2

»Ich sage die Wahrheit, Danger. Acheron wird uns alle töten. Wir wissen zu viel über ihn, deshalb wird er nicht dulden, dass wir am Leben bleiben.«

Dangereuse St. Richard stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Empfangssalon von Kyros’ Haus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg in Aberdeen, Mississippi. Sie und der griechische Dark Hunter waren noch nie die besten Freunde gewesen. Und heute Abend war sie schon gar nicht in der Stimmung für diesen Unsinn – nicht nach den Gerüchten, die ihr zu Ohren gekommen waren: Kyros sei ein skrupelloser Abtrünniger, der Daimons am Leben ließ. Das hatte sie früher an diesem Abend aus dem Mund eines Daimons gehört, bevor sie ihn in eine Staubwolke verwandelt hatte.

Sie hatte keinen Nerv für jemanden, der den Ehrenkodex der Dark Hunter mit Füßen trat.

Die einzige Aufgabe der Dark Hunter bestand darin, Daimons zu töten. Die Daimons waren die Kinder Apollos, die ihn beleidigt hatten und von ihm dazu verdammt worden waren, in der Finsternis zu leben und im Alter von siebenundzwanzig Jahren zu sterben. Entschlossen sich junge Apolliten vor diesem Tag, sich menschliche Seelen einzuverleiben, wurden sie zu unsterblichen Daimons. Doch für jeden Daimon, der lebte, mussten zahllose menschliche Seelen sterben.

Und sie weigerte sich, diese Tatsache hinzunehmen. Wenn sie Kyros hätte töten können, hätte sie es auf der Stelle getan. Doch als Dark Hunter einen anderen Dark Hunter zu töten, bedeutete den sofortigen Tod. Sie konnte ihn noch nicht einmal angreifen. Was sie ihm antat, würde sie in zehnmal schlimmerer Form selbst durchleben müssen.

Herzlichen Dank für diese wunderbare Gabe, Artemis.

Bis Acheron auf ihren Hilferuf reagierte, gab es nichts, womit sie Kyros von seinem wahnwitzigen Kreuzzug abhalten konnte.

Schlimmer noch. Sie spürte bereits, wie ihre eigenen Kräfte zu schwinden begannen, allein dadurch, dass sie sich im selben Raum aufhielt. Dark Hunter konnten nicht über einen längeren Zeitraum zusammen sein, ohne sich gegenseitig ihrer Kräfte zu berauben.

Der Salon war düster, und es roch ein wenig muffig. Eigentlich hätte er mit Antiquitäten möbliert sein sollen, anstelle der modernen Einrichtung, die in viel zu krassem Gegensatz zum neoklassizistischen Stil des Hauses stand. Die Wände waren in einem tiefen, satten Goldton gehalten, und die Decken zierten kunstvoll gearbeitete Stuckelemente. Die Böden aus Pinienholz waren zerschrammt und hätten dringend auf Vordermann gebracht werden sollen. Es war ungewöhnlich für einen Squire, dass er sich nicht besser um das Haus seines Dark Hunters kümmerte.

Doch darum ging es jetzt nicht. Sie hatte Wichtigeres mit Kyros zu besprechen als die Tatsache, dass er und sein Squire sich offenbar nicht über sein Arbeitsfeld einigen konnten.

»Okay, Kyros«, sagte sie langsam und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Acheron ist also ein Daimon, der es auf Menschen abgesehen hat, und wir wurden nur erschaffen, damit er einen Krieg mit seiner Mutter, der Daimon-Königin, führen kann, von der kein Dark Hunter je gehört hat, ja?«

Er schlug mit der flachen Hand auf die Platte des Kirschholzschreibtisches, hinter dem er saß. »Hör mir doch zu, verdammt noch mal! Ich bin über neuntausend Jahre alt. Ich war von Anfang an da – ich gehöre zu den ersten Dark Huntern, die erschaffen wurden – und erinnere mich noch gut an die Geschichten über Apollymi aus meiner Kindheit. Sie wurde die Zerstörerin genannt und war Atlantäerin … genau wie Acheron.«

Okay, dann war es eben ein Zufall. Zwei Atlantäer bildeten noch lange keine Familie. Sie selbst war ganz bestimmt nicht die einzige französische Dark Hunterin und auch nicht die Einzige, die aus der Ära der Französischen Revolution stammte, und trotzdem waren ihre Landsleute nicht einmal um mehrere Ecken mit ihr verwandt.

Kyros würde erheblich mehr Beweise brauchen, wenn er sie überzeugen wollte, dass Acheron der Sohn der atlantäischen Götterkönigin war.

Sie warf ihm einen gelangweilten Blick zu. »Und diese atlantäische Zerstörerin führt nun die Daimons an und schickt sie in den Kampf gegen Acheron, der uns und die Menschen nur als Kanonenfutter benutzt, um seine eigene Haut zu retten? Also ehrlich, Kyros, leg mal die Crackpeife weg, oder fang an, Märchenbücher zu schreiben.« Sie beugte sich vor. »Ich wette, du weißt sogar, wer hinter der Kennedy-Ermordung steckt, hm? Und mit dem Lösegeld, das D.B. Cooper sich damals bei der Flugzeugentführung unter den Nagel gerissen hat, hast du dir deine superschicke Einrichtung finanziert«, fügte sie in gespielt verschwörerischem Flüsterton hinzu.

Er sprang auf und trat drohend auf sie zu. »Hör auf, mich so von oben herab zu behandeln. Ich weiß, dass ich recht habe. Hast du Acheron schon mal etwas essen sehen? Wir alle wissen, dass er größere Macht besitzt als wir anderen. Hast du dich nie gefragt, weshalb das so ist?«

Darüber brauchte sie gar nicht erst nachzudenken. »Er ist der Älteste von uns und setzt seine Kräfte einfach schon länger ein als wir. Du kennst ja das Sprichwort: Übung macht den Meister. Dieser Mann hat jede Menge Übung. Und was das Essen angeht – ich habe mich nie lange genug in seiner Nähe aufgehalten, um das beurteilen zu können.«

»Mag sein, aber ich habe mich vor vielen Jahren ziemlich lange in seiner Nähe aufgehalten, und während Brax und ich regelmäßig etwas essen mussten, brauchte er nie etwas. Nach unserer Erschaffung hat Acheron diese Schwachsinnsregeln für uns aufgestellt, denen wir alle seit Jahrtausenden folgen, ohne sie oder Acheron jemals infrage zu stellen. Es ist höchste Zeit, dass wir unser Hirn einschalten und selbst denken.«

Sie gab ein sarkastisches Schnauben von sich. »Und wem hast du diese spontane Wahnsinnserleuchtung zu verdanken?«

Kyros lachte, während ein bösartiger Ausdruck in seinen Augen erschien. »Willst du das wirklich wissen?«

»Pourquoi pas? Wieso nicht?«

»Stryker!«

Danger runzelte die Stirn. Sekunden später erhellte ein so gleißender Blitz den Raum, dass sie den Blick abwenden musste, um ihre empfindlichen Dark-Hunter-Augen zu schützen. Doch zugleich spürte sie, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, als der Daimon im Raum erschien. Sie sog scharf den Atem ein und zog ihr Messer aus dem Stiefel.

Kyros packte ihren Arm. »Nein. Nicht!«

Die Geste verstärkte ihre Wut nur noch. »Du lädst einen dreckigen Daimon in dein Haus ein?«

Die Frage war kaum über ihre Lippen gekommen, als das Gefühl der Bedrohung bereits verebbte. Der Neuankömmling stand zwar noch immer vor ihr, doch er verströmte nicht mehr die Aura, die einen Dark Hunter vor der Gegenwart eines Daimons warnte.

Trotzdem beschlich Danger beim Anblick des Fremden ein mulmiges Gefühl. Wie Acheron war er mindestens einen Meter neunzig groß. Sein langes schwarzes Haar hing ihm über die Schultern, und er trug eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern, die seine Augen vollständig verbarg.

»Was ist hier los?«, fragte sie Kyros.

Kyros löste seinen Griff. »Ja. Ich habe es anfangs auch nicht geglaubt. Aber er kann den Daimon in sich verbergen, so dass wir seine Gegenwart nicht wahrnehmen.«

»Wie soll das funktionieren?«, fragte sie.

Der Daimon lachte und entblößte dabei seine Vampirzähne. »Das ist Veranlagung. Meine Mutter beherrscht es ebenso wie mein Bruder und ich.«

Sie starrte die beiden Männer finster an. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wovon sie sprachen.

Bis er die Sonnenbrille abnahm und sie das flirrende Silber seiner Iris sah, das sie nur von einem einzigen Mann kannte …

Acheron Parthenopaeus.

»Er ist Acherons Bruder«, erklärte Kyros, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Und er hat mir eine Menge über unseren furchtlosen Anführer erzählt, bei der mir ganz anders wurde. Acheron ist nicht der oder das, wofür du ihn hältst, und wir auch nicht.«

»Wie hast du das gemacht, dass die Daimons auf einmal explodiert sind?«

Alexion saß neben dem Squire, der ihn zu Danger fuhr, und zuckte unter dem Kugelhagel aus Fragen und Kommentaren des Squire zusammen. Dieser Mann besaß lediglich drei Sprechgeschwindigkeiten: schnell, schneller und den »Halt’s Maul, bevor mir der Schädel explodiert, weil ich versuche, dir zu folgen«-Modus. Dabei hatte man Alexion immer erzählt, die Südstaatler zeichneten sich durch ihre langsame, butterweiche Sprechweise aus.

Das schien ein Mythos zu sein.

Seit seiner Zeit als Mensch hatte er nicht mehr unter Kopfschmerzen gelitten, doch nun spürte er zum ersten Mal seit neuntausend Jahren das verräterische Pochen hinter den Schläfen.

Doch Keller plapperte immer weiter wie ein nervtötendes Kleinkind und wurde sogar noch schneller. »He, du hast meine Frage nicht beantwortet, aber ich muss es unbedingt wissen. Denn wenn wir alle die Gabe hätten, die Daimons mittels Gedanken in einer Staubwolke aufgehen zu lassen, wäre uns enorm geholfen. Kannst du dir das vorstellen, ein Blick, und puff – sind sie tot! Du musst mir unbedingt verraten, wie das geht. Los, komm schon. Ich muss es wissen, sonst platze ich.«

Alexion biss die Zähne zusammen. »Betriebsgeheimnis«, sagte er schließlich.

»Ja, aber, ich meine, ich bin doch in derselben Branche. Squires müssen auch Bescheid wissen. Wir sind schließlich nicht unsterblich, deshalb sollten wir wohl als Erste erfahren, wie so etwas geht, oder? Los, raus mit der Sprache. Verrat mir, wie du das angestellt hast.«

Alexion sah ihn an. »Ich würde es dir ja zeigen, aber wenn du die Gabe einsetzt, würde es dich umbringen«, warnte er.

Keine ganz üble Idee, wo er so darüber nachdachte …

Er öffnete den Mund.

»Nicht!«

Alexion stieß ein Knurren aus, als Acherons Stimme in seinem Kopf widerhallte. »Entweder du ziehst das hier selbst durch, oder du hältst dich aus meinem Kopf fern.«

»Gut, dann mach allein weiter. Ich bin raus. Ich werde jetzt eine Partie Solitaire spielen oder so.«

Ja, klar. Acheron und Karten spielen. Als hätte er für so etwas Zeit.

Keller lenkte den dunkelgrünen Mercury Mountaineer in die Auffahrt eines kleinen Anwesens im Nordwesten von Tupelo, Dangereuses Einsatzgebiet, wo sie seit rund fünfzig Jahren ihrer Tätigkeit nachging. Ihr Haus war im Stil eines französischen Schlösschens errichtet worden und hatte einen Garten, der sich links vom Haus erstreckte.

Keller drückte auf einen Knopf, worauf das Garagentor aufglitt. »Gut, dann eben nicht. Behalt es für dich, aber sollte ich irgendwann getötet werden, dann werde ich dir tüchtig auf den Pelz rücken, weil du mir den Kniff nicht verraten hast, als du noch die Gelegenheit hattest, mich zu retten. Das ist einfach nicht in Ordnung, finde ich. Absolut nicht.« Er manövrierte den Geländewagen in die Garage, ehe sich das Tor hinter ihnen schloss.

Obwohl die Garage Platz für drei Fahrzeuge bot, war kein weiterer Wagen zu sehen. Alexion war davon ausgegangen, dass Danger inzwischen zurückgekehrt war. »Wo ist deine Herrin heute?«

»Keine Ahnung. Sie ist eine Stunde nach Sonnenuntergang losgefahren, und seither habe ich nichts von ihr gehört. Allerdings wünschte ich, sie wäre hier gewesen, um sich diese Daimons vorzuknöpfen. Ich meine, bevor du aufgetaucht bist, dachte ich, das wär’s für mich gewesen. Und wo wir gerade beim Thema auftauchen sind – wie hast du das eigentlich gemacht? Woher bist du gekommen? Da muss es doch irgendeinen Trick geben.«

Alexion stieg langsam aus dem Wagen und sah sich um. Er hatte ihr Haus nur ein oder zwei Mal in der sfora gesehen, doch in natura sah alles ein wenig anders aus als in dem dunstigen Zerrbild seiner Kugel.

»Hallo?« Keller kam um den Wagen herum und schnippte mit den Fingern vor Alexions Nase. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Wie bist du ohne eigenen Wagen nach Tupelo gekommen?«

»Ich habe spezielle Begabungen.«

»Bist du einer von denen, die Teleportation beherrschen?«

Alexion holte tief Luft und bemühte sich, nicht die Geduld zu verlieren – nicht gerade seine größte Stärke in seinem neuen Körper. Dies war das Schwierigste an der krisi – dem Vollzug von Acherons Urteil – und der Rückkehr auf die Erde. Er war nicht an all diese grellen Farben, die Geräusche und Gefühle gewöhnt, denen ein echter Körper ausgesetzt war. Es gab Zeiten, in denen er sich wie ein überstimuliertes Kind vorkam – wenn auch eines mit der Gabe, eine ganze Stadt dem Erdboden gleichzumachen, wenn er nur wütend genug war.

Keller war noch nervtötender und neugieriger als Simi an ihren schlimmsten Tagen. Und das war eine ziemlich reife Leistung. »Bitte keine weiteren Fragen mehr, Keller. Ich muss dich sonst nur belügen, und ich will mir den Stress nicht antun, mir merken zu müssen, was ich dir worüber erzählt habe.«

Schnaubend führte Keller ihn in das im zeitgenössischen Retro-Stil gehaltene Haus. Durch einen kleinen Vorraum gelangte man in eine in dunklem Purpur gestrichene Küche.

Keller ließ die Schlüssel in einen Korb auf der Arbeitsplatte fallen. »Wieso willst du mich denn anlügen?«

»Es ist keine Frage des Wollens«, antwortete Alexion, »und genau deshalb bitte ich dich, mich nicht weiter zu bombardieren.«

Wieder stieß der Squire ein Schnauben aus. »Hast du Hunger? Darf ich dir etwas zu essen oder zu trinken anbieten?«

Alexion seufzte. Keller hatte die lästige Angewohnheit, jede Frage mindestens zweimal zu stellen.

»Nein.« Er sah sich in der Küche um. Er hatte eine Menge Arbeit vor sich, und wenn es nach ihm ginge, sollte Danger möglichst schnell zurückkehren, damit er anfangen konnte. Kyros ging bereits nach der Dark-Hunter-Strategie vor, die sie in der Vergangenheit bei anderen beobachtet hatten, die sich Acheron nicht länger unterordnen wollten. Vor etwa einer Woche hatte er die Dark Hunter zu sich gerufen und sie in seinem Haus in Aberdeen, Mississippi, versammelt, um ihnen seine Überzeugung nahezubringen.

Es war der übliche Kreis. Im Lauf der Jahrhunderte fand eine ganze Reihe von Dark Huntern die wahre Liebe und ließ sich von ihrem Dienst für Artemis befreien. Es war unvermeidlich, dass einer der älteren verbleibenden Dark Hunter glaubte, er hätte das Geheimnis gelüftet, weshalb sie die Freiheit suchten, und jedes Mal wurde Acheron unterstellt, er sei derjenige, der sie hinters Licht führe. Eifersucht und Langeweile waren eine tödliche Mischung, die die bizarrsten Fantasien heraufbeschwor.

Und jedes Mal wurde Alexion auf die Erde geschickt, um die Abtrünnigen entweder auf den rechten Pfad zurückzuführen oder sie zu töten.

Anfangs war er sich jedes Mal wie ein Verräter vorgekommen, wenn er in menschlicher Gestalt in diese Welt kam, auch wenn ihm die Notwendigkeit seines Einsatzes durchaus einleuchtete. Die Ordnung musste um jeden Preis aufrechterhalten werden. Die Dark Hunter hatten eine viel zu große Macht über die Menschheit, als dass man ihnen gestatten konnte, sie zu missbrauchen.

Diesmal jedoch … Diesmal war es anders. Er spürte es tief in seinem Innern, und es lag nicht nur daran, dass Kyros in das Komplott verstrickt war. Hier ging es noch um etwas anderes.

Etwas Böses.

Keller quasselte immer noch auf ihn ein, doch Alexion hörte gar nicht hin. Er hatte andere Dinge im Kopf. Er betrat das Wohnzimmer und blieb stehen, als sein Blick auf ein altes Gemälde über dem Kamin fiel. Es war das Porträt eines älteren Mannes, einer jüngeren Frau und zweier Kinder – ein Junge und ein kleines Mädchen im Säuglingsalter. Es zeigte die Familie in einem Garten, der dem ähnelte, der zu diesem Haus gehörte. Das Porträt stammte allem Anschein nach aus dem späten achtzehnten Jahrhundert.

Es musste sich um Dangers Familie handeln.

Dangereuse war während der Französischen Revolution zur Dark Hunterin geworden. Ihr Ehemann hatte ihre ganze adlige Familie an das Revolutionstribunal verraten. Sie hatte noch versucht, sie aus Paris herauszuschmuggeln und nach Deutschland zu bringen, doch am Ende hatte man sie alle geschnappt. Er erschauderte beim Gedanken an das Schicksal, das ihnen widerfahren war.

»Was willst du morgen anziehen?«, fragte Keller und trat vor ihn. »Du hast doch gar keine Sachen, oder?«

Alexion hob eine Braue und sah vielsagend an sich hinunter.

»Ich rede von Kleidern zum Wechseln«, blaffte Keller ihn an. »Meine Güte, hör doch mit dieser Haarspalterei auf.«

Alexion sah dem Squire in die Augen. Keller war ein schräger Vogel, aber dennoch liebenswert. Zumindest für eine Nervensäge. »Sie werden geliefert.«

»Von wem? Hast du einen eigenen Squire oder so? Na, das wäre doch ein Ding, was? Ein Squire für einen Squire.«

Alexions Mundwinkel hob sich beim Gedanken an Simi, die ständig irgendwelche Sachen anschleppte, weil sie dachte, er könne sie brauchen oder hätte sie gern. »Ich habe alles, was ich brauche, danke.«

Keller musterte ihn stirnrunzelnd. »Okay. Ich zeige dir jetzt das Zimmer, wo du schlafen kannst. Es ist sehr hübsch. Acheron hat ein paarmal dort übernachtet, aber er war schon eine ganze Weile nicht mehr hier zu Besuch. Na ja, ich geb’s ja zu, ich bin ihm noch nie persönlich begegnet, aber ich weiß von Danger, dass er schon mehrere Male hier war. Ich glaube, das letzte Mal war, bevor ich geboren wurde. Vielleicht aber auch nicht. Manchmal komme ich mit Dangers Geschichten ein bisschen durcheinander. Geht dir das mit Acheron auch so? Ich wette, er hat massenhaft Geschichten auf Lager, schließlich ist er ja steinalt. Sein Haus muss echt cool sein, oder?«

Alexion verdrehte die Augen und massierte sich mit dem Daumen die Schläfe, während Keller weiter auf ihn einplapperte.

Sie verließen das Wohnzimmer und gingen zur Treppe, als Alexion ein feiner Magnolienduft in die Nase stieg. Darunter mischte sich noch etwas anderes … etwas eindeutig Feminines. Es musste der Duft der Dark Hunterin sein. Sein Körper reagierte augenblicklich darauf.

Unvermittelt spürte er ein heftiges Verlangen. In seinem Heim in Katoteros gab es niemanden, mit dem er Sex haben konnte. Es gab nur endlose einsame Nächte, die ihn hart und unbefriedigt zurückließen. Der einzige Vorteil seiner Missionen in dieser Welt bestand darin, dass ihm am Ende üblicherweise ein oder zwei Tage blieben, um sich eine Frau zu suchen und das tief sitzende Verlangen zu befriedigen.

Du hast im Moment Wichtigeres zu tun, als darüber nachzudenken, mit irgendeiner Frau im Bett zu landen.

Leider war das Theorie, und zwar eine, der er angesichts seiner pochenden Erektion definitiv widersprechen würde.

»Wie lange stehst du schon in Dangereuses Diensten?«, fragte er den Squire. Es war ungewöhnlich, dass eine Frau einen männlichen Squire zugewiesen bekam. Normalerweise verboten die Menschen, die den Sprung in den Rat der Squire geschafft hatten, einem Squire den Dienst bei einem Dark Hunter, wenn die Gefahr bestand, er könnte sich sexuell zu seinem Dienstherrn oder seiner -herrin hingezogen fühlen. Da die Beziehung zwischen Dark Hunter und Squire auf einer rein platonischen Ebene ablaufen sollte, versuchte der Rat stets, einem Dark Hunter einen Squire zuzuweisen, der dem genauen Gegenteil dessen entsprach, was er oder sie sexuell anziehend fand.

Was die Frage aufwarf, ob Dangereuse sich vielleicht sogar zu Frauen hingezogen fühlte.

»Seit etwa drei Jahren. Mein Dad ist der derzeitige Squire von Maxx Campbell drüben in Schottland, und nach dem College dachte ich, es wäre vielleicht ganz nett, ins Familiengeschäft einzusteigen.«

Alexion nickte.

Keller fuhr ohne Unterbrechung fort. »Ich wünschte, ich wäre dort aufgewachsen, aber leider war mein Vater damals in Little Rock stationiert, wo er einem Dark Hunter namens Viktor Russenko diente, der vor ein paar Jahren getötet wurde. Kanntest du ihn?«

»Ja.«

»Eine echte Schande, was sie mit ihn angestellt haben. Eine Handvoll Daimons hat ihn erwischt und zu Tode getrampelt. Der arme Kerl. Er hat keine Chance gehabt. Es war ein echt tragischer Vorfall, deshalb hielt es der Rat für klüger, meinem Vater einen Tapetenwechsel zu verordnen. Ich denke, Schottland ist ideal für ihn. Maxx ist offenbar ein ziemlich cooler Dark Hunter. Kennst du ihn auch?«

Alexion nickte. Er kannte den Highlander Dark Hunter, der vor kurzem von London nach Glasgow versetzt worden war. »Und wie gefällt es deinem Vater dort drüben?«

»Ganz gut. Trotzdem hat er Heimweh. Die reden so lustig dort, und viele verstehen seinen Akzent nicht. Er klingt eben wie ein echter Südstaatler.«

Das sagte ja der Richtige.

Keller quasselte unaufhörlich weiter, während er Alexion die Treppe hinauf in ein mittelgroßes Schlafzimmer mit angrenzendem Badezimmer führte. Alexion legte den Kopf schief, als ihn ein eigentümliches Gefühl überkam. Es war, als hätte ihn etwas Kaltes, fast Unheimliches berührt. Etwas, das er nicht genau benennen konnte.

Wüsste er es nicht besser, hätte er glatt gesagt …

»Acheron?« Im Geiste rief er den Namen seines Bosses in die Unendlichkeit.

Keine Antwort.

So schnell, wie die Empfindung gekommen war, verflog sie auch wieder.

Sehr merkwürdig …