7

Danger stand in der Eingangshalle ihres Hauses und sah Alexion zu, der in der Küche stand. Sie hatte sich entschuldigt, um zur Toilette zu gehen. Sie wollte sich für einen Augenblick der Intensität seiner Gegenwart entziehen. Und in Ruhe alles überdenken, was sie erfahren hatte.

Sie wusste nicht, was sie glauben sollte, und hasste sich selbst für ihre Unsicherheit und Verwirrung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gerühmt, stets einen kühlen Kopf zu bewahren und die Dinge zu sehen, wie sie waren.

Jetzt allerdings …

Sie hatte keine Ahnung, was richtig und was falsch war. Nach allem, was sie von Alexion gesehen und gehört hatte, bezweifelte sie keine Sekunde, dass er sie töten könnte, wenn er wollte; und nicht nur sie, sondern auch alle anderen Dark Hunter. Bislang hatte er keine Anstalten gemacht, was seiner Aussage, dass er gekommen sei, um sie zu beschützen, zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh.

Vielleicht.

Verdammt. Ich hasse diese Unschlüssigkeit.

Soll ich einfach verschwinden und die anderen warnen oder lieber hierbleiben und ihn im Auge behalten?

Eine Frage, die sich nicht ohne Weiteres beantworten ließ.

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und beobachtete, wie Alexion die riesige Hershey-Schokoladentafel in die Hand nahm und daran roch. Er strich mit dem Finger über das braune Papier, als hätte er so etwas noch nie gesehen, ehe er sich an den Rändern der Tafel entlangtastete, als genieße er das Gefühl, die Tafel in seiner Hand zu spüren.

Mit schief gelegtem Kopf beobachtete Danger ihn. Sie liebte Schokolade heiß und innig, trotzdem hatte sie noch nie das Bedürfnis verspürt, eine Tafel auf eine so sinnliche Weise zu betasten. Die Art, wie er sie berührte, erinnerte sie beinahe an die Zärtlichkeit eines Geliebten – eine Geste, die ihm etwas seltsam Verletzliches verlieh.

Gütiger Himmel, ihre Fantasie ging eindeutig mit ihr durch.

»Soll ich euch beide lieber allein lassen?«

Erschrocken sah er auf, ging jedoch nicht auf ihre sarkastische Bemerkung ein. »Wie schmeckt Schokolade eigentlich?«

»Machen Sie sie auf, und probieren Sie sie, dann wissen Sie es«, gab sie stirnrunzelnd zurück. Was für eine seltsame Frage.

Mit einem tiefen Seufzer legte er die Tafel beiseite. »Das würde nichts nützen.«

»Wieso nicht?«

»Ich kann nichts schmecken.«

Erstaunt horchte sie auf. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es war, ohne Geschmacksknospen leben zu müssen. Zugegebenermaßen war es ein geradezu göttlicher Genuss, eine Tafel Hersheys oder all die anderen Leckereien zu verputzen, die aller Wahrscheinlichkeit nach gnadenlos ihre Arterien verstopfen würden, wäre sie noch ein Mensch. »Gar nichts?«

Er schüttelte den Kopf und betrachtete die Schokolade. »Ich weiß, dass Simi gern Schokolade isst. Sie redet ständig davon, hat aber noch nie eine Tafel mit nach Hause gebracht. In meiner Gegenwart isst sie ständig nur gegrilltes Fleisch und Popcorn und behauptet, es schmecke sehr lecker, aber auch sehr salzig.«

»Simi?«

Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geschworen, dass er sich unbehaglich wand, so als wäre ihm der Name aus Versehen herausgerutscht. Ohne auf ihre Frage einzugehen, griff er nach ihrer Kaffeetasse und roch auch an ihr. Seine Miene verriet, dass es ebenso sinnlos war wie die Idee, Schokolade zu essen, die er ohnehin nicht schmecken konnte.

Was eine höchst interessante Frage aufwarf. »Aber wovon ernähren Sie sich, wenn Sie nichts schmecken können? Von Blut? Oder von Seelen?«

Mit einem gelangweilten Blick stellte er die Tasse wieder hin. »Ich sagte doch bereits, dass ich kein Daimon bin.«

»Das stimmt, aber als ich Sie niedergestochen habe, sind Sie wie ein Daimon in einer Wolke aufgegangen. Sie sind blond, essen nichts …«

»Ich bin kein Daimon«, wiederholte er.

»Haben Sie diesen Spruch schon mal gehört: Wenn es wie eine Ente watschelt und wie eine Ente quakt …?«

»Ist es noch lange kein Daimon.«

Touché. »Wovon ernähren Sie sich dann?«

Er bedachte sie mit einem intensiven, sinnlichen Blick. »Von Frauen al dente.«

Danger blieb angesichts dieser unerwarteten Vulgarität der Mund offen stehen. »Das wäre nicht nötig gewesen«, konterte sie abfällig.

»Dann hören Sie auf, mich zu löchern.«

Charme war eindeutig nicht seine Stärke. Andererseits brauchte er auch nicht charmant zu sein. In seinen Augen lag eine derartige Traurigkeit, dass es sie schmerzte; wider jede Vernunft, die ihr riet, schleunigst ein zweites Mal mit dem Messer auf ihn loszugehen – nur zur Sicherheit.

Sie trat näher und betrachtete ihn eingehend.

Seine Züge waren absolut perfekt. Männlich. Sie blickte in seine unheimlichen Augen mit den wohlgeformten dunkelblonden Brauen. Seine Wangenknochen waren ausgeprägt und mit einem Anflug von Stoppeln überzogen – ein Anblick, bei dem jede Frau sich am liebsten auf die Zehenspitzen stellen und die Haut liebkosen würde, bis sich ihre Lippen wund anfühlten.

Erst in diesem Augenblick fiel ihr etwas auf …

Im Gegensatz zu ihr und all den anderen Dark Huntern besaß Alexion keine Vampirzähne.

Wie war das möglich?

Zumindest war damit die Daimon-Frage vom Tisch. Kein vollwertiger Daimon konnte ohne regelmäßige Beute überleben.

»Was sind Sie wirklich?«, fragte sie.

Er warf ihr einen Blick zu, als langweile ihn die Frage unendlich. »Diese Diskussion haben wir doch schon mehr als einmal geführt, oder nicht?«

Das stimmte, aber sie waren dabei nie zu einem Ergebnis gekommen. »Sie haben mich gebeten, Ihnen zu vertrauen. Gut. Ich bin bereit, es zu tun. Aber in diesem Fall verdiene ich, dass Sie mir dasselbe Maß an Respekt entgegenbringen.« Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »Vertrauen Sie mir, indem Sie mir die Wahrheit sagen.«

Sie sah das Flackern in seinen grünen Augen, das seinen inneren Konflikt verriet. »Sagen wir einfach, ich bin ›anders‹. Ich bin einzigartig. Ich bin kein Mensch, ich bin kein Dark Hunter, aber auch kein Daimon oder Apollit. Sondern nur ich. Schlicht und einfach.«

Sie kämpfte gegen den Drang an, über den letzten Teil seiner Worte laut zu lachen. Dieser Mann war alles, nur nicht einfach.

Er begegnete ihrem Blick, und sie bemerkte das Verlangen, das tief in seinem Innern zu schlummern schien. Er hob die Hand und streckte sie aus.

Instinktiv wich Danger zurück.

Sein Blick war so intensiv, dass er sie förmlich zu durchbohren schien. »Würden Sie mir erlauben, Ihre Wange zu berühren, Danger?«

Ihr erster Impuls war, Nein zu sagen, wäre da nicht dieser eigentümliche Tonfall in seiner Stimme gewesen, in dem eine tiefe Sehnsucht mitzuschwingen schien, auch wenn der Gedanke völlig abwegig war. »Wieso?«

Er ließ seine Hand sinken und wandte den Blick ab, als versuche er, eine quälende Erinnerung aus seinen Gedanken zu verscheuchen. »Weil ich an einem Ort lebe, wo ich niemanden berühren kann. Mir fehlt die Wärme der Haut einer Frau. Die Weichheit.« Er schloss die Augen und holte tief Luft. »Dieser volle, warme Duft, wie er nur Frauen eigen ist. Sie haben ja keine Ahnung, wie es ist, sich so sehr nach menschlicher Berührung zu sehnen, dass es Ihr gesamtes Denken und Streben beeinflusst und so übermächtig wird, dass Sie manchmal glauben, Sie hätten den Verstand verloren, und Ihr ganzes Leben sei nichts als eine beschissene, aus Ihrem Wahnsinn geborene Illusion.«

Was für ein beängstigender Gedanke. Und so eindringlich, dass sie sich zwingen musste, nicht vor diesem Mann zurückzuweichen, gegen den Norman Bates der nette Junge von nebenan war. Es fehlte nur noch die Mutter im Schaukelstuhl.

Ein Glück, dass sie nicht blond war und lieber Vollbäder nahm, statt zu duschen.

Du spinnst, Danger.

Glaubst du? Immerhin habe ich hier einen Irren im Haus, den mir Ash höchstpersönlich geschickt hat. Hast du vielleicht sonst noch ein paar Durchgeknallte, die du gern bei mir abladen möchtest? Und ich dachte immer, Tante Morganette sei verrückt. Dabei hielt sie nur ihren Kater für die Wiedergeburt von Onkel Etienne und ließ ihn in Kniebundhosen und Gehrock herumlaufen. Das war ja fast süß im Vergleich zu dem hier …

Ja, Ash, vielleicht schickst du mir ja gleich noch eine Zwangsjacke dazu. Das bist du mir schuldig.

Mitten in ihrem lautlosen Wutanfall fiel ihr etwas auf, was er gesagt hatte. Das beruhigte sie ein wenig. »Was meinen Sie damit, Sie leben an einem Ort, wo es keine Menschen gibt?«

Mittlerweile hatten seine Augen eine fast normale haselnussbraune Färbung angenommen. »In einer Welt weit weg von hier.«

»Was ist das, so etwas wie Star Wars? Vor langer Zeit in einer weit entfernten Galaxie? Wollen Sie mir vielleicht auch verraten, wo genau sich Ihr Planet Tatooine befindet? Irgendwo in diesem Universum? In der Nähe von Toledo vielleicht? Dem in Ohio oder dem in Spanien? Ich will ja nicht pingelig sein, aber finde ich ihn über MapQuest?«

Alexion lachte bitter. »Wissen Sie, was der größte Unterschied zwischen Männern und Frauen ist? Wann immer ich zu einem männlichen Dark Hunter geschickt wurde, musste ich keine lästigen Fragen beantworten. Ich habe ihm einfach gesagt, dass Acheron mich geschickt hat, und er hat es entweder akzeptiert oder versucht, mich zu töten. Im ersteren Fall hat er sein Leben weitergelebt, als wäre ich überhaupt nicht da, aber Sie … Sie müssen ja über jedes noch so winzige Detail meines Lebens und Daseins informiert sein.«

Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Finden Sie? Ich will Ihnen mal ein sehr interessantes Detail über mich verraten. Ich lasse keinen Wildfremden in mein Haus. Niemals. Wenn Sie also vorhaben, hier zu übernachten, sind Sie mir ein paar Antworten schuldig, wer oder was Sie sind. So, und jetzt kommen wir noch mal zurück zu dieser Sache mit der Welt, aus der Sie stammen. Was ist das für ein Reich?«

Offen gestanden rechnete sie nicht damit, eine Antwort zu bekommen, doch zu ihrer Verblüffung gab er sie ihr nach kurzem Überlegen.

»Es ist wie der Himmel und die Hölle. Auf eine merkwürdige Art und Weise ist es eine Kombination aus beidem. Es existiert an einem Ort, den die meisten Menschen wohl als eine andere Dimension bezeichnen würden. Gewissermaßen.« Sie sah ihm an, dass er Mühe hatte, es ihr begreiflich zu machen. »Sagen wir einfach, dass man es auf keiner Karte finden kann.«

Tja, das war immerhin ein Anfang. Und es trug ganz enorm zu ihrer Beruhigung bei. Pah, du weißt trotzdem so gut wie nichts über ihn. Das stimmte, aber zumindest hatte er versucht, es ihr zu erklären. Das war ein großer Schritt für Mr. Gespenstisch.

Er hob die Hand erneut in Richtung ihrer Wange, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung. »Darf ich?«

Du solltest auf der Stelle kehrtmachen und davonlaufen, Danger. Das würde zumindest eine kluge Frau tun. Das Bedürfnis, ihrer inneren Stimme zu folgen, war gewaltig, doch sie hörte nicht auf sie. Es war noch nie ihre Art gewesen, vor etwas davonzulaufen.

Sie holte tief Luft, schloss die Finger um seine Hand und legte sie auf ihre Wange. Die Hand fühlte sich eiskalt an. Kein Fünkchen Wärme schien von seiner Haut auszugehen.

Doch seine Miene verriet eine tiefe Freude, bei deren Anblick sie ein Ziehen in der Magengegend spürte. Noch nie hatte jemand eine solche Freude empfunden, nur weil er sie berühren durfte. Zumindest nicht wenn die Berührung so platonisch war.

»Sie sind wunderschön«, stieß er atemlos hervor. Sie sah die Lust und das Staunen in seinem Blick, als er seine Hand um ihre Wange legte und ihr tief in die Augen sah. »Wie lange ist es her, dass Sie zuletzt von einem Mann geliebt wurden?«

Die Frage schockierte sie. »Wie bitte?«

Ein boshaftes Flackern tanzte in seinen Augen. »Ich weiß, ich weiß, es geht mich nichts an.« Augenblicklich wurde seine Miene ernst, und er ließ seine Hand sinken. »Aber auch ich habe Momente, in denen meine Neugier mit mir durchgeht.«

»Tja, nur wird diese Neugier wohl mit einem kräftigen Tritt in die Weichteile enden.«

Seine Züge wurden weich, als amüsiere ihn die Vorstellung. »Ich schätze, eine schmerzhafte Empfindung in dieser Region ist immer noch besser als gar keine.«

Wieder fiel ihr vor Ungläubigkeit die Kinnlade herunter. »Was?«

Er grinste boshaft, um ihr zu zeigen, dass er sie auf den Arm nahm. »Sie werden es mir nachsehen, wenn meine soziale Kompetenz zu wünschen übrig lässt. Meine Kontakte mit anderen sind eher dünn gesät.«

»Ach ja?«

»Ach ja.«

Sie dachte einen Moment darüber nach, was er von sich preisgegeben hatte. Er schien kein Mann zu sein, der sich anderen so ohne Weiteres anvertraute, was die Frage aufwarf, weshalb er sich ausgerechnet ihr gegenüber öffnete. »Okay, fassen wir zusammen: Sie brauchen nichts zu essen, und Sie haben wenig Kontakt zu anderen. Was tun Sie?«

Wieder antwortete er nicht – ein Verhalten, das sie stark an Acheron und seine vage Art erinnerte, auf jede Form von persönlicher Frage zu reagieren.

Stattdessen wandte er sich ab.

Doch Danger war nicht bereit, ihn so einfach davonkommen zu lassen. Sie folgte ihm in die Eingangshalle.

Er hielt auf halbem Weg inne, hatte die Augen geschlossen und den Kopf schief gelegt, als lausche er – eine Haltung, die sie ebenfalls stark an Acheron erinnerte.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.

»Hören Sie das?«

Sie lauschte ebenfalls, doch außer dem Schlag ihres Herzens hörte sie nichts. »Was?«

»Jemand beobachtet uns«, sagte er nur.

Entsetzt drehte Danger sich langsam um und suchte jeden Winkel des Raums mit den Augen ab. »Wer? Und wo?«

»Ich weiß es nicht, aber ich spüre es.«

Er spürte es. Tja, das erklärte natürlich alles.

Danger ließ resigniert den Atem entweichen. »Vielleicht sind Sie nur ein wenig überarbeitet.«

»Acheron?«, rief er laut.

Sie runzelte die Stirn, halb in der Erwartung, Acheron in der nächsten Sekunde vor sich zu sehen, überraschend, wie er häufig auftauchte.

Doch er kam nicht.

Stattdessen standen nur sie beide in der Eingangshalle und hielten nach Geistern in den Schatten Ausschau. Was für ein beruhigender Gedanke. Wie ein Stachelschwein in einer Kondomfabrik. Jeden Moment könnte sich etwas aus den Schatten lösen und sie anspringen.

Alexion fluchte innerlich und ging weiter ins Wohnzimmer. Er stand im Raum und sah sich um.

»Artemis«, knurrte er. »Nimm menschliche Gestalt an.«

Ein Teil von ihr wappnete sich, gespannt, Artemis in ihrer menschlichen Gestalt vor sich zu sehen. Doch nachdem ein paar Minuten ohne das wundersame Erscheinen der Göttin vergangen waren, wurde ihr bewusst, wie unsinnig seine Aufforderung war. »Artemis kann sich hier doch gar nicht zeigen. Ich habe keine Seele, deshalb achten die Götter darauf, uns nicht zu nahe zu kommen, schon vergessen?«

»Irrtum«, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Die Götter können sich sehr wohl in eurer Nähe aufhalten, wenn sie wollen. Sie tun es nur nicht, weil die meisten von ihnen Arschlöcher sind. Und Artemis zeigt sich nicht, weil sie sich an mir rächen will.«

»Weshalb denn?«

»Oh, es gibt eine ganze Reihe von Gründen, aus denen sie mich hasst.« Er wandte den Blick zur Zimmerdecke. »Ich schwöre, Artemis, damit sammelst du nicht gerade Punkte bei mir. Simi hat völlig recht – du bist ein echtes Miststück.«

»Wer ist Simi?«, fragte sie noch einmal.

Endlich sah er sie an. »Sie ist so wie ich – ›anders‹.«

»Ah, das erklärt natürlich alles. Ich weiß Ihre Art, mir Ihr Vertrauen zu demonstrieren, wirklich zu schätzen, herzlichen Dank.«

Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer, als er in Richtung Treppe ging. »Ob Sie es glauben oder nicht, aber hier ist irgendjemand.«

Er hatte völlig recht mit seiner Vermutung. Sie wollte es nicht glauben. Mehr noch. Sie wusste, dass es nicht so war. »Nein, da ist niemand. Glauben Sie mir. Im Vergleich zu diesem Haus hier ist Alcatraz wenig gesichert.«

»Und wie viele Leute sind von dort schon ausgebrochen?«

Allmählich machte er ihr wirklich Angst.

Beklommen folgte Danger ihm die Treppe hinauf. Allmählich stieg ihre Besorgnis. Spürte er wirklich etwas, was sie nicht wahrnehmen konnte? Es war höchst unwahrscheinlich, dass sich jemand im Haus aufhielt, andererseits würden die meisten Menschen wohl auch sagen, dass ihre Existenz als Tote in der Welt der Lebenden nicht gerade plausibel war. Vielleicht wusste er ja etwas, was sie nicht wusste.

Wie ein Panther auf Beutezug pirschte er den Korridor entlang und betrat ein Zimmer nach dem anderen. Als er zum letzten Schlafzimmer gelangte, war sie es endgültig leid.

»Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, dass keiner hier ist.«

Er legte den Kopf schief. »Simi?«, rief er. »Wenn du das bist, hör sofort auf mit diesen Spielchen, und kauf dir stattdessen irgendwas Nettes.«

Danger massierte sich die Schläfen. »Reden Sie immer mit Ihren imaginären Freundinnen?«

»Simi ist keine imaginäre Freundin.«

»Oh, dann ist Sie eben Ihre unsichtbare Freundin. Hätte Ms. Simi gern ein eigenes Zimmer, solange Sie hier sind?«

Der Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass sie ihn mit ihren Provokationen an den Rand eines Schlaganfalls trieb.

»Ich verstehe nicht, weshalb Sie nicht akzeptieren können, dass es Dinge gibt, die jenseits Ihrer Wahrnehmung und Ihres Verständnisses existieren. Für Menschen ist die Vorstellung, dass es Dark Hunter gibt, vollkommen absurd. Menschen haben keine Ahnung, dass Ihre Welt oder die der Daimons existiert. Die Welt, die ich kenne, ist genauso real wie diese hier, und sie wird sogar noch besser abgeschirmt – und nur weil Sie noch nie von ihr gehört haben, bedeutet das noch lange nicht, dass ich sie erfunden habe. Sie haben auch noch nie persönlich vor dem Rat der Squire gestanden, trotzdem wissen Sie, dass sie alle leben und guter Dinge sind.«

Das war ein Argument. »Das stimmt, und überall auf der Welt glauben die Kinder an den Weihnachtsmann und die Zahnfee, die auch alle lediglich ihrer Fantasie entspringen.«

Alexion ging nicht darauf ein, sondern bekämpfte seinen Unmut und konzentrierte sich erneut. Er registrierte ein leises Summen und einen kaum merklichen Luftzug, die immer dann auftauchten, wenn jemand mithilfe einer sfora andere ausspionierte. Das hatte er vor schon Jahrhunderten herausgefunden, als Simi festgestellt hatte, dass sie ihn ungeniert beobachten konnte, während sie zu Hause in Katoteros war.

Aber wenn es nicht Simi war …

Dann musste es wohl jemand von der Gegenseite sein. Soweit er wusste, brauchte Apollymi keine sfora, sondern behalf sich mit dem Pool in ihrem Garten, um zu sehen, was andere so taten. Was die Frage aufwarf, wen seine Anwesenheit hier sonst noch interessieren könnte.

Wieso wurde er beobachtet?

Danger stieß einen Seufzer aus. »Ich habe keine Lust, hier herumzustehen und zuzusehen, wie Sie mit ›anderen‹ konferieren. Es war ein langer Abend, mir schwirrt der Kopf, und ich bin völlig erledigt. Sie können gern hierbleiben und Ihre Hokuspokus-Katzenschleich-Nummer abziehen und nach unsichtbaren Freunden suchen, wenn Sie wollen. Ich werde jedenfalls jetzt in mein Fernsehzimmer gehen und noch eine Weile relaxen.«

Alexion nickte. Wenn sie ging, würde sich derjenige, der sie beobachtete, entscheiden müssen, wem er folgte. Das würde ihm verraten, wen sie im Auge hatten. »Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen.«

Sie verdrehte die Augen. »Klar. Genau das werde ich machen, wenn ich einen großen starken Mann brauche, der meinen kleinen zarten Mädchenarsch rettet.«

Alexion war nicht sicher, ob er geschockt oder belustigt sein sollte. Seltsamerweise war er beides.

Sie ließ ihn zurück, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb. Erleichtert stieß er den Atem aus. Also war er derjenige, der observiert wurde. Gut. Solange sie hinter ihm her waren, war es kein Problem. Die Dark Hunterin davon zu überzeugen, dass jemand sie verfolgte, hätte sich wahrscheinlich als ziemlich schwierig erwiesen.

Sie schien reichlich festgefahren in ihren Überzeugungen zu sein und nicht einmal ansatzweise bereit, auf ihn zu hören.

»Du hat dir einen Riesenspaß daraus gemacht, Acheron auf den Pelz zu rücken, Artemis«, sagte er leise. »Und jetzt tu uns allen einen Gefallen und lass ihn gehen.« Doch er wusste, dass das unmöglich war. Artemis würde niemals zulassen, dass Acheron sie verließ. Sie brachte jede freie Minute damit zu, neue Mittel und Wege zu ersinnen, wie sie ihn noch enger an sich binden konnte.

Wenigstens hatte Acheron die Möglichkeit, frei zu entscheiden. Wenn er wollte, konnte er sich wie ein Mistkerl verhalten und die Dark Hunter einfach im Stich lassen. In den vergangenen Jahrzehnten hatte es Phasen gegeben, in denen es Alexion nicht überrascht hätte, wenn es so weit gekommen wäre.

Er hingegen hatte keine andere Wahl. Er konnte in der menschlichen Welt nicht allzu lange überleben. Ein Leben außerhalb von Katoteros existierte für ihn nur in seinen Träumen.

Für ihn würde es niemals so etwas wie Liebe geben. Kinder. Eine Frau.

Das Leben war ein ständiger Kompromiss. Niemand bekam alles. Stattdessen war es immer eine Frage, welches Opfer man zu bringen bereit war, um sich seine Träume erfüllen zu können. Er führte ein höchst angenehmes Leben in Katoteros. Simi liebte ihn, und auf eine seltsame Art und Weise tat es vermutlich auch Acheron.

Jeder seiner Wünsche wurde erfüllt …

Bis auf einen.

Er würde niemals eine Gefährtin haben. Acheron weigerte sich eisern, anderen seine Tür zu öffnen. Nicht dass er ihm einen Vorwurf daraus machen könnte. Er verstand Acherons Bedürfnis nach Privatsphäre voll und ganz, ebenso wie seine Furcht, Auskunft über seine Vergangenheit zu geben.

Alexion war überaus dankbar, dass Acheron ihm den Zugang gestattet hatte. Hätte er es nicht getan …

In diesem Fall wäre er gezwungen gewesen, in einer erbärmlichen, schmerzhaften Hölle zu leben, wie sie sich kaum ein Mensch vorstellen konnte. Ohne Acheron wäre er immer noch dort. Insofern konnte er sich nicht beklagen. Es ging ihm nicht so übel.

Noch besser ginge es ihm allerdings, wenn er wüsste, wer ihn beobachtete.

Doch tief in seinem Innern wusste er genau, wer es war. Stryker. Es konnte niemand anders sein. Was eine weitere Frage aufwarf.

Warum beobachtete er ihn?