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Stryker saß in der Bibliothek seines Hauses in Kalosis – dem atlantäischen Höllenreich – und musterte seinen Stellvertreter, der vor seinem auf Hochglanz polierten Ebenholzschreibtisch stand. Die Schreibtischplatte glänzte so sehr, dass sich das Kerzenlicht darin spiegelte und den Raum in ein unheimliches Flackern tauchte.
Traurig dachte er daran, dass sein Sohn Urian derjenige sein könnte, der in diesem Moment vor ihm stand und sich mit ihm beratschlagte.
Urian. Allein beim Gedanken an seinen einst so geliebten Sohn zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Sein Verlust zerfraß sein Inneres noch immer wie eine schwärende Krankheit, die durch nichts geheilt werden konnte.
Und das lag nur daran, dass Acheron sein geliebtes Kind getötet hatte. Seinen Erben. Sein Herz. Er war erfüllt von abgrundtiefem Hass und dem schier übermächtigen Bedürfnis nach Rache, das so tief saß, dass der Verrat, der die Menschen bewog, zum Dark Hunter zu werden, im Vergleich dazu geradezu lächerlich war.
Er wollte Urian zurück. Nichts vermochte die Leere zu füllen, die sein Tod in ihm hinterlassen hatte. Nichts konnte die lebhafte Erinnerung an den zutiefst gekränkten und verletzten Ausdruck in Urians Augen in jenem Augenblick vertreiben, als Stryker ihm mit dem Messer die Kehle aufgeschlitzt hatte.
Stryker biss die Zähne zusammen, als sich der Kummer ein weiteres Mal wie ein Dolch in sein Herz schnitt. Er hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als die Uhr zurückzudrehen und diesen Moment ungeschehen zu machen.
Aber das war unmöglich, und er konnte nicht weiterleben, ohne dass Acheron denselben Schmerz durchlebt hatte. Ohne zu gewährleisten, dass Acheron seine Ewigkeit in ebenso tiefer Verbitterung und Qual zubrachte wie er. Allerdings wurde dieses Vorhaben durch den Umstand erschwert, dass Apollymi unter keinen Umständen etwas davon erfahren durfte.
Wenn man einer Göttin diente, war es schwierig, die Zeit für einen privaten Rachefeldzug zu finden, den sie aller Wahrscheinlichkeit nach missbilligen würde. Aber Stryker würde erst Ruhe finden, wenn jeder, der Acheron am Herzen lag, tot und begraben war. Für den Tod von Nick Gautier und seiner Mutter Cherise hatte er bereits gesorgt.
Es gab nur noch drei weitere Personen, die dem atlantäischen Prinzen etwas bedeuteten – sein Charonte-Dämon Simi, der im Grunde nicht getötet werden konnte. Andererseits galt: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Außerdem das Menschenkind Marissa Hunter – und Alexion.
Vor einigen Monaten war es ihm in New Orleans beinahe gelungen, Marissa zu töten. Leider war sein Versuch am Ende fehlgeschlagen, und im Moment war Acheron überaus wachsam, was dieses Mädchen betraf. Doch irgendwann würde seine Wachsamkeit auch wieder nachlassen.
Und dann könnte er sich ein zweites Mal um das Mädchen kümmern.
Alexion dagegen …
Acheron dachte, seine rechte Hand könne sehr gut auf sich selbst aufpassen. Und genau diese Überheblichkeit würde ihnen beiden zum Verhängnis werden.
»Acheron, ein Daimon.« Lachend griff Trates nach Strykers sfora, mit deren Hilfe er die Geschöpfe in der menschlichen Welt beobachten konnte.
Wie alle Daimons war der blonde Mann über einen Meter neunzig groß, unglaublich gut aussehend und in der Blüte seiner Jahre. Es war der Fluch, der über den alten Apolliten lag: Keiner konnte über seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag hinaus am Leben bleiben.
Bereits in der Stunde ihrer Geburt begann ihr langsamer, qualvoller Zerfall zu Staub. Es gab nur eine Möglichkeit, diesen Prozess zu verhindern: indem sie sich menschlicher Seelen bemächtigten. Wann immer ein Apollit den Entschluss fasste, dies dem Sterben vorzuziehen, verwandelte er sich in einen Daimon und wurde aus den Reihen der Apolliten vertrieben. Die meisten Apolliten fürchteten die Daimons ebenso sehr, wie die Menschen es taten, auch wenn er nicht recht nachvollziehen konnte, weshalb.
Nur sehr wenige Daimons gingen allein auf Beutezug.
Erst nach ihrer Verwandlung zum Daimon schickte Acheron seine Dark Hunter, um sie zu töten und, ehe sie endgültig starben, die gestohlenen Seelen zu befreien.
Dieser Jammerlappen Acheron schlug sich auf die Seite der Menschen, statt sich mit den Daimons zu verbünden. Hätte er auch nur ein Fünkchen Verstand im Leib, würde er sich auf ihre Seite schlagen. Doch aus einem Grund, den Stryker noch nie verstanden hatte, unterstützte Acheron die Mitglieder genau jener Rasse, die ihn sofort töten würden, wenn sie herausfänden, wer und was er war.
So ein Idiot.
Trates rollte die sfora auf der Schreibtischplatte hin und her. »Ich muss sagen, akri, das war ein sehr schlauer Schachzug von dir. Die Dark Hunter sind wirklich zu dämlich zum Leben.«
Stryker lehnte sich in seinem schwarzen Lederstuhl zurück, während ein Lächeln um seine Mundwinkel spielte. »Ich wünschte, ich könnte mir das als Verdienst anrechnen, aber in Wahrheit war es ein Dark Hunter, der dieses Gerücht schon vor fünf- oder sechshundert Jahren gestreut hat.«
»Mag sein, aber du warst derjenige, der diesen Krieg zwischen ihm und seiner angeblichen Mutter erfunden hat. Ich schätze, Apollymi wäre zutiefst gekränkt, wenn sie herausfände, dass du behauptet hast, sie hätte einem von Artemis’ Dienern das Leben geschenkt.«
Das Lächeln gefror auf Strykers Zügen. Genau das war seine Vermutung, was Trates jedoch nicht wissen konnte. Obwohl Apollymi es nicht zugeben wollte, war ihm in der Nacht von Urians Tod zum ersten Mal in den Sinn gekommen, dass sie Acherons Mutter sein könnte. Weshalb sonst sollte Apollymi ihm verbieten, Artemis’ Diener zu töten?
Acheron hatte Artemis seine Seele übereignet. Er hatte sich in ihre Dienste begeben und verbrachte seine Tage damit, genau jene zu bekämpfen, die Apollymi dienten. Angesichts des abgrundtiefen Hasses, den Apollymi, die Zerstörerin, für Artemis empfand, wäre es nur nachvollziehbar, wenn sie sie losschicken würde, um Artemis’ Lieblingsgespielen zu töten.
Trotzdem hatte Apollymi bei der einzigen Gelegenheit, als einer von Strykers Daimons Acheron verletzt hatte, ihren Zorn an allen ausgelassen, die dafür verantwortlich waren. Seit diesem Tag lebten seine Leute allesamt in der Furcht, er könnte wieder aufflackern. Nicht dass er ihnen einen Vorwurf daraus machen könnte. Apollymi war ebenso berüchtigt für ihre Brutalität wie er selbst.
Natürlich hatte er keine handfesten Beweise für seinen Verdacht, was Acheron betraf. Noch nicht. Doch wenn er recht hatte und Acheron tatsächlich Apollymis verlorener Sohn war, würde dieses Wissen Stryker die Macht verleihen, die alte atlantäische Göttin endgültig zu vernichten. Und wenn sie erst einmal beseitigt war, würde er allein Kalosis regieren und wäre Herrscher über all die Daimons, die dieses Reich ihr Zuhause nannten.
Er hätte die uneingeschränkte Macht. Niemand könnte ihn daran hindern, die Menschen zu versklaven.
Die Welt der Menschen würde ihm gehören …
Er schmeckte bereits die Süße des Sieges auf der Zunge.
»Apollymi darf nichts davon erfahren«, befahl Stryker. »Ich werde ihr erst vom Aufstand der Dark Hunter erzählen, wenn sie alle tot sind.«
Trates runzelte die Stirn. »Wieso nicht jetzt gleich?«
»Sie hat im Moment andere Dinge im Kopf«, erwiderte er mit gespielter Lässigkeit. »Ich finde, es sollte eine Überraschung für sie sein, meinst du nicht auch?«
Sein Untergebener wurde blass. »Aber die Göttin mag keine Überraschungen. Nach diesem ›überraschenden‹ Zerstörungszug durch New Orleans war sie schrecklich wütend auf uns.«
Das stimmte allerdings. Stryker hatte seine Spathi-Daimons losgeschickt, die die Stadt über Wochen in Angst und Schrecken versetzt hatten, nur um am Ende mit ansehen zu müssen, wie Acheron diese erbärmlichen Menschen gerettet hatte. Verdammt. Stryker hatte in dieser Nacht einige seiner wertvollsten Daimons verloren, darunter auch Desiderius. Aber es war nicht die Zerstörung, die Apollymi so wütend gemacht hatte, sondern vielmehr Desiderius’ Angriff auf Acheron.
Doch von alldem ahnte Trates nichts. Stryker war der Einzige, der den wahren Grund von Apollymis Zorn wusste.
»Das stimmt, aber nach einer Weile hat sie sich wieder beruhigt und ist jetzt recht zufrieden und entspannt.«
Trates sah alles andere als überzeugt aus, als er wieder vor die sfora auf ihrem vergoldeten Ständer trat. »Wie lauten deine Befehle?«
»Für den Augenblick zeigen wir uns den Dark Huntern gegenüber weiterhin von unserer freundlichen Seite.«
»Haben wir denn so etwas überhaupt?«
Stryker lachte. »Nein, aber wie du vorhin selbst gesagt hast, sind die Dark Hunter viel zu dumm, um es zu merken. Vorerst werden sie uns unsere Lügen abkaufen und damit unseren neueren Mitgliedern erlauben, ihr Können zu verfeinern.«
Trates nickte, ehe er sich zum Gehen wandte.
»Allerdings haben wir eine neue Priorität.«
Trates blieb stehen und sah ihn an. »Und zwar?«
»Alexion töten.«
Trates schien verblüfft über den Befehl zu sein, riss sich jedoch eilig zusammen. »Wie denn?«
Ein Lächeln breitete sich langsam auf Strykers Zügen aus. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir bringen ihn dazu, sich selbst zu töten, oder wir überlassen es den Charontes.«
Keine der beiden Methoden würde einfach werden. Und Trates’ Miene verriet Stryker, dass sein Stellvertreter beide Vorgehensweisen mit großer Sorge betrachtete.
»Und wie sollen wir die Charontes dazu kriegen, ihn zu töten?«, fragte Trates.
»Das ist der heikle Teil der Sache.«
Stryker wog seine Möglichkeiten ab. Es war ausgeschlossen, sie Alexion auf den Hals zu hetzen, es sei denn, er brachte Apollymi dazu, mit ihm zusammenzuarbeiten, indem sie erlaubte, dass ein, zwei ihrer Haustiere das atlantäische Reich verließen. Was nahezu ausgeschlossen war. Die Zerstörerin gestattete ihren Charontes so gut wie nie, Kalosis den Rücken zu kehren.
Andererseits gab es einige Charontes, die nicht gerade große Sympathien für die Göttin hegten, die sie kontrollierte. Vielleicht ließ sich der eine oder andere verführen, Strykers Befehl zu befolgen – wenn sie dadurch die Chance bekämen, endlich frei zu sein.
Trates schien diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht zu ziehen. »Wie willst du jemanden dazu bringen, sich selbst zu töten?«
Stryker lachte auf. »Normalerweise muss man lediglich ihren Lebenswillen zerstören. Oder ihnen einen verdammt guten Grund zum Sterben liefern.«
Trates sah noch verwirrter drein. »Was könnte denn Alexion dazu bewegen, sterben zu wollen?«
»Kyriay ypochrosi«, antwortete Stryker, das atlantäische Wort für »Ehrgefühl«.
»Der Mann ist ebenso seelenlos wie die Dark Hunter, die er beschützt. Wenn man einem Dark Hunter eine starke Seele gibt, wird sie die Oberhand über ihn gewinnen, doch wenn man einem Dark Hunter eine schwache Seele gibt …«
»Wird er sie ununterbrochen um Gnade winseln hören.«
Stryker nickte. Dies war der schwierigste Teil dabei, ein Daimon zu werden, und einer der Gründe, weshalb sie schwache Seelen mieden. Das ständige Gejammer um Gnade und Mitleid konnte auch den hartgesottensten von ihnen in den Wahnsinn treiben.
Doch seine Leute hatten einen kleinen Vorteil: Sie besaßen noch immer ihre Seelen, mit deren Hilfe sie das Jammern ausblenden konnten. Alexion und die Dark Hunter dagegen nicht. In ihrem Innern war nichts, womit sich die eindringende Seele bekämpfen und vertreiben ließ.
Die erbärmlichen Schreie würden Alexion vollständig lahmlegen und ihm keine andere Wahl lassen, als sich entweder selbst zu töten, um die Seele zu befreien, oder sie sterben zu lassen.
Schlechtestenfalls wäre es ein interessantes Experiment.
Würde Alexion daneben stehen und die Seele einfach sterben lassen, oder würde er seinem Leben freiwillig ein Ende setzen, um damit das eines Unschuldigen zu retten?