen war die Rundhalle mit einer Kuppel, deren zylindrischer Unterbau mit einem Panoramagemälde geschmückt war, mit einer Reihe von Statuen sowie mit Ölgemälden, auf denen Szenen aus der amerikanischen Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts dargestellt waren. Durch den Raum liefen zahlreiche Zuschauer. Die Sitzreihen waren um eine kleine, runde Arena in der Mitte angeordnet, in dem sich Svetlana und Elliot gegenübersitzen würden. Darüber befand sich ein kreisförmiger Bildschirm, auf dem die Schlacht im All übertragen werden würde.

»Das hier ist das Separee, in dem ihr beide euch aufhalten werdet. Hier ist der neurale Zugangsport.« Marsh tippte auf eine diskret in der Wand eingelassene Nische. »Ich gebe Ihnen die Koordinaten eines Satelliten. Ist ein altes Schätzchen. Er befindet sich schon seit den frühen Zeiten des Raumfahrtprogramms in der Umlaufbahn, und jetzt wollen wir ihn ins Museum verfrachten. In diesem Jahr treten Sie gegen den russisch-chinesischen Kombattanten an, und es geht darum, diesen Satelliten als Erster zu bergen. Keine Raketen, keine Waffen. Um dabei zu gewinnen, muss man gerissen sein. Sieger wird derjenige sein, der ihn sich schnappt und ihn auf dem Rasen vor dem Smithsonian abliefert. Sobald die Aktion beginnt, wird sich Ramirez einklinken. Wenn er die obere Atmosphäre erreicht hat, klinkt sich Mr Harrison ein. Sie haben zwei Minuten, um bei mir Eindruck zu schinden, Harrison. Dann übernimmt Raines.«

Nigels Lippen verzogen sich. »Super. Zwei Minuten, um jemanden zu besiegen, der noch nie besiegt worden ist. Was für eine fantastische Gelegenheit. Es scheint sich hier überhaupt nicht um ein abgekartetes Spiel zu handeln.«

Marsh sah ihn an. »Wie war das, junger Mann?«

»Nichts, Sir.«

Marsh wandte sich dem Bildschirm zu und listete die Identitäten der hereinströmenden Zuschauer beim Gipfel auf. Es waren Männer und Frauen in Anzügen, die mehr gekostet hatten, als die meisten Menschen in ein, zwei Jahren verdienten.

»Schauen Sie sie an. Das sind die Powerplayer der Welt.« Mit seinem wulstigen Zeigefinger deutete er auf sie. »Präsident Milgram kennen Sie ja, daneben stehen Vizepräsident Richter und der Verteidigungsminister, Jim Sienker. Und der, der sich da mit ihnen unterhält, das ist …«

»Joseph Vengerov«, ergänzte Tom säuerlich.

»So ist es. Gründer und Vorstandsvorsitzender von Obsidian Corp. Bei Vengerov müssen Sie beide sich für die Technologie des Neuronalprozessors bedanken.«

Tom musste sich bei Vengerov für seine Zeit als Hampelmann von Dalton bedanken. Von Blackburns Entscheidung ganz zu schweigen, ihm das Gehirn im Memografen zu verbrutzeln. Sein Blick suchte die Menschenmenge ab, und dann sah er ihn – Lieutenant Blackburn in Galauniform, ganz am Rand der Versammlung. Er beobachtete Vengerov.

Tom schauderte. Er musste hier gewinnen.

»An der Seite von Svetlana Moriakova«, sagte Marsh gerade, »sehen Sie die südamerikanischen, afrikanischen, chinesischen und russischen Delegationsteilnehmer. An der Seite von Mr Ramirez sehen Sie unsere Verbündeten – Inder, Europäer, Australier und Kanadier. Ach ja, und hier vorn sitzen die Repräsentanten der Koalition – das russisch-chinesische Kontingent: Lexicon Mobile, Harbinger, LM Lymer Fleet, Kronus Portable, Stronghold Energy und Preeminent Communications. Dort drüben sitzen die indo-amerikanischen Verbündeten in der Koalition, unsere Powerplayer: Obsidian, Nobridis, Wyndham Harks, Matchett-Reddy, Epicenter Manufacturing und …«

»Dominion Agra«, vollendete Tom für ihn. Schon beim Anblick des hochgewachsenen, herablassend wirkenden Mannes, der gerade durch die Menge schritt, war ihm, als würde er vor Hass gleich platzen.

Es war verblüffend, dass die mächtigsten Menschen der Welt sich in der Rundhalle versammelten und Dalton die Menschen um ihn herum betrachtete, als gehörten sie alle ihm.

»Gut«, sagte Marsh. »Sie kennen Ihre Freunde in der Koalition.«

Nein, er kannte seine Feinde. Und Tom wusste, dass Dalton ein schlimmerer Feind für ihn war als irgendjemand aus Russland oder China. Er war zum Äußersten entschlossen. Er würde heute gewinnen. Das musste er einfach. Schon um im Turm bleiben zu dürfen und es Dalton unter die Nase zu reiben.

»Ich hoffe, Sie beide sind alt genug, um sich hier vernünftig aufzuführen«, sagte Marsh zu ihnen. »Wenn es ein Problem gibt, senden Sie eine Nachricht an Lieutenant Blackburn. Er steht in Bereitschaft in der Menge.«

»Ich habe keine Tastatur dabei«, entgegnete Tom. Er fragte sich, wie Marsh von ihm erwarten konnte, ausgerechnet Blackburn um Hilfe zu bitten. Selbst wenn er sich sämtliche Knochen brach und dann in Flammen aufging, würde er Blackburn nicht bitten, herzukommen und ihm zu helfen.

»Ich schon, erfreulicherweise«, erwiderte Nigel und zog den Ärmel hoch, um sie Marsh zu zeigen.

Marsh nickte. »Ich sehe Sie beide dann hinterher.«

Nachdem er sie angewiesen hatte, aufmerksam zu sein und sich einzuklinken, sobald der Wettkampf begann, ging General Marsh, um sich zu den Teilnehmern des Gipfels zu gesellen. Tom blieb in dem isolierten, verborgenen Raum mit Nigel zurück und beobachtete die Gäste. Nigel machte sich nicht die Mühe. Er klickte lediglich das Neuronalkabel in den Zugangsport in der Wand und wieder heraus, wobei er ständig unruhig von einem Bein auf das andere trat.

Tom betrachtete ihn – seine griesgrämige Miene, seinen düsteren Gesichtsausdruck. »Weißt du, auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, aber ich brauche das hier jetzt viel mehr als du.«

»Tatsächlich, ja?« Nigels blasse Augen blickten zu Toms auf. »Damit du dir deine Chance, in die Camelot Company zu kommen, zum zweiten Mal wegschnappen lässt?«

Tom war sich nicht sicher, was er dazu sagen sollte. Er hoffte nur, dass Nigel keinen Widerstand leisten würde, wenn er die Kontrolle über das Raumschiff übernahm. Nigel war ein kleiner Bursche, und die Vorstellung, ihn zu schlagen, nur um ihm das Kabel zu entreißen, gefiel Tom nicht.

Er würde es tun, wollte es aber einfach nicht.

Auf dem Bildschirm war zu sehen, dass in der Rundhalle Bewegung aufkam. Nigel richtete sich auf. Tom wandte sich zum Bildschirm, um zuzuschauen. Die auf dem Bildschirm zu sehenden Teilnehmer des Gipfels im Kapitol verstummten. Das einzige Geräusch in dem Raum mit Nigel und Tom war das Summen der Lautsprecher, welche die Stimmen aus der Rundhalle übertrugen. Elliot und das russische Mädchen, Svetlana Moriakova, traten aufeinander zu und gaben sich die Hand. Dann begaben sie sich auf ihre jeweiligen Stationen – ausgestattet mit Reglern, ja sogar Joysticks, die es ihnen erlauben würden, die Schiffe selbst zu starten und die Illusion, sie wären die Piloten der Schiffe im All, abrundeten. Die Leute wussten nichts von Neuronalprozessoren. Sie würden die komahafte Reglosigkeit eines echten Kombattanten wohl auch nicht besonders spannend finden.

Toms Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt würde es nur noch ein paar Minuten dauern.

Er wandte sich Nigel zu und sah, dass dieser sich gar nicht eingeklinkt hatte. Stattdessen hielt er ein dünnes Kabel in der Hand, den Blick auf Toms Gesicht geheftet.

»Wenn ich sowieso in zwei Minuten rausgekickt werde, will ich mir gar nicht erst die Mühe machen. Übernimm es vom Start weg.«

Tom blinzelte. Er kam sich benommen vor. Es waren nur zwei Minuten, aber ihm war, als würde er direkt in den Einsatz hinauskatapultiert, bevor er dazu bereit war.

»Ernsthaft?«

»Ernsthaft.« Nigels Stimme klang hohl. »Weißt du, warum Marsh mich dort draußen als Erster rausschickt? Weil er dann, wenn du verlierst, immer noch gut aussieht, so als hätte er nach Vorschrift gehandelt und mir eine Chance gegeben, und ich hätte es nicht gebracht.« Seine Lippen verzogen sich. »Er ist ein Feigling. Er sollte es einfach nur dich machen lassen, wenn er das unbedingt will.«

Tom war plötzlich der gleichen Meinung: Marsh war ein Feigling. Er hatte zwar keine Mühen gescheut, um Tom in das Programm zu schleusen, doch nun bewies er kein Rückgrat, nicht wirklich. Toms einzige Chance lag darin, ein Wunder zu vollbringen und Medusa zu besiegen.

Auf einmal erinnerte er sich an die Worte seines Vaters an dem Tag, an dem sie Abschied voneinander genommen hatten: »Tom, was immer passiert, du passt selbst auf dich auf.«

So würde er es machen. Er würde Medusa besiegen, und wenn nicht, tja, dann würde Marsh seine Hände nicht in Unschuld waschen können. Er würde nicht so tun können, als hätte er selbst keine Rolle dabei gespielt, Tom in den Turm zu holen und beim Gipfel im Kapitol fliegen zu lassen. Er nahm Nigel das Kabel ab, langte hinauf, um es anzuschließen – und bemerkte aus dem Augenwinkel heraus Nigels giftiges Lächeln und die Tastatur, die er unter seinem Ärmel hervorholte.

»Was tust du …«, begann Tom.

Das war die einzige Warnung, die Tom bekam, bevor auf seinem Infoscreen eingeblendet wurde: Sitzung abgelaufen. Immobilitätssequenz initiiert. Tom fühlte, wie er von der Brust abwärts jedes Gefühl verlor. Er stürzte zu Boden, genau wie bei den Fitnessübungen.

In aller Seelenruhe trat Nigel zu ihm und nahm das Kabel wieder an sich. »Jetzt mal in echt, Raines, hast du geglaubt, ich würde mich hier zurücklehnen und dich heute den Helden spielen lassen? Hast du das wirklich geglaubt?«

Schockiert schaute Tom zu ihm hoch. »Tja, eigentlich schon.« Vergeblich krallte er sich in den Teppich. Wie immer erlaubte ihm das Immobilitätsprogramm den Gebrauch seiner Arme, doch keinerlei Belastung derselben. Er konnte sich nicht einmal aufrichten.

»So läuft das aber nicht!« Nigel wirbelte zum Bild der Rundhalle auf der Projektionswand herum. »Ich dachte, es würde reichen, wenn ich die CamCo-Namen durchsickern lasse. Dass Marsh mich dann nehmen müsste. Dass er keine Wahl haben würde, wenn die IPs öffentlich gemacht wären!«

Tom stockte der Atem. »Du warst es.«

Nigel grinste ekelhaft. »Als Dominion Agra noch mit dir gearbeitet hat, hat mir Dalton Prestwick angeboten, auch mich zu sponsern, wenn ich ihm dabei helfe, die Mitglieder der CamCo zu enttarnen. Wahrscheinlich haben sie genauso kalkuliert wie ich, dass nämlich das Militär, sobald alle Welt die aktuellen Kombattanten kennt, andere benötigte, die nach wie vor anonym waren. Und wäre es nicht ganz einfach für Dominion gewesen, dafür zu sorgen, dass du befördert wirst, wenn der Zeitpunkt gekommen war? Sie hatten zwar Namen, die sie durchsickern lassen konnten, aber sie kannten die dazu gehörigen IPs nicht. Deshalb haben sie mich gebeten, das zu erledigen. Aber nachdem du den Club zerstört hast, sagte mir Dalton, die Abmachung gelte nicht mehr. Das spielte aber auch keine Rolle. Ich hatte bereits beschlossen, die Informationen meinerseits durchsickern zu lassen. Ich habe eine nicht zurückverfolgbare E-Mail mit jeder Menge Neuronalprozessor-spezifischem Kauderwelsch an den chinesischen Botschafter gesendet, um ihn davon zu überzeugen, dass ich Insider bin, dann eine zweite mit der Liste der Namen und IPs. So einfach war das. Ich sagte dir doch, ich komme in die CamCo, ob ich nun einen Sponsor habe oder nicht.«

Tom warf einen verzweifelten Blick auf die Übertragung aus der Rundhalle. Svetlana, die von Medusa vertreten wurde, gab nach außen hin vor, die Kontrolle über das Schiff auszuüben. Elliot war schweißnass, da er zum ersten Mal tatsächlich beim Gipfel kämpfte. Er zog ruckartig an der Steuerung, fest entschlossen, aber ohne jede Kreativität. Er ließ sein Raumschiff in der oberen Atmosphäre auf direktem Kurs auf den Satelliten zurasen.

Medusa war zu ausgebufft für so etwas. Sie benutzte ihre Triebwerkabgase dazu, Weltraumschrott in seine Richtung zu katapultieren und ihn so vom Kurs abzudrängen. Manchmal beachtete sie den Satelliten gar nicht mehr und spielte schlichtweg nur mit Elliot. Dann schwenkte sie auf ihn zu, schien ihn fast rammen zu wollen, um im letzten Moment, wenn er in Panik geraten war und sein Schiff gefährlich vom Kurs abgebracht hatte, zur Seite abzudrehen. Mit einem neckischen Wackeln ihres Schiffes ließ sie sich dann wieder zurückfallen, um auf seinen nächsten Versuch zu warten, so als amüsiere sie der ganze Vorgang. Sie machte ihn psychologisch fertig, spielte mit ihm wie eine Katze mit einer Maus. Es war offensichtlich, dass beide Kombattanten wussten, wer triumphieren würde.

»Nigel, du darfst Dalton nicht vertrauen. Dominion Agra wird dich nicht sponsern – die benutzen dich bloß als Bauernopfer! Das hatten sie wahrscheinlich von Anfang an so geplant!«

Nigel wirbelte wütend zu ihm herum. »Du kapierst das nicht, Raines! Ich traue Dominion Agra nicht. Natürlich tue ich das nicht. Ich bin doch nicht blöd. Ich sollte in die CamCo kommen. Klar doch, Dominion Agra hat mich auf die Idee gebracht, aber ich wusste, dass der Kontakt auch mir nützlich sein würde. Ich wusste, dass ich aufsteigen würde, wenn ich die Namen der CamCo-Mitglieder öffentlich mache. Selbst als sie ihr Angebot zurückgezogen haben, wusste ich, dass ich es trotzdem tun würde. Aber sogar dieser Plan ist dank Marshs offenkundigem Bedürfnis, dich zu befördern, danebengegangen. Deshalb ist das hier jetzt meine letzte Chance. Genau jetzt. Nach dem heutigen Tag wird das Militär gar keine andere Wahl mehr haben, als mich kämpfen zu lassen.«

»Was hast du vor?«, fragte Tom ihn argwöhnisch, während er auf das Kabel in Nigels Hand starrte.

Nigel wandte sich dem Bildschirm zu. Er betrachtete die Menschenmenge mit leuchtenden Augen. »Ich habe ein Raumschiff unter Kontrolle, Raines. Und eines kann man über den Turm sagen: Er gibt ein ziemlich leichtes Ziel ab.«

Tom starrte Nigels Rücken an. Das konnte er nicht ernst meinen. Er konnte nicht ernsthaft Elliots Schiff für einen Angriff auf den Turm des Pentagons benutzen.

»Das Pentagon wird den Angriff nicht einmal kommen sehen. Sie werden glauben, dass ich« – Nigel drehte sich zu Tom um und warf ihm einen heimtückischen Blick zu – »tja, sie werden glauben, du vollführst da so ein abenteuerliches Flugmanöver. So etwas passiert eben, wenn man einem Rekruten die Verantwortung überträgt. Dieser Rekrut war ja auch durchgedreht genug, einem Skorpion den Kopf abzubeißen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es jetzt schon hören. ›Was hat sich dieser Marsh dabei nur gedacht?‹ Dafür kommt er vors Kriegsgericht. Todsicher.«

»Vergiss nicht, dass sich auf dem Schiff gar keine Raketen befinden.«

»Ich verwende keine Raketen. Ich ramme ihn. Rumms. Große Explosion, mitten drin. Auch wenn dadurch nicht alle im Gebäude ausgelöscht werden, die meisten werden ausgeschaltet.«

Tom lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dieser Plan konnte funktionieren. »Damit wirst du nicht davonkommen.«

»O doch, Tom, das werde ich.« Sorgsam darauf bedacht, außerhalb von Toms Reichweite zu bleiben, kniete sich Nigel nieder und grinste ihn spöttisch an. »Weißt du noch, wie Blackburn dir diese Erinnerung von dem Skorpion in den Kopf gepflanzt hat? Ich dachte mir, das könnte nützlich sein, und deshalb habe auch ich herausbekommen, wie man Erinnerungen einpflanzt. Sobald der Turm in Flammen steht, pflanze ich in unser beider Gehirne eine neue Erinnerung. Du wirst dich daran erinnern, den Turm wegen des Memografen zerstört zu haben, und ich werde mich daran erinnern, dass du das getan hast – trotz meines heldenhaften Versuchs, dich aufzuhalten. Die Öffentlichkeit wird Elliot die Schuld zuschreiben, das Militär dir, und ich bin dann hier der einzige Held. Und als einer der wenigen überlebenden Kombattanten, muss ich dann in die CamCo kommen. Ich werde sogar ein reines Gewissen deswegen haben – ist das nicht das Geilste überhaupt?«

Es haute Toms förmlich um. Nigel war eine Art diabolisches Superhirn – und er war für eine Beförderung in die CamCo abgelehnt worden?

»Ja, so ist das, Raines«, höhnte er. »Ich bin viel, viel schlauer als du.«

»Nigel, jetzt komm schon, warte mal!«

Mit einem letzten hämischen Grinsen klinkte Nigel sich ein.

Tom sah zu, wie Nigel in das Programm eintauchte, während er selbst mit seinen unbrauchbaren Beinen kämpfte, mit seinen Armen, die den Dienst versagten. Frustriert schlug er mit der Faust auf den Boden. Er reckte den Kopf so hoch, wie er es vermochte, um Nigels Gesicht zu sehen. Dahinter blickte er auf den Bildschirm, der die Kombattanten überragte. Tom erkannte den Moment, in dem Elliot die Kontrolle über den Kampf abgab – denn er setzte einen Ausdruck auf, der wie ein erleichtertes Lachen wirkte, und eine gewisse Zufriedenheit legte sich über seine Züge. Er hatte ja auch keine Ahnung, dass hier nicht sein Vertreter zu seiner Rettung kam, sondern das Verhängnis für sie alle.

Tom beobachtete, wie Nigels Schiff in der oberen Atmosphäre herumwirbelte und sich von Medusa schnell wegbewegte. So wie er direkt in die Erdatmosphäre steuerte, Feuer um die Hitzeschilde lodernd, hätte ein unwissender Zuschauer es für eine gewiefte taktische List oder gar einen publikumswirksamen Auftritt halten können. Tom vernahm ein anerkennendes Gemurmel aus den Reihen der Zuschauer, während Nigel auf die unter ihm liegende Landmasse zuraste.

Mit schwindelerregendem Schrecken erkannte Tom, dass Nigel die obere Atmosphäre verlassen hatte und sein Schiff nun in einem Höllentempo auf den Boden zuschoss, die Koordinaten auf Virginia eingestellt. Als er noch tiefer flog, kamen die Lichter von Washington, D.C., in Sicht, und dann jenseits davon die von Arlington. Der Turm erhob sich über das Land.

Nigel war wirklich im Begriff, es zu tun. Niemand wusste, dass sein Schiff den Tod bringen würde. Niemand wusste, dass man es aufhalten musste. Nigel würde den Turm vernichten und alles zerstören, was Tom hatte.

Tom tat das Einzige, was ihm blieb, griff zu der einzigen Waffe, die er besaß.

Er starrte Nigel direkt an, biss die Zähne zusammen und dachte das Codewort: »Winziger scharfer Vikram … WINZIGER SCHARFER VIKRAM

Dann geschah es. Die Datei mit dem Virus lud sich wie eine aus ihrem Schacht ausklinkende Wasserstoffbombe von seinem Prozessor herunter. Ein Gefühl der Leichtigkeit durchzuckte Toms Gehirn, als das Virus sich aus seinem Prozessor löschte und der Codestream über sein Sehfeld tänzelte, ihn verließ, Nigel traf und auslöste.

Wie von der Tarantel gestochen, sprang dieser von seinem Sitz hoch.

Ihr Computer ist infiziert, las Nigel auf seinem Infoscreen. Klicken Sie hier, um Schutz für Ihren PC herunterzuladen. »Ich bin doch kein PC! Ich brauche keinen …« Seine Stimme veränderte sich, während seine blauen Augen sich weiteten, als auf seinem Infoscreen weiterer Text eingeblendet wurde. »Freigeld. Für Details hier klicken.« Linkisch zog er sich das Neuronalkabel heraus, doch das Bombardement von Anzeigen hörte nicht auf. »Lernen Sie das ultimative Fett-weg-Geheimnis kennen … Was ist das, Raines?«

»Klingt wie das ultimative Fett-weg-Geheimnis.«

»Das habe ich nicht gemeint!« Offenbar sah er nun noch etwas anderes, denn Nigels Miene verfinsterte sich, und seine Stimme klang nun tiefer und belegt. »Werden Sie Mystery Shopper. … Lassen Sie sich für Ihre Meinung bezahlen. … Finden Sie heraus, wer nach Ihnen sucht. … Glückwunsch, Sie haben gewonnen! … Schlagen Sie zwei Fliegen mit einer Klappe und gewinnen Sie einhundert … Machen Sie Geld von zuhause aus …«

Seine Stimme verlangsamte sich nun immer mehr, und er fuhr sich mit seinen dünnen Fingern durch das schwarze Haar und zog daran, so als hoffe er, wenn er sich den Kopf hielt, würde die Werbung, die Wyatts Virus in seinem Hirn entpackte, aufhören. Auf dem Bildschirm über ihnen war zu sehen, wie Nigels Schiff außer Kontrolle geriet und auf den Turm zutrudelte.

»Waaaas iiiist daaaas?« Nigel trat auf Tom zu, als wate er durch dicken Morast. Langsam und träge schwankte er auf ihn zu und streckte dabei die Hand aus, um ihn zu packen. »Raaaines …«

Er torkelte so weit auf ihn zu, dass er sich nun in Griffweite befand. In diesem Moment versetzte ihm Tom einen Schlag.

Nigel taumelte zurück und kam mit dem Kopf auf der Stuhlkante auf. Er fiel zu Boden und blieb dort liegen.

Da das Immobilitätsprogramm seine Arme daran hinderte, sein Gewicht zu tragen, gelang es Tom nicht, sich zu Nigel zu schleppen. Also packte er Nigels dünnes Bein, zerrte ihn zu sich herüber, zog ihm das Neuronalkabel aus seinem erschlafften Griff und steckte es sich dann in den Port an seinem eigenen Stammhirn.

Er glitt in das Programm. Toms Gehirn wurde direkt in das Navigationssystem von Nigels Schiff gesogen, eine schrille Verschiebung seines Bewusstseins. Seine Sinne und die Sensoren der Maschine zischten, als sich sein menschliches Gehirn mit den logischen Parametern des Schiffs bekriegte. Während die Maschine um ihn herum brummte, zwang er sich dazu, tiefer in das Kommandosystem einzutauchen. Er drang in die Schaltverbindung, in jeden Codestream, während der Bildschirm in der Rundhalle zeigte, wie das Zielobjekt rasend schnell näher kam. Tom zuckte hin und her zwischen dem Schiff und seinem organischen Körper, in dem der Schrecken sein Herz hämmern ließ. Er sah – einen winzigen Augenblick lang mit eigenen Augen – den Bildschirm, die unbehagliche Erregung in der Rundhalle und Elliots schockierten Ausdruck, während alle auf den Bildschirm starrten, wo Toms Schiff sich auf Kollisionskurs mit dem Turm des Pentagons befand.

Dann scherte Tom aus, brach den tödlichen Sturzflug ab und schnellte wieder hoch durch die seidigen Wolken, zurück in die obere Atmosphäre. Aus dem blauen Himmel wurde völlige Dunkelheit. Ein Schauer der Erregung kroch ihm über den Rücken, während die Erde sich unter ihm wölbte und die Sterne um sein Schiff zu funkelndem Leben erwachten.

Medusas Schiff hatte den Satelliten, um dessen Bergung sie wetteiferten, mit seinen Greifern eingeklemmt. Durch die Wärmesensoren seines Schiffes starrte Tom auf ihr Schiff – ein scharfes, sichelartiges Ding – und war froh darüber, dass das Virus, ein billiger Trick, weg war. So, wie es jetzt war, wollte er sich ihr entgegenstellen. Seiner Möchtegernfreundin, seinem Idol, seinem Erzfeind. Von Krieger zu Krieger.

Das hier würde ihre erste richtige Schlacht werden.