ZWEIUNDDREISSIG

Unbedarfter Kretin.«

Viks Worte ließen Tom zusammenfahren. Sie standen gerade vor der Tür zum Lafayette-Raum. »Was soll das denn jetzt heißen?«

»Das ist dein neuer Spitzname«, erklärte Vik.

Die lange erwartete männliche Entsprechung zu Böse Hexe ergab für Tom keinen Sinn. In einer Formation aus zwölf Rekruten marschierten sie in den Raum. Er konnte mit der Anspielung nichts anfangen. Was sollte unbedarft bedeuten?

»Ist in deinem Neuronalprozessor nicht gespeichert, was?« Vik zog die Brauen nach oben, während die Türen vor ihnen aufglitten. »Genau deshalb habe ich ihn ausgesucht. Wir haben eine Abmachung – du musst darauf reagieren.«

Tom lachte. »Schön, aber Vik, nichts auf der Welt kommt an Scharfer Inder heran.«

»Stirb langsam, Tom.«

Tom lachte, während sie hintereinander den Mittelgang entlangmarschierten. Auf der Bühne vorn im Raum warteten Marsh, Cromwell und Blackburn. Die anderen Auszubildenden waren für die Zeremonie vor ihren Bänken angetreten.

Tom entdeckte Yuri in der Gruppe der Rekruten und erntete von ihm ein mattes Lächeln. Sosehr sich Yuri bemühte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen – als er hörte, dass all seine Freunde befördert wurden, machte es ihm trotzdem zu schaffen. Erst war er chiffriert worden, und jetzt auch noch das. Es war eine weitere Bestätigung dessen, dass er keine Chance hatte, in den Rängen aufzusteigen. Tom wandte sich wieder der Bühne zu und setzte eine steife, offizielle, der Beförderung angemessene Miene auf. Ein Blick auf Vik bestätigte ihm, dass dieser das Gleiche tat. Vik strengte sich so an, einen ernsten Ausdruck aufzusetzen, dass es aussah, als leide er unter Verstopfung.

Sie stellten sich in einer Reihe vor der Bühne auf, während Marsh zu einer Rede über Patriotismus ansetzte. Major Cromwells Lider hingen herunter, als wäre sie eingeschlafen. Und Blackburn stand einfach nur steif da und blickte so, als wappnete er sich vor einer drohenden Wurzelkanalbehandlung.

Als die Rede zu Ende war, spielten die besten Musiker unter den Auszubildenden einen Marsch, und die zur Beförderung vorgesehenen Rekruten gingen zur Bühne. Vik erhielt als Erster seine Auszeichnung – einen Neuronalchip mit Upgrades von Blackburn, ein neues Rangabzeichen von Cromwell und einen Händedruck von General Marsh. Als Vik die Bühne verließ, suchte Tom sein Gesicht nach Anzeichen von Stolz ab. Doch irgendetwas stimmte bei ihm nicht. Er sah ein wenig blass aus. Erst als Viks Blick zu Yuri in der Gruppe der Rekruten huschte, erkannte Tom, was er hatte: Vik machte sich Sorgen wegen des Landesverrats, den sie gemeinsam begangen hatten. Wyatt war die Nächste, die sich vor Blackburn aufstellte. Sie starrte zu Boden, und er schaute über sie hinweg, während er ihr einen Neuralchip mit neuen Softwareupdates in die Hand drückte. Sie hatte es so eilig zu Cromwell weiterzugehen, dass sie fast gestolpert wäre.

Toms Name wurde als Letzter aufgerufen. Blackburn biss die Zähne zusammen. Während er ihm den Neuralchip überreichte, starrte er Tom angespannt an. Tom nahm ihn entgegen und beschloss, das Ding von Wyatt scannen zu lassen, Dateiverzeichnis für Dateiverzeichnis, bevor er es sich ins Gehirn eingeben würde. Auf Cromwells Gesicht sah er Genugtuung aufblitzen, während sie das alte Rangabzeichen auf dem Kragen seiner Uniformjacke durch das neue ersetzte. Es war der gleiche Adler, doch nun mit zwei pfeilartigen Linien darunter statt nur einer. Marsh schüttelte ihm die Hand, Stolz lag auf seinem Gesicht.

Als die Zeremonie endete und die Auszubildenden den frisch Beförderten Applaus spendeten, registrierte Tom die Reaktionen der Mitglieder der Camelot Company, die sich in der ersten Reihe versammelt hatten. Karl zog einen Schmollmund, und seine Mundwinkel hingen herab. Als Elliot ihn leicht anstieß, spendete er den halbherzigsten Beifall der Welt.

Während Heather klatschte, richtete sie ihren Blick auf Tom und ließ ihn dann nicht mehr aus den Augen. Prompt stellte Tom fest, dass auch er seine Augen nicht mehr von ihr losreißen konnte. In ihrem intensiven Blick lag nach wie vor etwas Hypnotisierendes. Mit heißen Ohren, sich närrisch fühlend, löste er seinen Blick endlich wieder. Die Kapelle spielte Musik, während sie den Raum verließen.

Erst im Hauptfoyer unter den ausgestreckten Flügeln des goldenen Adlers hatte Tom das Gefühl, wieder Atem schöpfen zu können. Hinter ihm kam Vik angetrottet. Tom drehte sich zu ihm um und versetzte ihm einen Ellbogencheck. Er hoffte, Vik so aus seinen düsteren Gedanken reißen und ein wenig zum Lächeln bringen zu können. »Jetzt komm aber, Mann. Mach ein fröhliches Gesicht. Doktoren des Unheils machen sich keinen Kopf wegen irgendwas.«

Vik senkte die Stimme zu einem hauchdünnen Flüstern. »Tom, was ist, wenn wir das einmal bereuen?«

»Was denn, meinst du Yuri ist wirklich ein bösartiger Spion?«, erwiderte Tom genauso leise.

»Nein, ich meinte nur …« Vik schaute sich rasch um, um sich zu vergewissern, dass niemand in ihrer Nähe war. »Komm schon, Tom! Wir haben das Gesetz gebrochen. Das war Landesverrat.«

Nachdem er den Memografen überlebt und den Gipfel im Kapitol gewonnen hatte, hatte sich Tom nahezu unbesiegbar gefühlt, getreu dem Motto: alles schon erlebt. »Hör zu, wir passen einfach auf, dann bekommt es keiner mit. Und wenn sie Verdacht schöpfen? Dann bringen wir Wyatt dazu, ihn wieder zurückzuverwandeln. Und wenn das nicht klappt, nehme ich die Schuld auf mich, okay? Dir kann nichts passieren. Ich bin der Buhmann.«

Die Bemerkung schien Vik zu beruhigen. Er hob seine Stimme wieder zu normaler Lautstärke. »Tja, aber natürlich bist du hier der Buhmann, unbedarfter Kretin.«

»Was ist ein unbedarfter Kretin?«, platzte Tom heraus.

»Eine Redundanz. Doppelt gemoppelt«, ertönte Wyatts Stimme hinter ihnen. Mit Yuri im Schlepptau trat sie aus der Menschenmenge, die das Foyer füllte, hervor. »Ein begriffsstutziger, dümmlicher Mensch.«

Tom stöhnte. »Echt, Vik?«

»Die Tatsache, dass du es dir von Wyatt hast erklären lassen müssen, unterstützt meine Theorie der Unbedarftheit«, brachte Vik vor.

»Wir haben eine Auszeit vor uns. Können wir an unserem letzten Abend vielleicht noch etwas anderes machen, als hier blöde herumzustehen?«, wollte Wyatt wissen.

Yuri lächelte sie mit verklärtem Blick an. »Wir sollten alle ausgehen. Ich habe ein angemessenes Ritual für die Beförderung gefunden. Es heißt Absaufen.«

»Absaufen?«, fragte Wyatt. »Ist das ein Ritual, bei dem du uns Drinks spendierst und wir dann irgendwo im Wasser untergehen?«

Yuris Lächeln verblasste. »Ich wollte euch zum Essen einladen.«

»Essen ist prima, aber vergiss das mit dem Untergehen.«

»Ja«, schaltete sich Vik ein, dieses eine Mal vollständig einer Meinung mit Wyatt. »Jedes Unternehmen auf der Welt verklappt irgendwas im Meer. Wir würden Kinder mit fünf Armen kriegen.«

»Die könnten dann ein Ein-Mann-Orchester gründen«, schlug Tom Vik vor.

Er sah, wie sich Viks Augen erhellten, während er die Möglichkeiten durchging.

»Nein«, rief Wyatt. »Nicht ins Wasser! Aber zum Essen darfst du uns einladen, Yuri.« Ihr Tonfall war bestimmend.

Die anderen gingen nach oben, um sich umzuziehen. Tom blieb noch eine Weile und starrte den goldenen Adler an. Er war verblüfft darüber, dass er an seinem ersten Tag im Turm geglaubt hatte, der Adler starre ihn an. Damals hatte er so einschüchternd gewirkt. Jetzt aber sah er irgendwie kleiner aus. Vielleicht war er selbst ja auch größer geworden.

Hinter ihm glitt ein Schatten über den Marmorboden. Als Tom sich umdrehte, begegnete er gelbbraunen Augen und einem Lächeln, das Stahl zum Schmelzen gebracht hätte.

»Heather.«

»Glückwunsch, Tom. Ich wusste, dass du es hier zu etwas bringen würdest.«

»Oh, du meinst die Mittlere?« Verlegen fingerte Tom an seinem neuen Rangabzeichen herum. »Ja, danke.«

»Nein, ich rede von dieser anderen Sache.« Ihre Augen funkelten, und er wusste, dass sie ihn dazu beglückwünschte, den Gipfel im Kapitol gewonnen zu haben. »Sieht so aus, als würdest du eines Tages bei uns in der CamCo landen.«

Von der Vorstellung in Ehrfurcht versetzt richtete Tom sich auf und hielt ihrem Blick stand. Es schien wirklich eine sichere Sache zu sein. Marshs Blick auf der Bühne, seine Reaktion, Elliots Freundschaft, und jetzt das hier … Er würde seinen Weg hier machen. Es war bloß eine Frage der Zeit.

»Gehst du mit deinen Freunden aus?« Heather trat näher zu ihm. »Ich dachte, ich lade dich irgendwohin ein, um mit dir darauf anzustoßen.« Sie stieß den Atem so aus, dass es ihre schwarzen Haare zum Flattern brachte. »Natürlich hat man mich auch gebeten, mit dir über zukünftige Verbindungen mit meinem Sponsor Wyndham Harks zu sprechen, aber eigentlich …« Er spürte, wie heftig sein Herz schlug, als ihr Blick an ihm hinabglitt und wieder bis zu seinen Augen hinaufhuschte. Ihre Stimme klang ein wenig rauchig, als sie sagte: »Ich bin einfach so aufgeregt, einen Vorwand zu haben, mit dir auszugehen.«

Der Glanz in ihren bernsteinfarbenen Augen forderte ihn dazu heraus, etwas Wagemutiges zu tun. Plötzlich fiel es Tom schwer zu atmen, da er sich zu deutlich bewusst war, wie nahe sie vor ihm stand. So nahe, dass er ihr Shampoo riechen konnte. Kokosnuss. Plötzlich begriff er, dass sie immer noch diese Wirkung auf ihn hatte, nach wie vor dafür sorgte, dass er sich wie dieser zwergenhafte Junge an seinem ersten Tag im Turm vorkam, außer sich vor Freude, dass ein Mädchen mit ihm redete. Vielleicht würde sie für alle Zeiten diese Wirkung auf ihn haben.

Doch seine Gedanken schweiften von ihr ab zu etwas anderem, etwas viel Wichtigerem. Einer anderen.

Und plötzlich arbeitete Toms Gehirn wieder, und er schüttelte den Kopf und gab Heather eine Antwort. »Tut mir leid, aber ich muss noch was erledigen.«

Tom wusste nicht, warum der heutige Abend anders sein sollte. Seit dem Gipfel im Kapitol hatte er sich jeden Tag in VR eingeklinkt. Warum diese Hoffnung, ihr zu begegnen, ihm so viel bedeutete, wusste er auch nicht. Ihm war klar, dass er alles kaputt gemacht hatte, was ihn mit Medusa verbunden hatte. Selbst wenn er es nicht getan hätte … dieses hübsche chinesische Mädchen, das er sich in seiner Fantasie vorgestellt hatte, existierte nicht. Und sie wusste, dass der Typ, den sie über das Internet kennengelernt hatte, auch nicht wirklich existierte. Was hätte sie auf den Menschen vorbereiten können, als der er sich entpuppt hatte? Nichts in ihren Gesprächen, in ihren Schlachten, in jenen Momenten, in denen sie einander über ihre gezückten Schwerter hinweg angelächelt hatten, hätte sie auf die Wahrheit über ihn vorbereiten können. Dass er jemand war, der etwas so Böses, so Persönliches, so Grausames tun konnte, bloß um gegen sie zu gewinnen.

Daran zu denken quälte Tom, sodass er versuchte, es zu vermeiden. Und vielleicht wäre es ihm besser gegangen, wenn er sie nach allem, was geschehen war, einfach vergessen hätte. Doch immer wenn er die Augen schloss, sah er sie fliegen, sah er sie mit grimmiger Genialität kämpfen. Und an den Kuss erinnerte er sich nach wie vor.

Deswegen kehrte er immer wieder ins Internet zurück. Er klinkte sich direkt auf seiner Stube ein. Das mochte leichtsinnig und vermessen sein, aber nach den Ereignissen beim Gipfel im Kapitol hatte er vor kaum mehr etwas Angst. General Marsh hatte ihn in sein Büro gerufen, um ihm noch einmal zu gratulieren. Mitglieder der CamCo winkten ihm in den Korridoren plötzlich zu, und hochrangige Mitglieder der Alexander Division redeten mittlerweile mit ihm, so als wäre er in einen Club eingeführt worden, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Lieutenant Blackburn achtete sorgsam darauf, ihn während des Unterrichts nie zu behelligen, nicht einmal zu Demonstrationszwecken. Stattdessen hatte er es sich angewöhnt, Tom von der anderen Seite der Kantine oder des Foyers aus zu beobachten, sprach aber nie ein Sterbenswörtchen mit ihm.

Nun lag Tom auf seinem Bett, überprüfte ihr gemeinsames Forum und besuchte ihre Simulationen. Die Burg von Siegfried und Brunhilde stand leer, und keine Königin von Island erwartete ihn mit dem Schwert in der Hand. Auch in dem alten Rollenspiel mit der ägyptischen Königin und dem Ungeheuer hatte er kein Glück. Auf eine Enttäuschung vorbereitet klinkte er sich in die Simulation von England in der Renaissance ein – und stellte fest, dass er in eine Figur hineinschnellte.

Er begegnete ihr erneut.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm neben einem Thron an der Spitze des englischen Königshofes, während zu allen Seiten simulierte Höflinge umhergingen. Tom blieb vor ihr stehen. Die Anspannung ließ ihn am ganzen Körper verkrampfen. Er schaute an seiner Figur herunter, und die Simulation informierte ihn darüber, dass er Robert Devereux, Earl von Essex war. Als sich Medusa zu ihm umdrehte, wurde er nicht von einer hübschen, rothaarigen Prinzessin begrüßt, sondern von dem gealterten Gesicht der – wie ihn das Programm informierte – siebenundsechzigjährigen Queen Elizabeth I. Ihre Lippen kräuselten sich, und ihre kalten Augen glänzten dunkel und hart wie polierter Onyx.

Tom schloss seine Augen, während die Informationen in seinem Kopf herumwirbelten.

Der junge Earl of Essex umschmeichelte und poussierte mit der viel älteren Königin Elizabeth. Er nutzte ihre Zuneigung aus und betrog sie. Als er ihre Gunst allmählich verlor, ging er gegen ihre Wachen an und stürmte verzweifelt in ihr Gemach. Dort platzte er herein, bevor sie für den Tag zurechtgemacht worden war – und erblickte ihr gealtertes Gesicht, ihr weißes Haar ohne Perücke. Augenblicklich zerschellte jedwede geheuchelte Liebelei zwischen ihnen beiden. Kurz danach ließ sie ihn enthaupten.

Sie musste es bearbeitet haben. Es war zu pointiert. Tom öffnete die Augen wieder und blickte sie entschlossen an. »Ich muss mit dir reden.«

»Was könntest du mir noch zu sagen haben?« Ihre Stimme klang kalt.

Er hatte sich darauf vorbereitet. Er wackelte mit den Fingern und griff auf eine Bilddatei zu, die aus der Datenbank des Turms stammte. Sein Avatar Earl of Essex verschwand und wurde augenblicklich durch eine andere Gestalt ersetzt, nämlich der von Tom Raines, als dieser zum ersten Mal in den Turm ging. Der zu kurz geratene schmächtige Junge mit furchtbarer Akne, stumpfem Haar und gebeugter Haltung. Als dieser Kerl stand Tom nun da. Er war wieder jener Mensch, von dem er sich geschworen hatte, ihn ihr nie zu zeigen. Dann breitete er die Arme weit aus, damit sie ihn sehen konnte in dieser ganzen … tja, in diesem völligen Mangel an Großartigkeit.

»Das bin ich. Okay?«

»Das bist nicht du.« Medusa winkte mit Elizabeths verschrumpelter Hand, und nun änderte ihre eigene Erscheinung die Gestalt. Ein Junge, den Tom fast nicht erkannt hätte, stand an ihrer Stelle.

Der Junge war er. Tom, wie er jetzt war. Ein hochgewachsener Kerl mit reiner Haut und blauen Augen, der in einer selbstsicheren, von einem Neuronalprozessor gesteuerten Pose dastand, dessen Muskeln sich während der Fitnessübungen gestählt hatten und dessen Selbstbewusstsein aus jeder Pore seines Gesichts strahlte.

Tom starrte auf sein anderes Ich und kam sich dabei vor, als würde er einen Fremden betrachten. »Wann hast du mich gesehen?«

»Ich habe einen kurzen Blick auf dich durch die Überwachungskameras im Beringer Club erhascht.«

Die Bemerkung führte dazu, dass Tom sie mit hochgezogenen Brauen anschaute: Sie musste die Ironie erkannt haben, die darin lag.

»Ja, ich bin scheinheilig. Das ändert aber nichts.« Medusa sank wieder auf ihren Thron. »Das kannst du nicht tun. Du kannst nicht so etwas abziehen, dich so grausam verhalten und dann hierherkommen und einen auf nett machen.«

»Ich will es einfach in Ordnung bringen.«

»Dann lass mich dich hassen.«

Ihm war, als hätte er einen Schlag abbekommen. »Hasst du mich jetzt?«

Medusa hob einen Finger, und Tom sah sich nun als sein neueres Ich dastehen. Sie selbst verwandelte sich in das Mädchen, das er flüchtig gesehen hatte, und er kämpfte gegen das Verlangen an wegzuschauen. Auch gegen das Verlangen hinzustarren, kämpfte er an. Er war gefesselt von diesen Augen, die aus ihrem zerstörten Gesicht auf ihn blickten. Er konnte sich nicht vorstellen, so zu leben. Wie ein Monster.

»Hast du nie versucht, du weißt schon …« – er platzte mit dem Rest heraus – »… dich operieren zu lassen?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, und sie sah nur zu, wie er sich wand. »Acht Operationen. Fünf Hauttransplantationen, zwei Gesichtstransplantationen. Nach der Neuronaltransplantation war ich am Ende. Ich hatte genug. Es ging mir gut, bis du gekommen bist. Bis du mich hast glauben lassen, ich könnte ein normaler Mensch sein.«

»Es tut mir leid.« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.

Medusa zuckte mit den Schultern. »Ich kann es dir nicht übel nehmen.« Dann setzte sie sich in Bewegung und hielt auf eine Tür zu, die in der gegenüberliegenden Wand verborgen war. Wenn sie erst einmal durch diese Tür gegangen war, das sagte ihm sein Bauchgefühl, würde er sie nie wiedersehen.

Er trat einen schnellen Schritt auf sie zu. »Ich musste gewinnen. Ich musste einfach. Sie haben mich für einen Verräter gehalten, deswegen musste ich gewinnen, sonst hätten sie mir meinen Neuronalprozessor entfernt, und ich wäre ins Gefängnis gekommen, okay? Komm schon! Es ist … es ist ja nicht so, als hätte ich dich bitten können, für mich zu verlieren!«

Mit schimmernden Augen schaute sie sich zu ihm um. »Vielleicht hätte ich es ja getan.«

Ihm schnürte es die Kehle zu. »Das hättest du nicht.« So etwas tat man nicht. Nein, das tat man nicht.

»Das wirst du jetzt wohl nie mehr herausfinden. Bloß eine kleine Warnung, Mordred: In der nächsten Schlacht werde ich dich so fertigmachen, dass ich in deinen Augen hinterher hübsch aussehen werde.«

Toms Unbehagen verflüchtigte sich. Diese Bemerkung beinhaltete ein Versprechen, auch wenn sie es vielleicht als Drohung gemeint hatte: Sie würden sich erneut begegnen.

Er spürte, dass sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen. Er würde die Herausforderung annehmen und es darauf ankommen lassen. »Versuch es nur.«

Medusas Lippen teilten sich zu dem für sie so typischen herausfordernden Lächeln. Einen kleinen Moment lang erkannte er sie irgendwie, erkannte sie auf einer tieferen Ebene, genau wie er sie hinter dem Gesicht von Brunhilde, dem Helm von Achilles oder in diesem im All manövrierenden Schiff erkannt hatte. Dann löste sich ihre Figur auf. Die Simulation ließ alles um ihn herum schwarz werden. Tom zog das Neuronalkabel heraus. Medusas gefährliches Lächeln ging ihm nicht aus dem Sinn.

In diesem Augenblick hämmerte jemand gegen die Tür, und dann drängten sich Vik, Yuri und Wyatt herein.

»Komm, Mann, wir verhungern schon«, sagte Vik. »Ich schätze mal, es kann sich nur noch um Minuten handeln, bevor wir hier jemand kannibalenmäßig anfallen.«

»Das stimmt.« Yuri klopfte auf Toms Bett. »Und das werde nicht ich sein. Ich gebe das Essen aus.«

Vik nickte. »Und Wyatt kann es auch nicht sein, denn wenn wir ein Mädchen töten und essen, wären wir ja echte Arschlöcher. Auch ich werde es nicht sein, da diese ganze Nummer hier meine Idee war. Bleibst also nur noch du, Tom. Tod durch indo-russische Kannibalen. Beamer fände das toll.«

»Indo-russisch?«, fragte Wyatt. »Oh. Also bekomme ich jetzt nichts zu essen, ist es das?«

Vik warf verzweifelt die Hände in die Luft. »Jetzt komm schon, Enslow. Was glaubst du eigentlich? Natürlich darfst du Tom mit uns verspachteln. Tod durch amerikanisch-indisch-russische Kannibalen hört sich einfach zu langatmig an.«

Tom erwiderte ihr erwartungsvolles Grinsen. Vor einem Jahr hätte er im Traum nicht damit gerechnet, eine Zukunft zu haben. Nie hätte er damit gerechnet, Freunde zu finden.

Und mit Sicherheit hätte er nie damit gerechnet, jemandem einmal sagen zu müssen: »Also schön, legt mich nicht um und verspachtelt mich auch nicht, okay? Ich bin so weit und komme mit.«