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Danger wusste nicht, was sie denken sollte, als sie den Heimweg von Aberdeen nach Tupelo antrat. Sie war viel zu lange bei Kyros geblieben und spürte, dass ihre Kräfte stärker nachgelassen hatten, als sie es hätte zulassen sollen. Sie fühlte sich schwach und kränklich und hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als sich hinzulegen und sich eine ausgiebige Ruhepause zu gönnen.

Am allermeisten wünschte sie sich jedoch, über alles, was sie an diesem Abend erfahren hatte, in Ruhe nachdenken zu können. Offen gestanden hatte Stryker ein paar ziemlich überzeugende Argumente vorgebracht.

»Man hat euch alle im Glauben herangezogen, Daimons seien böse und auf der Jagd nach Menschen. Tja, hier kommt eine große Neuigkeit – nicht wir sind diejenigen, die im Unrecht sind, sondern Acheron«, hatte er argumentiert. »Er wurde aus unserem Reich Kalosis vertrieben, weil nicht einmal unsere Mutter seine blutrünstigen Morde mehr mit ansehen konnte. Deshalb benutzt er euch, um uns zu töten. Er will sich an uns rächen. Eure Kräfte schwinden, wenn ihr längere Zeit zusammen seid, weil Acheron euch eure Seelen genommen und sie sich einverleibt hat. Das ist der Grund, weshalb die ersten Dark Hunter für längere Zeit zusammenbleiben durften – zu Beginn waren ihre Seelen noch nicht tot. Aber nachdem Acheron sich die Seelen von Kyros und Callabrax einverleibt hat, wurden sie so wie ihr und konnten nicht länger zusammen sein, ohne dass ihre Kräfte zu schwinden begannen.«

Trotzdem hatte Danger Strykers Erklärung nicht eingeleuchtet.

»Ob es dir nun gefällt oder nicht, Mädchen, eure Seelen sind tot. Deshalb könnt ihr euch nicht mit anderen Seelenlosen im selben Raum aufhalten. Die Energie, die dafür sorgt, dass ihr eure Aufgaben erfüllt, kollidiert mit der des anderen Seelenlosen. Weshalb verliert ihr eure Energie nicht in der Gegenwart eines Daimons, was glaubst du? In uns wohnt eine Seele, und deshalb können wir zusammen sein, ohne dass wir zu Schaden kommen. Aus diesem Grund könnt ihr euch in Acherons Nähe aufhalten und spürt den Verlust nicht. Und aus diesem Grund kann Acheron einen Friedhof betreten, ohne besessen zu sein. Im Gegensatz zu euch wohnt eine gestohlene Seele in ihm.«

Danger war skeptisch geblieben. »Das klingt für mich nicht logisch. Was ist mit Kyrian und den anderen Dark Huntern, die ihre Seelen zurückbekommen haben?«

Strykers Antwort war wie aus der Pistole geschossen gekommen. »Diese Dark Hunter bekommen nicht ihre eigenen Seelen zurück, sondern die von jemand anderem.«

Das war das verrückteste Argument von allen gewesen. »Wir alle wissen, dass eine Seele, die in einen Körper dringt, in den sie nicht gehört, innerhalb weniger Wochen verkümmert und stirbt. Kyrian hat seine Seele aber schon seit Jahren zurück.«

Stryker hatte ein unheimliches Lachen ausgestoßen. »Das trifft aber nicht zu, wenn die Seele von einem ungeborenen Baby stammt. Deshalb sind Daimons ja so scharf auf schwangere Frauen. Die Seele eines Ungeborenen kann so lange überleben, bis der Körper stirbt.«

Seine Worte hatten Dangereuse erschaudern lassen. Wie abscheulich.

Sie war sich immer noch nicht sicher, ob so etwas möglich war.

»Wie kann denn Acheron an so eine Seele herankommen?«, hatte sie ihn gefragt.

»Woher kommen deiner Meinung nach die Medaillons, die er benutzt, um einem Dark Hunter seine alte menschliche Gestalt zurückzugeben? Unsere Mutter ist die Hüterin der Seelen.« Er hatte Danger angesehen. »Das griechische Wort für ›Zerstörerin‹ entspricht dem atlantäischen Wort für ›Seele‹. Eure Leute sind davon ausgegangen, dass Apollymi eine Göttin der Zerstörung ist, stattdessen ist sie die Wächterin der Seelen. Mein Bruder benutzt einen Dämon, um ihr diese Seelen zu stehlen, wann immer er eine braucht. Von Zeit zu Zeit gibt er einem von euch seine Seele zurück, um dafür zu sorgen, dass ihr ihm auch weiterhin gehorcht. Er weiß, dass ihr die Hoffnung braucht, damit ihr euch nicht gegen ihn wendet oder eurer Pflichten und eurer Existenz überdrüssig werdet. Das ist der Grund, weshalb ihr zu ihm gehen müsst, wenn ihr frei sein wollt. Er zieht zwar seine ›Ich muss das mit Artemis besprechen‹-Nummer ab, aber in Wahrheit bricht er in den Tempel unserer Mutter ein und stiehlt eine neue Seele. Glaub mir, es gibt keine Unterredung mit Artemis.«

All das klang völlig absurd.

Trotzdem ist die Wahrheit manchmal verrückter als jede erfundene Geschichte, dachte sie.

Und sie kam noch immer nicht über diese Augen hinweg. Niemand hatte diese geheimnisvollen, flirrend silbrigen Augen. Niemand außer Acheron … und Stryker. Und sie hatten beide schwarzes Haar. Doch dann war Stryker vor ihren Augen blond geworden.

»Wieso hast du Acheron wohl noch nie mit blonden Haaren gesehen, was meinst du? Er hat Angst, dass du ihn, wenn du ihn mit blonden Haaren siehst, sofort für den Daimon hältst, der er in Wahrheit ist«, hatte er gesagt.

Danger bog in die Straße ein, die zu ihrem Haus führte. Alles, was sie über die Welt der Dark Hunter und ihren Platz darin gewusst hatte, stand auf einmal infrage. Und dafür hasste sie Kyros. Als Mensch hatte sie zusehen müssen, wie ein Mann sie belogen und alles zerstört hatte, was ihr lieb und teuer gewesen war.

Hatte sie nun einem anderen Mann genau dasselbe gestattet?

Und wem konnte sie künftig trauen? Wer war ihr gegenüber aufrichtig und belog sie nicht schamlos?

»Wieso sorgst du nicht dafür, dass Stryker mich tötet, weil ich dich verraten habe?«, hatte sie Kyros gefragt, nachdem sie gestanden hatte, dass sie Acheron gerufen hatte, um ihn über Kyros’ fragwürdige Handlungsweisen mit den Daimons in Kenntnis zu setzen.

Er hatte ihre Frage mit einem Lachen abgetan. »Ich wollte sogar, dass du es ihm erzählst. Genau aus diesem Grund habe ich meinen Squire auf deinen angesetzt und ihn erzählen lassen, ich sei abtrünnig geworden. Eines kann ich dir mit Gewissheit sagen, Danger«, hatte Kyros gemeint, »Acheron wird auf keinen Fall hier auftauchen und persönlich mit uns reden. Er hat viel zu große Angst davor.«

Stryker hatte zugestimmt. »Er hat völlig recht. Du hast Acheron gerufen, weil du besorgt warst, nachdem du erfahren hattest, dass Kyros mit den Daimons zusammenarbeitet, statt sie zu töten. Jetzt wird Acheron seinen Handlanger schicken, damit er der Sache auf den Grund geht. Es wird jemand sein, der sich als Acherons Squire ausgibt, obwohl jeder weiß, dass Acheron gar keinen Squire hat. In Wahrheit ist er Acherons Vollstrecker. Sein Zerstörer. Du wirst ihn auf den ersten Blick erkennen. Er wird einen weißen Mantel tragen.«

Sie hatte nur die Augen verdreht. »Einen weißen Mantel? Das ist nicht nur geschmacklos, sondern auch noch völlig idiotisch.«

»Nein«, hatte Kyros widersprochen. »Weiß gilt bei den Griechen und den Atlantäern als die Farbe der Trauer.«

Stryker nickte. »Dieser so genannte Squire ist im Grunde nichts anderes als Acherons Todesengel, der alle tötet, die die Wahrheit über Acheron kennen. Es sei denn, es gelingt uns, sie alle beide vorher zu töten.«

Acheron töten.

Allein bei der Vorstellung hatten sich ihre Eingeweide zusammengezogen. Acheron war stets nett und freundlich zu ihr gewesen. Er war zu ihr gekommen, nachdem sie ihre Seele Artemis übereignet hatte, um Rache an ihrem Ehemann nehmen zu können. Er hatte ihr beigebracht, wie man kämpfte und als Dark Hunterin überlebte, und sie mit großer Sorgfalt und Umsicht in seine Welt eingeführt.

Zumindest hatte es den Anschein gehabt.

»Woher willst du wissen, dass du deine Seele tatsächlich Artemis überlassen hast?«, hatte Stryker gefragt. »Acheron könnte von jedem dahergelaufenen rothaarigen Miststück behaupten, sie sei eine Göttin. Wer würde das schon merken? Schließlich habt ihr sie noch nie gesehen, bevor ihr Artemis eure Seele übereignet habt. Und seither auch nicht mehr. Glaub mir – Artemis ist längst tot, und die Frau, die sich als sie ausgibt, ist niemand anders als die Hure, mit der es Acheron im Moment gerade treibt.«

Aber wenn Stryker tatsächlich recht hatte, steckte Acheron hinter alldem. Acheron hatte sie erschaffen, damit er eine Privatarmee besaß, um gegen die Daimons zu kämpfen, die ihn töten wollten, weil er ihnen den Krieg erklärt hatte.

Das sah so gar nicht nach dem Acheron aus, den sie kannte.

Andererseits war Acheron ein unglaublicher Geheimniskrämer. So sehr, dass es beinahe paranoid wirkte. Niemand wusste etwas über ihn. Absolut niemand.

Er hatte nicht einmal ihre Frage nach seinem wahren Alter beantwortet.

Und am Ende hatte Kyros das Einzige preisgegeben, was niemand leugnen konnte.

Einen geradezu erdrückenden Beweis …

»In all den Jahrhunderten, die ich am Leben bin, habe ich nur einen Freund von Acheron kennengelernt – Nick Gautier, den Squire aus New Orleans, der für Kyrian von Thrake arbeitete, bevor dieser wieder menschlich wurde. Alle dachten, wegen seiner engen Freundschaft mit Acheron müsse er absolut unangreifbar sein. Aber vor ein paar Monaten ermordete ein Daimon aus heiterem Himmel Nicks Mutter, und Nick verschwand spurlos. Bis zum heutigen Tag ist er wie vom Erdboden verschluckt. Ich weiß, dass Acheron dafür verantwortlich ist, Danger. Nick muss ihm auf die Schliche gekommen sein, und Ash musste sie beide töten, um seine Spuren zu verwischen«, hatte er gesagt.

Das war ein harter Brocken. Nicks Verschwinden hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Er war bekannt und überaus beliebt gewesen.

Und die Art und Weise, wie seine Mutter umgekommen war …

Brutal und erbarmungslos. So als hätte jemand blutige Rache nehmen wollen.

Danger schüttelte ratlos den Kopf. »Was soll ich denn nur glauben?«, fragte sie sich laut.

Das Problem war, dass sie keine Ahnung hatte. Und sie konnte wohl kaum Acheron fragen. »Hi, Ash, hier ist Danger. Ich habe mich gerade gefragt, ob du jeden Tropfen Blut aus Cherise Gautier gesaugt und dann Nick getötet hast. Was sagst du dazu, hm?«

Ja, selbst wenn Acheron unschuldig sein sollte, würde er sich bestimmt nicht darüber freuen.

Kyros hatte bereits angefangen, Kontakt zu jenen Dark Huntern aufzunehmen, die er für vertrauenswürdig hielt. Er und Stryker hatten vor, sie in Mississippi zu versammeln, um ihnen beizubringen, wie man böse Menschen ihrer Seele beraubte, was laut Stryker die wahre Berufung der Daimons war.

»Wir haben erst angefangen, unschuldigen Menschen ihre Seele zu nehmen, als Acheron uns dazu gezwungen hat. Anfangs haben wir lediglich auf den Abschaum der Gesellschaft Jagd gemacht. Auf Männer und Frauen, die ihresgleichen bekämpft oder geschadet haben und deshalb den Tod verdienten. Jetzt ist es häufig so, dass wir keine Wahl haben und töten müssen, wen wir gerade in die Finger kriegen, unabhängig davon, wer es ist oder was derjenige getan hat. Kaum treten wir in Erscheinung, taucht einer von Acherons Leuten auf und versucht uns ein Messer ins Herz zu rammen. Wir müssen schnell sein und zusehen, dass wir die Seele bekommen, bevor uns einer von euch tötet. Wir wollen niemandem wehtun, schon gar nicht einem unschuldigen Dark Hunter. Wieso flüchten wir wohl, sobald wir einen von euch sehen, statt euch zu bekämpfen? Wir wissen genau, dass die Dark Hunter mit alldem nichts zu tun haben. Und keiner von uns will euch töten, nur weil ihr blind und dumm seid. Acheron ist derjenige, hinter dem wir her sind, und nicht seine unglückseligen Handlanger.« Er hielt inne.

»Er hat euch darauf programmiert, ihm keine Fragen über uns zu stellen. Stattdessen tötet ihr blindlings aus der Vermutung heraus, dass wir es verdienen. Und doch stehe ich hier vor dir, und nicht als Ungeheuer, das dich töten will. Ich bin nur ein Geschöpf der Nacht, genau wie du. Ich kann Liebe empfinden und habe Bedürfnisse. Ich will nur in Frieden leben und nicht gezwungen sein, Unschuldige zu töten.

Und du fragst dich jetzt, wieso Acheron euch belogen hat. Er hat Angst, ihr könntet die Wahrheit über ihn herausfinden. Die Wahrheit darüber, was es bedeutet, ein Dark Hunter zu sein. Wenn ihr Menschen tötet und euch ihre Seelen einverleibt, könntet ihr dieselbe Macht erlangen wie Acheron. Dieselbe Macht wie ein Gott.«

Das war unter Garantie eine Lüge. So einfach konnte es nicht sein. Niemals.

Seufzend bog Danger in die Einfahrt und versuchte sich zu sammeln. Heute Abend bekam sie ohnehin keine Antwort mehr auf ihre Fragen. Und morgen höchstwahrscheinlich auch nicht.

Sie sah Kellers grünen Geländewagen in der Garage stehen. Verdammt. Sie war nicht in der Stimmung für seine tausend Fragen. Nicht solange sie damit beschäftigt war, sich einen Reim auf all das zu machen.

Sie stieg aus, ging ins Haus und ließ ihre Schlüssel in den Korb auf der Arbeitsfläche fallen. Es herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Sehr ungewöhnlich für Keller, dass nicht irgendwo ein voll aufgedrehtes Radio lief oder er sich am Telefon lautstark mit einem Freund unterhielt.

»Keller?«, rief sie mit einem Anflug von Nervosität und ging in Richtung Wohnzimmer.

Sie blieb im Türrahmen stehen. Ihr Squire saß zusammengesunken auf dem Sofa. Im Lehnsessel gegenüber hatte ein Mann Platz genommen, den sie noch nie gesehen hatte. Obwohl sie nur seinen blonden Hinterkopf sah, entging ihr seine steife, förmliche Haltung nicht. Eine Haltung, die etwas Gebieterisches an sich hatte.

»Hey, Danger«, sagte Keller unüberhörbar nervös und wandte sich um. »Wir haben einen Gast. Er ist … äh … Ashs Squire.«

Sie erstarrte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und das Adrenalin rauschte durch ihre Adern.

Langsam erhob sich der Mann und wandte sich zu ihr um. Dangers Blick heftete sich auf den weißen Mantel, den er über seinen schwarzen Kleidern trug. Seine Haltung verriet eine herausfordernde Überheblichkeit, als warte er nur auf eine Bemerkung von ihr.

Seine Kleidung war schwarz, bis auf den Mantel … Und er gehörte Ashs Squire, der blond war wie ein Daimon …