8

Danger ging in ihr Zimmer, um eine alte graue Flanellhose anzuziehen, die ihr zwei Nummern zu groß war. Aber genau so sollte es sein – sie wollte unförmig und schlampig aussehen, so dass jeder Anflug von Romantik, der Alexion überkommen könnte, im Keim erstickt würde.

Könnte die Hose sie doch auch nur von ihren eigenen gefährlichen Gedanken ablenken. Sie hatte viel zu lange auf Sex verzichten müssen, was es umso schwerer machte, keine unzüchtigen Sehnsüchte auf seinen unglaublichen Körper zu projizieren. Mist, musste er so verdammt gut aussehen?

Reiß dich zusammen.

»Ich sollte ihn vor die Tür setzen, Konsequenzen hin oder her«, sagte sie leise zu sich selbst, während sie ihre schwarze Bluse gegen das Pyjamaoberteil tauschte.

Könnte sie ihn doch nur hinauswerfen. Doch mithilfe seiner Kräfte würde er sich höchstwahrscheinlich mühelos wieder zurückbeamen, irgendeine Unverschämtheit von sich geben und seine Raubkatzensuche nach seinen unsichtbaren Freunden im Haus fortsetzen. Igitt!

Mit einer ungeduldigen Handbewegung zog sie ihr Oberteil zurecht, griff nach ihrem Handy und drückte die Kurzwahltaste von Acherons Nummer.

Es läutete mehrere Male, ohne dass jemand an den Apparat ging.

Seltsam. Normalerweise hob Acheron immer gleich beim ersten Läuten ab. Dass er nicht an den Apparat ging, hatte sie noch nie erlebt.

»Ganz toll«, sagte sie. »Du könntest wenigstens auf Voicemail umschalten.«

Seufzend klappte sie ihr Telefon zu und zog sich vollends an. Wo konnte Acheron sein?

Konnte er wirklich ein Daimon sein?

Oder sollte sie Alexion trauen?

Es war zum Verrücktwerden. Als sie das letzte Mal einem Mann vertraut hatte, hatte das nicht nur sie das Leben gekostet, sondern auch jeden anderen Menschen, der ihr am Herzen gelegen hatte.

Vertrauen war nur etwas für Dummköpfe.

»Ich brauche Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken.«

Sie schnappte sich ein Kissen und ging nach oben ins Fernsehzimmer. Von Alexion war weit und breit nichts zu sehen.

Vielleicht war es besser so.

Sie trat vor die kleine Hausbar und nahm eine Schachtel Popcorn aus dem Schrank, dann holte sie sich eine Dose Coke aus dem Kühlschrank, ging zum Sofa und legte einen ihrer Lieblingsfilme ein. Troja.

Ja, das war genau das, was sie jetzt brauchte. Spärlich bekleidete Männer, tragische Romanzen …

Perfekt. Auf diese Weise kam sie zwar der Frage, was sie mit Alexion anstellen sollte, nicht näher, aber zumindest bot der Film eine perfekte Ablenkung von einem scheinbar unlösbaren Problem.

Alexion stieß verärgert den Atem aus. Noch immer war es ihm nicht gelungen, Kontakt mit Acheron, Artemis oder Simi aufzunehmen. Und er hatte nach wie vor das Gefühl, beobachtet zu werden.

»Höchste Zeit, endlich mit diesem Schwachsinn aufzuhören«, sagte er laut. »Entweder du zeigst dich, oder du lässt den Quatsch.«

Das Summen hörte auf.

Alexion runzelte die Stirn. Hm, das war ja recht einfach gewesen. Damit hätte er es gleich versuchen sollen. »Hör auf, mich zu verarschen, Simi. Dieses Theater geht mir auf die Nerven, und wenn du dir das nächste Mal versehentlich Klebstoff auf die Flügel schmierst, kannst du selbst sehen, wie du ihn wieder abbekommst.«

Trotzdem war er etwas beruhigter und beschloss, sich auf die Suche nach der Dark Hunterin zu machen und nachzusehen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Wenn er sich nicht irrte, stand sie mittlerweile unter Beobachtung der sfora.

Mithilfe seiner geschärften Sinne machte er sie im oberen Stockwerk aus. Er schloss die Augen und beförderte sich aus dem Raum und vor die Tür zum Fernsehzimmer – er sah keine Notwendigkeit, ihr mit einer Demonstration seiner Kräfte Angst einzujagen. Stattdessen würde er sich in ihrer Gegenwart so normal zeigen, wie er nur konnte.

Er öffnete die Tür und sah sie zusammengerollt auf einer üppig gepolsterten grünen Couch vor dem Fernseher liegen. Er sah zu dem riesigen Plasmabildschirm, wo zwei antike Armeen in eine erbitterte Schlacht verwickelt waren.

Danger spürte einen Luftzug hinter sich und wandte sich um. Auf seinen Zügen lag ein eigentümlicher Ausdruck – eine Mischung aus Schmerz, Sehnsucht und Reue. Wüsste sie es nicht besser, hätte sie gesagt, er leide unter Heimweh.

»Sind Sie fertig? Das ganze Haus abgeschlichen?«

Der vertraute versteinerte Ausdruck kehrte auf seine Züge zurück. »Ja. Sie sind weg.« Er trat näher, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. »Was sehen Sie sich da an?«

»Troja

Er runzelte fragend die Stirn, ehe sich jähe Erkenntnis auf seinen Zügen abzeichnete. »Oh«, sagte er leise. »Ilion.«

Diesen Begriff hatte sie seit dem Geschichtsunterricht in der Klosterschule nicht mehr gehört. Erst jetzt fiel der Groschen. »Sie stammen aus dem antiken Griechenland, stimmt’s?«

Ihre Frage schien ihn zu verblüffen, doch er riss sich eilig zusammen. Wie sie es bereits gewohnt war, vermied er es auch jetzt, ihre Frage zu beantworten. »Wieso sehen Sie sich das an?«

Sie deutete auf Achilles alias Brad Pitt, der es sich splitternackt mit zwei ebenfalls unbekleideten Gespielinnen auf einem Lager bequem gemacht hatte. »Deswegen«, antwortete sie anerkennend. »Das ist der knackigste Hintern auf diesem Planeten.«

Er schnaubte abfällig. »Das ist definitiv nicht der knackigste Hintern auf diesem Planeten, das kann ich Ihnen versichern.«

Sie hob eine Braue. »Sie sind also Experte für Männerärsche, was?«

Ihm fiel die Kinnlade herunter. »Wohl kaum«, gab er sichtlich beleidigt zurück.

Danger konnte sich nicht verkneifen, ihn noch ein wenig weiterzuärgern … »Na ja, immerhin sind Sie im antiken Griechenland aufgewachsen.«

»Was hat das damit zu tun?«

Sie zuckte die Achseln. »Wir wissen doch, wie die alten Griechen so waren. Sehr freundschaftlich im Umgang miteinander. Nackt in Ringkämpfen, bei denen sie sich gegenseitig begrapscht haben.«

»Unsinn!«, erklärte er aufgebracht.

Endlich hatte sie ihm eine echte Gefühlsregung entlockt. Sie konnte stolz auf sich sein.

Und offen gestanden, genoss sie es in vollen Zügen, ausnahmsweise nicht diejenige zu sein, die einstecken musste. »Also bitte, das steht doch in jedem Geschichtsbuch. Ihr Jungs habt es wild miteinander getrieben. Sogar Achilles hat es mit Patroclus getan. In Homers Ilias waren sie weit mehr als nur Freunde.«

Seine grünen Augen glühten vor Zorn. »Das waren die späteren Griechen. Nicht wir. Ihretwegen sind sämtliche Stadtstaaten in Verruf geraten.«

»Dann geben Sie also zu, dass Sie Grieche sind?«

Er kniff die Augen zusammen, als ihm aufging, dass sie ihm eine Art Geständnis entlockt hatte.

»Meine Güte, jetzt kriegen Sie nicht gleich einen Herzanfall«, neckte sie. »Ich werde es schon keinem verraten. Obwohl mir nicht ganz einleuchtet, weshalb Sie so ein Geheimnis darum machen, schließlich sind griechischstämmige Dark Hunter bei uns doch total angesagt.« Sie deutete auf den Platz neben sich auf dem Sofa. »Bitte, setzen Sie sich, Mr. Miesepeter.«

Umständlich setzte er sich auf die Armlehne und sah wieder zum Fernseher.

Danger musste zugeben, dass sie noch faszinierter von ihm und der Traurigkeit war, die ihn zu überwältigen schien, während er wie versteinert von Hollywoods Darstellung seiner Welt war. Zum ersten Mal hatte er etwas an sich, das beinahe als menschlich bezeichnet werden konnte. »Waren Sie ein Krieger?«

Er nickte kaum merklich.

Sie sah zwischen dem Fernseher und Alexion hin und her und versuchte sich ihn in griechischer Rüstung vorzustellen. Unter Garantie war er ein höchst ansehnlicher Krieger gewesen, schlank und durchtrainiert … genau die Art Mann, die eine Frau dazu verführte, stundenlang sein Sixpack zu streicheln. Und bestimmt hatte sein langes blondes Haar, das unten aus dem Helm hervorquoll, unglaublich sexy ausgesehen.

Sie ertappte sich bei der Frage, ob sein Hinterteil es wohl mit dem von Brad aufnehmen konnte …

Seine Züge verfinsterten sich erneut. »Meine Güte, wenn das da Griechen sein sollen, wieso haben die dann einen englischen Akzent?«

Sie lachte. »Wussten Sie nicht, dass britisches Englisch für Hollywood der Inbegriff von ›Fremdsprache‹ ist? Britisches Englisch wird immer dann eingesetzt, wenn man dem Film ein ausländisches Flair geben will, unabhängig davon, wo er spielt.«

»Aber das sind doch Griechen. Also sollten sie auch so klingen.«

»Ich verstehe, was Sie meinen, aber lassen Sie’s einfach gut sein.«

Wortlos verfolgte er das Geschehen, bis Brad Pitt Brian Cox zur Rede stellte, der die Rolle von König Agamemnon spielte, dem Anführer der Griechen. »Das ist doch nicht Agamemnon«, stöhnte er. »Er war bei weitem nicht so alt. Klytaimnestra hat ihn getötet, lange bevor er so grauhaarig werden konnte.«

Danger verbiss sich das Lachen, um ihn nicht zu weiteren störenden Kommentaren zu ermutigen. »Würden Sie einfach still sein und sich den Film ansehen?«

»Aber das ist doch nie passiert. Das ist reine Erfindung.«

Sie warf ein Kissen nach ihm. »Hallo, Mr. Plaudertasche, ich habe keine Lust auf eine Lektion in griechischer Geschichte. Und wenn doch, dann würde ich die Ilias lesen …«

»Auch sie entspricht nicht der Wahrheit.«

Danger horchte auf. »Wie alt sind Sie?«

Er schnaubte. »Älter als Ilion, so viel steht damit wohl fest.«

»Hat Ash von Ihnen gelernt, so vage Antworten zu geben, oder war es umgekehrt?«

Er warf das Kissen zurück, ehe er sich wieder dem Fernseher zuwandte, wo Helena gerade ihren Auftritt hatte. »Helena kriegen sie nie wirklich authentisch hin, was? Mann, diese Frau war eine wahre Schönheit. Sie hätten sie sehen sollen. Sie hatte ein Lachen, das klang, als würden die Engel singen. Und ihr Körper … tja, kein Wunder, dass sie all ihre Verehrer schwören lassen musste, ihren Ehemann nicht aus purer Eifersucht zu töten.«

Danger erwiderte nichts darauf. Schwärmereien über die Vorzüge anderer Frauen gehörten nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich ein klein wenig über seine Begeisterung für eine Frau ärgerte, die seit mehr als Tausenden von Jahren tot war.

»Wir können schließlich nicht alle Helena sein, oder?«

Sie sah die Verlegenheit auf seinen Zügen, als ihm dämmerte, was er gerade von sich gegeben hatte. »Aber Sie sind auch wunderschön.«

»Schon gut«, schoss sie sarkastisch zurück. »Sparen Sie sich die Lobhudeleien, mein Freund. Das kam ein klein wenig zu spät.«

Ausnahmsweise schwieg er.

Zumindest bis zu der Szene von Paris und Helena in Helenas Schlafgemach. Alexion sah zu Danger hinüber. »Und sein Hintern reizt Sie nicht?«

Danger verschluckte sich beinahe an ihrem Popcorn. Gütiger Himmel, dieser Mann hatte keinerlei Benehmen! Er würde jede Frage stellen. Sie konnte nie sicher sein, was er als Nächstes auf Lager hatte.

Sie hustete und sah ihn ungläubig an.

»Nicht besonders«, erwiderte sie, nachdem sie wieder Luft bekam. »Ich bin kein allzu großer Fan von Orlando Bloom, von seiner Rolle als Legolas in Herr der Ringe einmal abgesehen. Legolas würde ich allerdings nicht von der Bettkante stoßen. Eines muss ich dem Casting-Direktor lassen – wem auch immer bei seinem Anblick die Worte ›Elf mit langen blonden Haaren‹ in den Sinn gekommen sind, verdient einen Preis.«

Er deutete auf Eric Bana, der den Hektor verkörperte. »Und was ist mit ihm?«

»Er ist ganz okay, aber auch nicht mein Geschmack. Ich stehe nicht auf Dunkelhaarige, sondern eher auf Blonde. Deshalb finde ich auch Orlando Bloom nur als Legolas sexy und als Paris nicht.«

Das Interesse, das in seinen Augen aufblitzte, entging ihr nicht. »Da ist ja schön zu hören.«

Danger hatte keine Ahnung, weshalb es solchen Spaß machte, diesen Mann aufzuziehen, den sie eigentlich hassen sollte. Sie konnte einfach nicht anders. »Schade nur, dass es Ihnen nichts nützt.«

»Wieso nicht? Ich bin schließlich blond.«

»Das stimmt, aber leider nicht menschlich.« Sie blickte wieder zum Fernseher, wo Brad Pitt als Achilles gerade gegen seinen Cousin kämpfte. »Er allerdings auch nicht«, stöhnte sie atemlos. »Ich schwöre, dieser Mann ist ein Gott.«

Alexion schnaubte abfällig. »Er ist kein Gott, und der da war in Wirklichkeit auch nicht Achilles’ Cousin.«

»Ja, ja, das weiß ich, aber in einem Punkt irren Sie sich ganz gewaltig – Brad ist ein Gott. Ich meine, sehen Sie sich doch nur mal diesen Körper an.«

»Finde ich nicht.«

»Sollten Sie aber.«

Wieder schnaubte er abfällig. »Ich habe schon schönere gesehen.«

Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Nicht so, wie Sie denken«, stieß er empört hervor. »Ich meine … ich habe nie …«

»Geben Sie’s auf, Grieche. Sie haben sich zu weit hinausgewagt, und jetzt läuft Ihnen das Wasser schon in den Mund.«

Alexion hätte wütend und empört über den Verlauf ihrer Unterhaltung sein sollen, aber seltsamerweise war er es nicht. Es war Jahrhunderte her, seit ihn jemand auf diese Weise auf den Arm genommen hatte. Und sie war schlagfertig und klug, das musste er ihr lassen.

Er sah zu, wie sie sich über ihr Popcorn hermachte. »Wieso ist dieses Zeug so weiß?«

»Wie viele Fragen wollen Sie mir eigentlich noch stellen?«

»Ich war nur neugierig. Und wenn man bedenkt, wie viele Fragen Sie mir gestellt haben, ist es nur fair, wenn ich den Spieß umdrehe.«

»Mag ja sein, aber es muss doch nicht mitten im Film sein.« Seufzend versenkte sie die Hand in der Popcorn-Schüssel. »Es ist immer weiß, es sei denn, Sie geben etwas drauf.« Sie hielt ihm die Schüssel hin. »Wollen Sie?«

»Nicht nötig. Ich kann es sowieso nicht schmecken«, erinnerte er sie.

»Es ist fast nur Luft ohne Salz und Butter, deshalb schmeckt es nicht nach viel, aber die Beschaffenheit können Sie ja trotzdem spüren, oder?«

Er nahm eine kleine Handvoll und probierte. Wie sie vorhergesagt hatte, fühlte es sich merkwürdig im Mund an. Knusprig und nahezu gewichtslos. »Wieso essen Sie das Zeug, wenn es nach nichts schmeckt?«

»Ich mag es. Es ist gesund.«

»Aber Sie sind unsterblich, deshalb kann kein Lebensmittel schädlich für Sie sein.«

Sie musterte ihn drohend. »Würden Sie endlich den Mund halten und fernsehen?«

Danger erschrak ein wenig, als er sich von der Armlehne erhob und neben sie setzte. Außerdem bediente er sich weiter an ihrem Popcorn. Es war ungewohnt, jemanden an ihrer Seite zu haben. Nicht einmal Keller teilte ihre spätabendlich-frühmorgendlichen Fernsehsessions – eine Beschäftigung, der sie regelmäßig nachging, um sich nach der Arbeit ein wenig zu entspannen. Es gab nicht viele Daimons in Tupelo. Die meisten Dark Hunter bekamen schlechte Laune, wenn sie keine Beschäftigung hatten, doch sie genoss diesen Zustand in vollen Zügen.

Aus diesem Grund verbrachte sie viele Abende allein zu Hause, sah sich eine DVD an oder telefonierte mit anderen weiblichen Dark Huntern. Ihre Lieblingskolleginnen waren Ephani, die ebenfalls hier in Tupelo stationiert war, und Zoe, die gerade nach New York City gezogen war. Beide waren Amazonen und hatten ein paar höchst interessante Tricks für den Umgang mit Männern auf Lager.

Die meisten davon beinhalteten Peitschen, Ketten und Handschellen.

Alexions Hand streifte ihre Finger, als sie im selben Moment in die Schüssel griffen. Die Kälte seiner Haut erstaunte sie noch immer. Kein Wunder, dass er seinen Mantel anbehielt.

»Wieso ist Ihre Haut so kalt?«, fragte sie.

»Ist sie das?«

»Wie bei einer Leiche.«

»Oh«, sagte er, als wäre ihm völlig neu, dass seine Körpertemperatur es mit jedem Eiswürfel aufnehmen konnte. »Na ja, schließlich bin ich tot.«

»Ich auch, trotzdem habe ich noch einen Puls und so etwas wie Körperwärme.« Ihr kam eine merkwürdige Idee. Sie nahm seine Hand und tastete nach seinem Puls. Nichts. »Wieso haben Sie keinen Puls?«

Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, spürte sie seinen Herzschlag, und seine Haut wurde eine Spur wärmer, dort, wo ihre Finger ihn berührten.

Abrupt ließ sie seine Hand los und sprang auf. »Das gibt’s doch nicht. Was zum Teufel ist mit Ihnen los?«

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er aufrichtig. »Das einzige Wesen, das mich sonst berührt, ist Simi, und sie fühlt sich auch kalt an. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie sich meine Haut für Sie anfühlt, sonst hätte ich mich zuerst gewärmt.«

Sie starrte ihn völlig verwirrt an. Er konnte seinen Herzschlag und seine Körpertemperatur kontrollieren? So etwas hatte sie ja noch nie gehört. »Wie machen Sie das?«

»Ich denke daran, und dann passiert es.«

Danger setzte sich wieder hin und berührte sein Gesicht. Es fühlte sich an wie jedes andere. Seine Haut war eindeutig wärmer als vorher, wenn auch nicht ganz so warm wie die eines Menschen.

Seine Bartstoppeln fühlten sich rau unter ihren Fingern an und beschworen eine tiefe, beinahe beängstigende Sehnsucht in ihr herauf.

Er schloss die Augen und genoss die Berührung ihrer Hand. Schließlich wandte er den Kopf kaum merklich, ehe er die Augen aufschlug. Die ungezähmte Begierde in seinem Blick machte ihr beinahe Angst.

Ehe sie verstand, was geschah, senkte er den Kopf und legte den Mund auf ihre Lippen.

Ihr erster Impuls war, zurückzuweichen und ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen, doch ein anderer Teil von ihr ergab sich seinem zärtlichen Kuss. Und wie zärtlich er war. Behutsam. Der Kuss eines liebenden Mannes, der ihr Blut zum Kochen brachte.

Sie konnte sich kaum mehr erinnern, wann sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen hatte. One-Night-Stands waren ihr nie besonders reizvoll erschienen. Na schön, das stimmte nicht ganz. Eine Zeit lang, kurz nach ihrer Verwandlung in eine Dark Hunterin, hatte sie ihre Sexualität ohne Angst vor Krankheiten und Schwangerschaft neu entdeckt.

Aber diese Phase hatte nicht lange gedauert. Da es Dark Huntern nicht gestattet war, romantische Beziehung mit anderen einzugehen, war ihr nichts anderes als Sex geblieben. Und Sex ohne gegenseitige liebevolle Fürsorge erfüllte sie nicht.

Sie zog sich zurück. »Ich bin niemand, der mit jedem in die Kiste steigt, Alexion.«

Ein Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus, charmant und unerwartet. »Ich schon.«

Sie lachte und schüttelte den Kopf. »So sind die meisten Männer.«

Alexion erwiderte nichts. Wie sollte er auch, wo sein Körper und seine Lippen noch von der Berührung ihrer weichen Lippen brannten? Diese Frau besaß eine Zunge, die jede noch so verborgene Fantasie in ihm geweckt hatte, und er fragte sich, welche Fähigkeiten sie noch mitbrachte …

»Sollten Sie es sich anders überlegen, Danger …«

»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.«

Verdammt. Das war einer der Gründe, weshalb er wünschte, Acheron hätte ihn zu einem männlichen Dark Hunter geschickt. Mittlerweile hätte der sich längst auf die Jagd nach einer Frau gemacht, was Alexion die Zeit gegeben hätte, sich ebenfalls eine hübsche Bettgespielin zu suchen.

Doch er bezweifelte, dass Danger mit ihm ausgehen würde, damit er nach einer passenden Kandidatin Ausschau hielt.

»Verstehe«, sagte er.

Oh ja, alles klar. Er verstand vielleicht theoretisch, doch sein Körper sprach eine andere Sprache. Er sehnte sich so sehr danach, sie noch einmal zu schmecken und zu berühren, dass er Mühe hatte, still neben ihr zu sitzen.

Auf Katoteros enthaltsam zu leben, war an sich ein schwieriges Unterfangen, auf der Erde war es schlicht und ergreifend unerträglich. So dicht neben einer Frau zu sein und sie nicht besitzen zu können …

Er gab ein leises Wimmern von sich.

»Alles in Ordnung?«

»Bestens«, antwortete er und wünschte, es gäbe irgendwo eine kalte Dusche. Doch auch das würde wohl nichts mehr nützen. Er hatte so lange auf die Berührung verzichten müssen, dass nichts mehr helfen würde, nur noch die Erfüllung seiner Lust.

»Haben Sie vielleicht irgendwelche willigen Freundinnen?«, erkundigte er sich.

Sie starrte ihn angewidert an. »Sie sind ein Schwein!«

»Verzichten Sie mal zweihundert Jahre auf Sex, dann sehen Sie schon, wie Sie sich fühlen«, gab er trotzig zurück. »Sie haben gut reden – spielen hier die Unschuld vom Lande und sehen auf mich herab, während Sie in Wahrheit jederzeit Sex haben können, wenn Ihnen der Sinn danach steht. Mir dagegen bleiben nur die nächsten Tage. Und danach muss ich für den nächsten Aufstand der Dark Hunter beten, um wieder einmal die Chance zu bekommen, eine Frau zu sehen. Haben Sie eine Ahnung, wie oft das vorkommt?«

»Sie freuen sich also darauf, uns zu töten?«

»Nein, aber nach mehreren hundert Jahren kommt einem schon der eine oder andere radikale Gedanke in den Sinn.«

Danger sah ihn fassungslos an.

»Außerdem wäre es hilfreich gewesen, wenn Sie einen Film ausgesucht hätten, bei dem die Leute angezogen bleiben. Disney produziert zum Beispiel ganz ausgezeichnete Streifen.«

Dieser Mann war unglaublich! »Ich fasse es nicht, dass Sie Ashs oberster Was-auch-immer sind und an nichts anderes als daran denken können, wie Sie möglichst schnell eine Frau ins Bett kriegen. Sie sind eine männliche Schlampe! Und es kümmert Sie noch nicht einmal, mit wem Sie schlafen!«

»Das stimmt nicht. Gewisse Ansprüche habe ich durchaus. Keine allzu hohen, das stimmt, aber trotzdem …« Er sog scharf den Atem ein. »Ich bin so hart, dass es schon wehtut, und das hat einiges zu bedeuten, wenn man bedenkt, dass ich eigentlich keine Schmerzen empfinden kann.« Er schmollte, mit dem Ergebnis, dass sie sogar tatsächlich so etwas wie Mitleid mit ihm empfand. Wenn auch nur ein ganz klein wenig.

»Ziemlich mieser Abend für Sie, was?«

»Sie haben ja keine Ahnung«, gab er mit einem abgrundtiefen Seufzer zurück, ehe er aufstand und in den Flur trat.

»Wohin wollen Sie denn?«

»Ich mache einen kleinen Spaziergang durchs Haus und versuche, an etwas Kaltes, Widerliches zu denken.«

Danger wartete, bis er den Raum verlassen hatte, ehe sie in Gelächter ausbrach. Ein Teil von ihr fühlte tatsächlich mit ihm. Andererseits war es fast genauso lange her, seit sie das letzte Mal mit jemandem geschlafen hatte. Sie ging nun mal nicht gern mit einem Unbekannten ins Bett. Wie viele ihrer Dark-Hunter-Kolleginnen sehnte sie sich nach dem Einzigen, was sie nie wieder haben würde – eine feste Beziehung. Das war wohl das Schwierigste an ihrer Unsterblichkeit. Mit Ausnahme der Amazonen, die von Geburt an nicht auf eine Beziehung mit einem Mann ausgerichtet waren, vermissten die anderen weiblichen Hunterinnen schmerzlich, was ihnen zu Lebzeiten vergönnt gewesen war.

In manchen Nächten fehlte ihr sogar ihr Ehemann, auch wenn es noch so seltsam klang. Bis zu dem Tag, an dem er sie verraten hatte, war er der Mensch gewesen, den sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte. Michel hatte diesen lässig-eleganten Charme besessen, mit dem er jeden in seinen Bann schlug. Im Gegensatz zu Alexion war er kein einziges Mal ins Fettnäpfchen getreten.

Andererseits hatte Alexion wenig Kontakt mit anderen Menschen, wenn sie seinen Worten Glauben schenken durfte.

»Oh, tu’s nicht, Danger.«

Zu spät. Sie war bereits aufgestanden und machte sich auf die Suche nach ihm.

Sie fand ihn unten, wo er eine ihrer DVDs in der Hand hielt, als hätte er noch nie eine gesehen.

»Alles klar?«, fragte sie.

Er nickte mit finsterer Miene. »Was ist denn das?«

»Eine DVD. So was haben wir oben gerade angesehen.«

»Eine DVD

Er wusste also nicht, was eine DVD war? War so etwas möglich? »Richtig. Sehen Sie sich zu Hause Ihre Filme denn nicht auf DVD an?«

»Nein. Die Filme laufen eben.«

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Was meinen Sie damit?«

Er tat so, als wäre seine Erklärung völlig einleuchtend. »Wann immer Simi oder Ash sich etwas ansehen wollen, erscheint es auf dem Bildschirm.«

»Einfach so?«

»Ja.«

Das war völlig unmöglich. »Sie meinen, Sie haben ein Film-Abo?«

»Wir haben alles, was wir wollen und wann wir es wollen. Ich sehe mir jedenfalls gezielt Filme an, wenn Simi nicht zu Hause ist. Sie dagegen konsumiert sie wie am Fließband.«

Schon wieder dieser Name. »Wer ist diese Simi, von der Sie ständig reden?«

Alexion stand auf. Sein erster Impuls war, Dangers Frage nicht zu beantworten, aber eigentlich gab es keinen Grund, es ihr vorzuenthalten. »Sie ist eine Mischung aus Adoptivtochter und nervtötender kleiner Schwester.«

»Und sie lebt bei Ihnen und Acheron? In seinem Haus, von dem keiner weiß, dass es existiert?«

»Genau.«

Danger war erstaunt, wie scheinbar mühelos sie ihm etwas hatte entlocken können. »Und niemand kommt je zu Besuch?«, hakte sie nach, in der Hoffnung auf mehr.

»Nur Artemis und Urian.«

Artemis kannte sie. »Urian?« Ehe er etwas sagen konnte, beantwortete sie ihre Frage selbst. »Moment. Lassen Sie mich raten – er ist auch ›anders‹.«

»Ja.«

»Ist Ash der Einzige, der nicht ›anders‹ ist?«

Seine Miene wurde ausdruckslos, als wolle er etwas vor ihr verbergen.

Danger hatte Mühe, ihn nicht fassungslos anzustarren. »Wollen Sie damit sagen, dass Ash auch ›anders‹ ist?«

»Ich sage überhaupt nichts.«

Das brauchte er auch nicht. Sein Schweigen sprach Bände. Sie hätte gern weitere Fragen darüber gestellt, was Ash und Simi waren, beschloss jedoch, dass sie für heute genug fruchtlose Versuche unternommen hatte. Sie war es leid, ständig gegen die sprichwörtliche Mauer anzurennen.

Mit einem resignierten Seufzer sah sie zum Plasmafernseher hinüber, der durch ein Wunder wieder funktionstüchtig war. »Haben Sie etwa meinen Fernseher repariert?«

»Das erschien mir angemessen, nachdem ich ihn schließlich kaputt gemacht hatte.«

Sie trat hinüber, um ihn in Augenschein zu nehmen. Er sah völlig normal aus. Und kaum stand sie davor, erwachte der Bildschirm zum Leben.

Danger machte vor Schreck einen Satz. Die Fernbedienung lag auf dem Bücherregal vor ihr. »Wie haben Sie das gemacht?«

»So wie immer.« Der Fernseher ging aus.

Eilig wandte sie sich ab. Welche Kräfte besaß dieser Mann?

Er trat hinter sie. Seine Gegenwart war irritierend. Sie war sich seiner Anwesenheit bewusster, als sie es je zuvor bei einem Mann erlebt hatte. Etwas an ihm zog sie regelrecht magisch an.

»Hab keine Angst vor mir, Danger«, flüsterte er dicht neben ihrem Ohr, was ihr einen eisigen Schauder über den Rücken jagte. »Ich werde dir niemals wehtun, solange du nicht versuchst, Acheron zu schaden.«

»Nein, nur meinen Freunden.«

Sie spürte, wie er ihren Zopf hochhob und ihn sich dicht vors Gesicht hielt, um den Duft ihres Haars in seine Lunge zu saugen.

»Ich weiß.« Er ließ ihren Zopf sinken und trat noch dichter hinter sie. Seine Anwesenheit war regelrecht überwältigend. Übermächtig. Sie konnte sein Verlangen spüren, sie in den Armen zu halten.

Trotzdem tat er nichts.

Alexion biss die Zähne zusammen und malte sich aus, wie es sich anfühlen würde, sie an sich zu ziehen. Die Arme von hinten um sie zu schlingen und ihre Brüste mit den Händen zu umfassen. Es wäre so einfach, sie unter den Gummizug ihrer Flanellhose zu schieben … mit den Fingern durch das Dreieck aus Haaren zwischen ihren Beinen zu streichen. Sie zu berühren. Ihr Stöhnen an seinem Ohr zu hören, während ihr Atem heiß seine Haut berührte.

Er spürte förmlich ihre Feuchtigkeit.

Bei der Vorstellung, wie er eine kleine Kostprobe davon nahm, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Fleischliche Begierde war das Einzige, was er als Unsterblicher noch immer mit derselben Intensität erleben konnte wie als Mensch. Genau aus diesem Grund sehnte er sich so danach. Auf diese Weise konnte er für ein paar Minuten seine kalte, einsame Existenz vergessen und sich wieder wie ein Mensch fühlen.

Er konnte sich mit einem anderen Menschen verbunden fühlen, beinahe begehrt.

Doch sie begehrte ihn nicht.

Die Einsamkeit schnitt durch sein Herz und zerfetzte es. Wollen, aber niemals bekommen – das war sein ewiges Schicksal. In vielerlei Hinsicht war er wie Tantalos. Auch er konnte sehen, was er sich wünschte, doch wann immer er die Hand danach ausstreckte, kam irgendetwas daher und nahm es ihm genau in der Sekunde wieder weg, in der er es berührte.

Verdammt.

Mit zusammengebissenen Zähnen trat er einen Schritt zurück. Er spürte ihre Erleichterung, die ihn nur noch trauriger machte.

»Und? Spielen alle männlichen Dark Hunter den Zuhälter für Sie?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Normalerweise gehen sie nur dorthin, wo … sagen wir … man viele willige Frauen findet.« Und normalerweise warfen sich ihm diese willigen Frauen bereitwillig an den Hals. Ein Jammer, dass Danger keinerlei Anstalten machte, es ihnen nachzutun.

»Darauf gehe ich jede Wette ein.«

Er ignorierte ihre vor Hohn triefende Bemerkung. Sie hatte ja keine Ahnung, wie wichtig diese Art des Kontakts für ihn war. Sie kam jeden Abend mit anderen Menschen in Berührung. Er nicht. Sein einziger Kontakt zur Welt erfolgte über Monitore und die sfora in Katoteros – er war kalt und steril.

So wie ich.

Das ließ sich nicht leugnen. Und es schien mit jedem Jahrhundert qualvoller zu werden. Wie Acheron hatte auch er seine Menschlichkeit mehr und mehr verloren. Das war einer der Gründe, weshalb es ihm so wichtig war, Kyros zu retten. Seit Jahrhunderten war dies das erste Mal, dass ihm etwas wirklich zu Herzen gegangen war.

Er wollte seinen alten Freund um jeden Preis retten.

Doch das würde warten müssen. Er spürte bereits, dass die Morgendämmerung hereinbrach.

Danger sah aus dem Fenster, als könnte sie es ebenfalls spüren. »Es wird spät. Ich denke, ich werde mich jetzt zurückziehen.«

Er nickte. Sie wandte sich ab und verließ das Wohnzimmer.

Kaum war sie verschwunden, kehrte das Gefühl zurück, beobachtet zu werden.

Unbehaglich massierte Alexion sich den Nacken. »Ich schwöre dir, Simi, wenn du es bist und nicht mit diesem Unsinn aufhörst, werde ich deine Kreditkarten nächstes Mal nicht in einer Kassette einschließen, sondern sie in Stücke schneiden.«