1
Katoteros
Der Tod war stets gegenwärtig in diesem Reich, das fernab menschlicher Welten existierte. Hier stellte er keine Bedrohung dar; hier war seine natürliche Umgebung. Als Alexion von Katoteros hatte er sich schon vor langer Zeit an seine ständige Anwesenheit gewöhnt. An den Anblick, die Geräusche, den Geruch und den Geschmack des Todes.
Alles Sterbliche fand irgendwann sein Ende.
Alexion selbst war sogar zweimal gestorben und in seinem derzeitigen Daseinszustand wiedergeboren worden. Doch als er nun in den unheimlichen roten Dunst der sfora starrte – eine antike atlantäische Kugel, die den Blick in die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit gewährte – , spürte er eine ungewohnte Gefühlsregung in seinem Innern. Die arme Frau. Ihr Leben war so kurz gewesen. Niemand verdiente es, durch die Hand von Daimons zu sterben, die den Menschen ihre Seele raubten, um ihr eigenes kurzes Leben damit künstlich zu verlängern. Und ein Mensch verdiente es erst recht nicht, durch die Hand der Dark Hunter zu sterben, die einzig und allein erschaffen worden waren, um die Daimons zu töten, ehe die gestohlenen Seelen unwiderruflich aus dem Universum verschwanden.
Es war die Aufgabe der Dark Hunter, Leben zu beschützen, und nicht, es den Menschen zu nehmen.
Alexion saß im düsteren Licht seines Zimmers und wünschte, er könnte wütend über den Tod des Mädchens sein. Empört.
Doch er fühlte nichts. Wie gewöhnlich. In ihm gab es nichts als kalte, abscheuliche Logik ohne jegliche Gefühlsregung. Er konnte das Leben nur von außen betrachten, doch er würde niemals ein Teil davon sein.
Die Zeit würde vergehen, und nichts würde sich je verändern.
Doch ihr Tod war ein Katalysator für etwas Größeres, Wichtigeres. Durch sein Handeln hatte Marco sein Verderben eingeläutet, ebenso wie das Mädchen, als es beschlossen hatte, so lange in der Bibliothek zu bleiben.
Und so wie sie würde auch Marco seinen Tod erst kommen sehen, wenn es zu spät war, ihn noch zu verhindern.
Alexion schüttelte den Kopf, als ihm die Ironie bewusst wurde. Es war an der Zeit, sich in die Dimension der Lebenden versetzen zu lassen und ein weiteres Mal seine Pflicht zu erfüllen. Marco und Kyros versuchten, die Dark Hunter um sich zu scharen und sie für ihre Zwecke zu benutzen. Und sie würden erst damit aufhören, wenn er sie dazu zwang.
Ihr Plan bestand darin, sich gegen Acheron und Artemis aufzulehnen, und Alexions Aufgabe bestand darin, jeden zu töten, der sich uneinsichtig und ungehorsam zeigte.
Er erhob sich und trat von der Kugel fort, worauf sich die Bilder an der Wand veränderten. Marco und die Daimons verschwanden.
Und an ihrer Stelle war sie zu sehen.
Alexion blieb stehen und sah zu, wie die französische Dark Hunterin unweit ihres Hauses in Tupelo gegen eine Horde Daimons kämpfte. Behände wich sie den Angriffen der Daimons aus, die sie zu töten versuchten. Ihre Bewegungen waren elegant und geschmeidig, wie ein wilder, ungezügelter Tanz.
Sie lachte ihnen trotzig ins Gesicht, und für den Bruchteil einer Sekunde gelang es ihm beinahe, ihre Leidenschaft nachzuempfinden. Ihre Überzeugung. Sie lebte ihr Leben mit einer solchen Hingabe, dass ihre Gefühle die Dimensionen überwanden, die sie trennten, und beinahe so etwas wie Wärme in ihm auslösten.
Er schloss die Augen und gab sich einen Moment lang dem Anflug menschlicher Regungen hin.
Ihr Name war Danger, und sie hatte etwas an sich, das sein Innerstes berührte.
Und aus einem Grund, den er nicht ganz verstand, wollte er sie nicht sterben sehen.
Aber das war idiotisch. Schließlich gab es nichts, was Alexion von Katoteros’ Herz berühren konnte.
Trotzdem hallte Acherons Stimme in seinem Kopf wider.
Manche von ihnen konnten gerettet werden, und genau auf sie sollte er sein Augenmerk richten. So wollte es Acheron. Rette die, die du retten kannst, mein Bruder. Aber die Entscheidung liegt nicht bei dir allein. Lass sie ihr Schicksal selbst wählen. Für jene, die nicht hören wollen, kannst du nichts tun. Für die anderen hingegen sehr wohl …
Es ist die Mühe wert.
Durchaus möglich, doch die größte Sorge bereitete ihm die Tatsache, wie wenig es ihn in Wahrheit kümmerte, ob sie noch länger am Leben blieben oder nicht. Pflicht, Ehre, Existenz – das waren die Begriffe, mit denen er sich auskannte.
Und es fiel ihm täglich schwerer, gnädig zu sein. Nicht mehr lange, dann würde er sich weigern, ihnen überhaupt eine Wahl zu lassen. Das Ganze war ein Kinderspiel. Hingehen, sie bekämpfen und wieder zurückkehren.
Weshalb sollte er sich überhaupt die Mühe machen, jemanden zu retten, wo die Dark Hunter doch diejenigen waren, die durch ihr Verhalten unweigerlich auf die Verdammnis zusteuerten?
Nein, er war nicht wie Acheron. Die Grenzen seiner Geduld waren längst erreicht. Es kümmerte ihn nicht länger, was aus ihnen wurde.
Doch als er zusah, wie Danger den letzten Daimon niederstreckte, empfand er etwas. Nur ganz kurz. Es fühlte sich an, als krampfe sich sein Inneres für den Bruchteil einer Sekunde zusammen.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten hatte er das Bedürfnis, die Zukunft zu verändern – auch wenn er nicht wusste, weshalb. Aber weshalb sollte es ihn kümmern?
Er hob die Hände und verbannte die Bilder von seinen Wänden.
Dennoch sah er die Zukunft klar und deutlich vor sich. Wenn Danger so weitermachte, würden sie und ihre Freunde im Zuge der krisi – des Urteils, das Alexion schon bald vollziehen würde – unweigerlich sterben. Dangers Loyalität den Dark Huntern gegenüber wäre ihr Tod.
Doch sie war nicht die Einzige, die durch Alexions Hand sterben könnte. Alexion schloss die Augen und beschwor das Bild eines anderen Dark Hunters herauf.
Kyros.
Er war im Begriff, nicht nur sein eigenes Ende herbeizuführen, sondern auch das aller anderen.
Diesmal konnte Alexion den Schmerz in seinem Innern nicht anders deuten. Er kam so unerwartet, dass er zusammenzuckte. Es war der letzte Rest an Menschlichkeit, der ihm noch geblieben war, und Alexion war froh über dieses winzige Quäntchen.
Nein, er konnte nicht einfach dastehen und zusehen, wie jemand starb. Nicht solange er etwas dagegen unternehmen konnte.
Nichts ist unabänderlich. Im Handumdrehen kann alles ganz anders sein. Selbst wenn es ein sonniger, klarer Tag ist, kann die sanfteste Brise zu einem Hurrikan anwachsen, der alles zerstört, was ihm in die Quere kommt.
Wie oft hatte er diese Worte von Acheron gehört?
Alles steuerte unmittelbar auf eine Krise zu, und Alexion wünschte, er könnte ihr bevorstehendes Schicksal verändern.
Es war seltsam, nach all den Jahrhunderten der Empfindungslosigkeit auf einmal diese lebhaften Regungen zu spüren.
Es gibt immer Hoffnung.
Ja, ja, schon klar. Hoffnung – er hatte längst vergessen, wie sie sich anfühlte. Das Leben ging weiter. Die Menschen lebten ihr Leben. Der Tod existierte weiterhin. Tragödien. Erfolge. Alles kam und ging. Und nichts änderte sich.
Und doch fühlte es sich irgendwie anders an. Marco hatte sich auf die Seite der Daimons geschlagen und unterstützte sie. Er konnte nichts mehr für ihn tun. Und was noch viel schlimmer war – es gab bereits andere, die ihm folgten. Andere, die ihm und Kyros erlaubten, ihre Gedanken von der Wahrheit abzukehren. Die Dark Hunter von Northern Mississippi rotteten sich zusammen und erhoben sich gegen Acheron und Artemis.
Dem musste Einhalt geboten werden.
Entschlossen verließ er seinen Raum im südlichsten Teil von Acherons Palast und ging durch den vergoldeten Korridor, der von den prachtvoll ausgestatteten Räumen zum Thronsaal führte. Der schwarze Marmorboden fühlte sich unter seinen nackten Füßen kühl an. Wäre er noch ein Mensch, hätte er ihn sogar als unangenehm kalt empfunden. Doch in seiner Daseinsform nahm er die Temperatur zwar wahr, wertete sie jedoch weder als negativ noch als positiv. Dennoch schien ihm die Kälte durch sämtliche Glieder zu dringen.
Er trat vor die vier Meter hohe vergoldete Tür und öffnete sie. Acheron saß auf seinem Thron, während Simi, sein Dämon, sich in der hinteren Ecke des Raums bäuchlings vor dem Fernseher lümmelte und eine Sendung auf QVC, einem Teleshopping-Kanal, ansah.
Der Dämon, der in seiner menschlichen Gestalt eine Frau von Anfang zwanzig war, trug ein rotes Latexkleid, zu dem ihre Hörner farblich perfekt passten. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Vor ihr stand ein riesiger, halb leerer Eimer Popcorn.
»Akri? Wo ist meine Plastikkarte?«, fragte der Dämon.
Acheron trug wie üblich, wenn er zu Hause in Katoteros war, eine schwarze foremasta – einen langen, robenartigen Kasack, der vorn offen stand und den Blick auf seine nackte Brust und seine lederne Hose freigab. Das prachtvolle Hemd war aus schwerer Seide und auf dem Rücken mit einer goldenen, von drei silbernen Blitzen durchstoßenen Sonne bestickt – ein Emblem, das auch Alexions Schulter zierte.
Acherons langes schwarzes Haar hing ihm offen über die Schultern. Er saß auf dem vergoldeten Thron und spielte auf einer massiven schwarzen E-Gitarre. An der Wand neben ihm hingen mehrere Flachbildfernseher, in denen eine Folge Johnny Bravo lief.
»Keine Ahnung, Sim«, antwortete Acheron zerstreut. »Frag Alexion.«
Noch bevor Alexion vor Acherons Thron treten konnte, erschien der Dämon vor ihm. Simi schwebte in der Luft und schlug mit ihren breiten schwarzroten Flügeln, die ebenso wie ihre Hörner und ihre Augen die Farbe je nach Stimmung und Geschmack änderten. Auch ihre Haarfarbe änderte sich ständig, war jedoch mit Acheron verknüpft, so dass sie stets dieselbe war wie seine.
»Wo ist meine Plastikkarte, Lexie?«
Er bedachte sie mit einem geduldigen, aber strengen Blick. Als Acheron Simi vor neuntausend Jahren hergebracht hatte, war sie ein Kleinkind gewesen. Eine der Pflichten, die Acheron Alexion aufgetragen hatte, bestand darin, darauf zu achten, dass sie nicht in Schwierigkeiten geriet.
Was so gut wie unmöglich war.
Ganz zu schweigen davon, dass er sie ebenso nach Strich und Faden verwöhnte wie sein Boss. Auch er schien nicht anders zu können. Simi war so bezaubernd, dass sie alle für sich einnahm. Er liebte sie beinahe wie eine Tochter. Sie und Acheron waren die einzigen beiden Geschöpfe in all den Welten, in denen er unterwegs war, die noch so etwas wie menschliche Regungen in ihm auslösten. Er liebte sie beide und hätte jederzeit sein Leben für sie gegeben, um sie zu beschützen.
Doch als ihr »zweiter« Vater war er es ihr und dem Rest der Welt schuldig, ihr so etwas wie Mäßigung beizubringen.
»Du brauchst nichts zu kaufen, Simi.«
»Doch, ich muss«, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen.
»Nein«, beharrte er. »Musst du nicht. Du hat schon mehr als genug Schnickschnack zum Spielen.«
Schmollend starrte sie ihn aus ihren rotglühenden Augen an und schlug peitschend mit ihrem Schwanz auf den Boden. »Gib mir sofort meine Plastikkarte, Lexie! Sofort!«
»Nein.«
Mit einem Jaulen wandte sie sich zu Acheron um und flog zu seinem Thron. Sekunden später erschien QVC auf den Monitoren.
»Simi«, tadelte Acheron. »Ich habe mir gerade etwas angesehen.«
»Pfff, das war nur eine alberne Zeichentrickserie. Simi will diesen Diamonique, akri, und zwar auf der Stelle!«
Acheron warf Alexion einen genervten Blick zu. »Los, gib ihr ihre Kreditkarten.«
Alexion sah ihn scharf an. »Sie ist dermaßen verwöhnt. Sie muss endlich lernen, sich ein bisschen zusammenzureißen.«
Acheron hob eine Braue. »Und wie lange versuchst du schon, ihr das beizubringen, Alexion?«
Damit erübrigte sich jeder Kommentar. Manche Dinge waren nun einmal aussichtslos. Aber die Unsterblichkeit war so oft derart langweilig, dass es eine willkommene Abwechslung darstellte, Simi Manieren beizubringen. »Ich habe sie schließlich dazu gebracht, still vor dem Fernseher zu sitzen … na ja, halbwegs zumindest.«
Acheron verdrehte die Augen. »Ja, nach etwa fünftausend Jahren. Sie ist ein Dämon, Lex. Sie ist nicht für Zurückhaltung geschaffen.«
Ehe Alexion widersprechen konnte, schwebte die Schachtel, in der er Simis Kreditkarten aufbewahrte, direkt vor seine Nase.
»Ha!«, stieß Simi sichtlich entzückt hervor, schnappte sie und wiegte sie liebevoll in den Armen. Ihr Glücksgefühl erstarb jedoch schlagartig, als sie feststellte, dass die Schachtel verschlossen war. Sie starrte Alexion finster an. »Aufmachen!«
Ehe er etwas erwidern konnte, sprang die Schachtel auf.
»Danke, akri!«, rief Simi, schnappte die Karten und flog davon, um ihr Handy zu holen.
Alexion stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Ich fasse es nicht, dass du das getan hast.«
Auf den Bildschirmen erschien wieder der Cartoon. Acheron beugte sich vor und hielt dem winzigen Pterosaurier, der auf der Armlehne seines Throns saß, einladend sein Gitarrenplättchen hin. Das kleine orangefarbene drachenartige Geschöpf gab einen zwitschernden Laut von sich, ehe es das Plektrum auf einen Sitz verschlang. Alexion war nicht ganz sicher, woher das Drachenwesen stammte. Während der vergangenen neuntausend Jahre waren stets sechs von ihnen hier gewesen.
Alexion konnte noch nicht einmal sagen, ob es noch dieselben sechs waren. Er wusste nur, dass Acheron seine Haustiere liebte und sich hingebungsvoll um sie kümmerte, ebenso wie er selbst.
Acheron tätschelte den schuppigen Kopf des fröhlich singenden Tieres und wandte sich wieder seiner Gitarre zu.
»Ich weiß, warum du hier bist, Alexion«, sagte er, während ein frisches Plektrum in seiner Hand erschien und er einen Akkord anschlug. »Und die Antwort lautet nein.«
Alexion mimte ein Stirnrunzeln, das er nicht empfand. »Wieso?«
»Weil du ihnen nicht helfen kannst. Kyros hat schon vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen. Und nun muss er …«
»Unsinn!«
Acheron hielt mitten in der Bewegung inne und warf Alexion einen wütenden Blick zu. Das flirrende Silber seiner Augen färbte sich rot und warnte Alexion, dass die zerstörerische Seite von Acheron an die Oberfläche drang.
Doch Alexion ließ sich nicht beirren. Er stand lange genug in Acherons Diensten, um zu wissen, dass er ihn nicht wegen mangelnden Gehorsams töten würde. Zumindest nicht, wenn es sich um einen so kleinen Verstoß handelte. »Mir ist klar, dass du all das längst weißt, Boss. Aber du hast mir auch beigebracht, wie viel ein freier Wille wert ist. Mag sein, dass Kyros ein paar schlechte Entscheidungen getroffen hat, aber wenn ich als ich selbst zu ihm gehe, kann ich ihn vielleicht umstimmen.«
»Alexion …«
»Komm schon, akri, in über neuntausend Jahren habe ich dich noch nie um einen Gefallen gebeten. Kein einziges Mal. Aber ich kann ihn nicht einfach sterben lassen. Ich muss es wenigstens versuchen. Verstehst du das denn nicht? Wir waren zur selben Zeit Menschen. Wir waren Brüder im Geiste und im Kampf. Unsere Kinder haben miteinander gespielt. Er ist gestorben, als er versucht hat, mir das Leben zu retten. Ich bin ihm diese letzte Chance schuldig.«
Acheron stieß einen tiefen Seufzer aus und begann wieder zu spielen – »Every Rose Has Its Thorn«. Er sah auf. »Also gut. Dann geh. Aber sei dir darüber im Klaren, dass du für die Entscheidung, die er trifft, nicht verantwortlich bist. Bereits am Tag, als er erschaffen wurde, wusste ich, dass dieser Moment kommen würde. Seine Entscheidungen sind allein seine Sache. Du kannst nicht die Verantwortung für seine Fehler übernehmen.«
Alexion verstand voll und ganz. »Wie viel Zeit gibst du mir?«
»Du kennst die Grenzen deiner Existenz. Du hast zehn Tage, dann musst du wieder zurück sein. Und am Ende des Monats wirst du mein Urteil über sie vollstrecken.«
Alexion nickte. »Danke, akri.«
»Bedank dich nicht bei mir, Alexion. Es ist eine abscheuliche Aufgabe, die ich dir auferlege.«
»Ich weiß.«
Acheron hob den Kopf und sah ihn an. Diesmal war der Ausdruck in seinen flirrenden silbrigen Augen anders als sonst. Irgendetwas …
Er wusste nicht, was es war, doch er erschauderte unter Acherons Blick. »Was?«, fragte er.
»Nichts.« Acheron spielte weiter.
Alexions Magen zog sich vor Anspannung zusammen. Was wusste sein Boss? Was wollte er ihm vorenthalten?
»Ich kann es nicht ausstehen, wenn du mir etwas verschweigst.«
Acheron grinste nur schief. »Ich weiß.«
Alexion wandte sich zum Gehen, doch bevor er sich auf den Weg zu seinem Zimmer machen konnte, spürte er, wie er ins Straucheln geriet. In der einen Sekunde hatte er noch im Thronsaal in Katoteros gestanden, in der nächsten lag er mit dem Gesicht nach unten mitten auf einer kalten, dunklen Straße.
Schmerz zuckte durch seinen Körper und raubte ihm den Atem, während ihm der durchdringende Geruch des Asphalts in die Nase stieg.
In seinem Dasein als Schatten in Katoteros war er zu gewöhnlichen Empfindungen nicht imstande. Was er aß, hatte keinen Geschmack, und all seine Sinneswahrnehmungen waren eingeschränkt. Doch nun, da Acheron ihn in die Welt der Lebenden katapultiert hatte …
Au! Sein ganzer Körper schmerzte. Jeder Knochen in seinem Leib, seine Haut. Und am schlimmsten war der Schmerz seiner aufgeschlagenen Knie.
Alexion rollte herum und wartete darauf, dass sein Körper sich vollends verwandelte und er die Kontrolle über ihn wiedererlangte. Wann immer er auf die Erde kam, musste er diese kurze Phase hinter sich bringen und sich wieder daran gewöhnen, zu atmen und zu »leben«. Als seine Sinne wiedererwacht waren, registrierte er Geräusche, die darauf schließen ließen, dass irgendwo gekämpft wurde. Eine Schlacht?
Acheron hatte das schon mehr als einmal mit ihm gemacht. Manchmal war es einfacher, ihn mitten im Chaos auf die Erde kommen zu lassen. Doch hier sah es nicht nach einem Schlachtfeld aus. Sondern eher …
Nach einer Seitenstraße.
Alexion stemmte sich hoch und erstarrte. Sechs Daimons und ein Mensch kämpften in einem Hinterhof. Angestrengt spähte er ins Halbdunkel, doch sein Sehvermögen war noch nicht vollständig hergestellt.
»Okay, Boss«, sagte Alexion halblaut. »Wenn ich eine Brille brauche, dann kümmere dich darum, denn im Moment kann ich noch nicht mal einen Scheißhaufen richtig erkennen.«
Augenblicklich sah er glasklar. »Danke. Und das nächste Mal wäre es nett, wenn du mich kurz warnen würdest, bevor du mich einfach irgendwo hinwirfst.« Er strich mit der Hand seinen langen weißen Kaschmirmantel glatt. »Und noch was – könntest du mich nicht ausnahmsweise mal in einem Sessel oder einem Bett aufwachen lassen?«
Alles, was er hörte, war Acherons boshaftes Lachen, das in seinem Kopf widerhallte. Acheron und sein kranker Sinn für Humor. Er konnte ein ganz schöner Mistkerl sein. »Herzlichen Dank auch«, fügte Alexion mit einem genervten Seufzer hinzu.
Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Kampf zu. Bei dem Menschen handelte es sich um einen Mann von Mitte zwanzig, der bestenfalls einen Meter siebzig groß sein konnte. Als er sich zu ihm umwandte, erkannte Alexion ihn. Es war Keller Mallory, ein Dark Hunter Squire – sie waren dafür ausgebildet, den Dark Huntern zu helfen, ihre Identität vor der Menschheit geheim zu halten.
Squires sollten sich nicht mit Daimons anlegen, doch da sie von zentraler Bedeutung für die Dark Hunter waren, griffen die Daimons sie besonders häufig an.
Und offensichtlich war Keller heute Abend an der Reihe.
Alexion trat auf den Daimon zu, der sich Keller von hinten näherte, packte ihn und riss ihn von dem Squire weg.
»Lauf!«, rief Keller ihm zu.
Allem Anschein nach hielt Keller ihn für einen Menschen. Alexion trat nach einem Messer, das auf der Straße lag und in hohem Bogen direkt in seiner Faust landete. Er genoss die »Echtheit« des Kampfes und stürzte sich geradewegs auf den Daimon, der Sekunden später in einer goldenen Staubwolke explodierte. Das Messer landete klappernd auf dem Boden, doch Alexion hielt die Hand auf, worauf es augenblicklich in die Höhe flog und in seiner Faust landete.
Keller fuhr herum und starrte ihn mit offenem Mund an.
Die Ablenkung hatte ihren Preis – einer der Daimons stürzte sich von hinten auf Alexion und rammte ihm ein Messer zwischen die Schulterblätter. Angewidert verzog Alexion den Mund, als er spürte, wie sein Körper zerbarst. Er hasste es, wenn das passierte. Es war zwar nicht schmerzhaft, aber höchst unangenehm und nervtötend.
Sekunden später hatte sich sein Körper rematerialisiert.
Entsetzt wich Keller zurück.
Die Zeit der Spielchen war vorüber.
Die verbliebenen Daimons ergriffen panisch die Flucht, doch ihnen blieben nur wenige Augenblicke, ehe auch sie explodierten – mit dem Unterschied, dass sie ihre einstige Form nicht wieder zurückgewannen.
Noch immer verärgert über die Unannehmlichkeiten, die die Daimons ihm mit ihrem Angriff beschert hatten, strich Alexion sein Revers glatt.
Daimons … sie lernten es einfach nie.
Mit angstverzerrter Miene wich der Squire weiter zurück und starrte ihn an. »Was zum Teufel bist du?«
Alexion trat auf ihn zu und reichte ihm das Messer. »Ich bin Acherons Squire.« Was in gewisser Weise stimmte. Na gut, nicht ganz. Es war eine Lüge, aber Alexion hatte nicht die Absicht, jedem seine wahre Beziehung zu Acheron auf die Nase zu binden.
Nicht dass es eine Rolle spielen würde, denn Keller kaufte es ihm ohnehin nicht ab. »Nie im Leben. Jedes Kind weiß, dass Acheron keinen Squire hat.«
Ja, ja, schon klar. Selbst wenn alle Welt jede einzelne korrekte Information über Acheron zusammentragen würde, wäre es noch nicht einmal genug, um einen Fingerhut zu füllen. Alexion verkniff sich ein Lachen. Dieser Junge glaubte, er verstehe die Welt um sich herum, obwohl er in Wahrheit von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte.
»Offenbar irren sie sich, denn ich bin schließlich hier. Vom Oberboss höchstpersönlich geschickt.«
Der athletische junge Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Wieso bist du hier?«
»Deine Dark Hunterin, Danger, hat Acheron gerufen, und da er beschäftigt ist, hat er mich geschickt, damit ich mir anhöre, was sie zu sagen hat, und ihm dann Bericht erstatte. Also, hier bin ich. Oh, welch große Freude!«
Diese Erklärung schien Keller nicht gerade zu beruhigen, andererseits erreichte man das mit Sarkasmus ohnehin nur selten. Doch Alexion hatte eine ausgeprägte Schwäche für Sarkasmus. Was wahrscheinlich gut war, denn Sarkasmus war gewissermaßen Acherons Muttersprache.
»Und wie kann ich sicher sein, dass du nicht lügst?«, hakte Keller, noch immer argwöhnisch, nach.
Wieder zwang sich Alexion, nicht laut aufzulachen. Der Mann hatte Köpfchen. Alexion hatte gelogen. Acheron wusste ganz genau, was los war … zu jeder Zeit. Wahr war jedoch, dass sein Boss nicht höchstpersönlich erschien. Nicht solange ihm die ganzen Dark Hunter hier in der Gegend misstrauten. Sie würden ihm die Wahrheit auf keinen Fall abkaufen.
Wenn sie die richtige Entscheidung treffen und das Ganze überstehen wollten, mussten sie die Wahrheit aus dem Mund eines »unparteiischen« Dritten hören. Und das war der Grund, weshalb er hergekommen war. Er hatte sich vorgenommen, sie vor ihrer eigenen Dummheit zu retten.
Vorausgesetzt, sie waren nicht mit unrettbarer Dummheit geschlagen.
Alexion zog ein kleines Handy aus der Manteltasche. »Ruf Acheron an, und lass dir von ihm die Wahrheit bestätigen.«