9
Danger quälte sich durch den folgenden Tag. Es war gerade einmal kurz vor sechs Uhr abends, als sie von abscheulichen Bildern aus einem unruhigen Schlaf gerissen wurde und sich mit hämmerndem Herzen im Bett aufsetzte.
Wüste Träume hatten sie heimgesucht – lüsterne Bilder von Alexion vermischten sich mit dem Alptraum, er sei gekommen, um sie zu töten. Und egal wie erotisch jeder Traum anfing, er endete stets auf dieselbe Weise: Alexion sperrte sie in einen überfüllten dunklen Raum, in dem sich bereits zahllose andere Dark Hunter drängten. Gestalten, abgemagert und heruntergekommen, die um Gnade winselten, bis sie endlich nacheinander auf die Place de Grève geführt wurden, wo die blutbeschmierte Guillotine auf ihren nächsten Einsatz wartete.
Das laute Zischen der fast fünfzig Kilo schweren Klinge hallte in ihren Ohren wider und mischte sich mit den Schreien der Zuschauer und der Daimons, die ihren Tod begeistert bejubelten.
Doch der grässlichste Teil ihres Traums war das Bild von Alexion, der wie Madame Defarge neben dem Geschehen saß und eine Liste strickte, damit der Scharfrichter (Acheron) wusste, wer als Nächstes an der Reihe war.
Charles Dickens möge verdammt sein für diese Bilder! Ihre eigenen Erinnerungen an die Revolution waren schon schlimm genug, als dass sie noch weitere gebrauchen konnte.
Beide Hände um ihren Hals, lag sie im Bett, während die grauenvollen Schreie in ihren Ohren hallten. Wieder und wieder sah sie die Gesichter der Unschuldigen, die vom wild gewordenen Mob getötet wurden, um sich an einer ganzen Gesellschaftsschicht zu rächen. Es war Jahrzehnte her, seit sie das letzte Mal von Erinnerungen an ihre Zeit als Mensch heimgesucht worden war.
An ihren Tod.
Doch nun tauchten die Bilder mit erschreckender Klarheit und Hässlichkeit wieder auf. Sie erinnerte sich wieder an die Zeit kurz nach der Revolution, als es in Paris als ausgesprochen chic galt, so genannte Opferbälle zu organisieren, zu denen lediglich Familien zugelassen waren, die Mitglieder aufweisen konnten, die den Umtrieben des Revolutionstribunals zum Opfer gefallen waren. Die Gäste trugen rote Bänder um den Hals, um an das Teufelswerk von Madame La Guillotine zu erinnern. Die Bälle waren eine entsetzlich morbide Idee gewesen und hatten sie bewogen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und nie wieder einen Fuß über die Grenze zu setzen.
Sie hasste diese Erinnerungen, ebenso wie alles andere, was damit zusammenhing. Es war so unfair gewesen, nur wegen der Gier eines einzelnen Mannes alles zu verlieren. Eines Mannes, den sie selbst in die Familie gebracht hatte. Ohne sie wären ihr Vater, dessen Ehefrau und ihre Geschwister niemals gestorben.
Warum hatte sie Michels Lügen geglaubt? Warum nur?
Die Schuld und die Scham quälten sie bis zum heutigen Tag.
Sie hatte ihre Familie getötet, weil sie sich in ein verlogenes, hinterhältiges Arschloch verliebt hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Kehle wurde so eng, dass sie kaum noch atmen konnte.
»Papa«, schluchzte sie, während der Schmerz über seinen Verlust in ihr tobte. Ihr Vater war ein anständiger Mann gewesen, der sich stets um die Menschen gekümmert hatte, die in seinen Diensten standen. Weder ihr noch ihrer Mutter hatte es an etwas gefehlt. Er war sogar bereit gewesen, auf seinen Adelstitel zu verzichten, als ihre Mutter unerwartet schwanger geworden war.
Hätte er es getan, wäre ihm dieses Schicksal erspart geblieben … Doch ihre Mutter hatte sich geweigert. Sie war eine selbstbestimmte Frau gewesen, die keinen Ehemann gewollt hatte, der ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie war eine der renommiertesten Schauspielerinnen ihrer Zeit gewesen und hatte Angst gehabt, er würde darauf bestehen, dass sie der Bühne den Rücken kehrte und sich um Haus und Familie kümmerte.
Selbst nach der Zurückweisung hatte ihr Vater beharrlich versucht, ihre Mutter umzustimmen, und für ihrer beider Unterhalt gesorgt. Erst als Danger volljährig geworden war, hatte er eingesehen, dass ihre Mutter ihre Meinung wohl nie ändern würde.
Erst in dieser Zeit hatte er eine Frau gefunden, die er schließlich geheiratet hatte.
Trotzdem hatten er und seine Ehefrau sich Danger gegenüber stets freundlich gezeigt. Ihre Stiefmutter hatte sie sogar mit offenen Armen in ihrem Haus empfangen. Maman Esmée hatte sie mit Liebe und Hingabe förmlich überhäuft.
Sie war nicht viel älter als Danger gewesen und hatte sie niemals wegen ihres Status als uneheliche Tochter verachtet. Stattdessen hatten sich die beiden jungen Frauen rasch angefreundet und waren zu engen Vertrauten geworden.
Selbst heute noch sah sie vor sich, wie sie sich liebevoll geneckt hatten. Sie sah Esmées Gesicht, wenn sie sie zum Hutkaufen mitschleppte – Esmées große Schwäche. Sie kam an keinem Schaufenster vorbei, ohne hineinzugehen und zu sehen, was es Neues gab. Sie konnte Stunden bei der Hutmacherin zubringen und jede einzelne Kreation anprobieren, während ihr Vater ihr lachend dabei zusah.
Danger hatte sie beide so geliebt …
Und dann, mitten in dieser verhassten Sommerhitze, hatte die Revolution die Stadt heimgesucht, schlimmer als eine Choleraepidemie. Tausende waren innerhalb weniger Wochen gestorben.
Ihr Bruder Edmonde war gerade einmal vier Jahre alt gewesen, ihre kleine Schwester Jacqueline noch nicht einmal ein Jahr, als ihre Landsleute sie brutal ermordet hatten. Keines ihrer Familienmitglieder hatte den Tod verdient, zu dem man sie verurteilt hatte.
Keiner.
Bis auf ihren Ehemann. Er hatte jede Wunde verdient, die sie ihm für seinen gemeinen Verrat zugefügt hatte. Und all das nur, weil er das Haus ihres Vaters begehrt und es selbst hatte besitzen wollen. Er hatte es bekommen, o ja, allerdings hatte sie dafür gesorgt, dass er nicht lange genug gelebt hatte, um es auch genießen zu können.
Zitternd vor Zorn und Kummer schob sie ihre rot-goldene Decke zurück und zog die goldfarbenen Vorhänge ihres antiken Himmelbetts zur Seite.
Alexion sollte in der Hölle verrotten, ehe sie bereit war, ihn bei der Jagd auf die Dark Hunter oder sonst jemanden zu unterstützen. Sie würde sich unter keinen Umständen an dieser Hexenjagd beteiligen. Wenn Acheron sie alle tot sehen wollte, sollte er sich gefälligst selbst darum kümmern.
Sie würde Alexion nicht helfen, sie würde niemanden verurteilen. Davon hatte sie als Mensch mehr als genug gesehen.
Sie wusch sich das Gesicht, zog sich an und machte sich auf die Suche, um ihm anständig die Meinung zu sagen.
Doch ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken, als sie ihn auf dem Sofa in ihrem Fernsehzimmer sitzen sah, wo er es sich mit einem Stapel DVDs auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Er sah genauso aus wie am Vorabend, und wüsste sie es nicht besser, hätte sie geschworen, dass er keine Sekunde geschlafen hatte.
Sie blieb im Türrahmen stehen und sah zu, wie er mithilfe seines Fingers den Rekorder zu einer Szene vorspulen ließ.
Wie machte er das?
»Wo ist die Fernbedienung?«, fragte sie.
Er wandte sich um. »Fernbedienung?«
»Ja, Sie wissen schon, dieses kleine Ding, mit dem man den Fernseher ein- und wieder ausschaltet.«
Er sah auf seinen Finger.
Verwirrt trat Danger vor das DVD-Regal und nahm die Fernbedienung. »Wie können Sie den Fernseher ohne die hier bedienen?«
Er wedelte mit der Hand, worauf der Fernseher ausging.
Völlig verdattert legte sie die Fernbedienung zurück. »Sie sind ein echter Freak.«
Er sah sie mit erhobener Braue an, sagte jedoch nichts.
Danger trat vor ihn und griff nach seiner Hand, die, wie sie dankbar feststellte, ausnahmsweise warm war. Sie sah aus wie jede andere Hand … abgesehen von ihrer beachtlichen Größe und den sorgfältig manikürten Fingernägeln.
Es war unübersehbar eine Männerhand, stark und schwielig. Sie hielt sie in Richtung Fernseher.
Nichts.
»Sitzen Sie auf einer Universalfernbedienung?«, fragte sie argwöhnisch.
Er sah sie nur mit Unschuldsblick an.
»Stehen Sie auf«, sagte sie und zog ihn auf die Füße, um einen Blick auf die Kissen werfen zu können.
Nein, keine Fernbedienung.
Frustriert starrte sie ihn an. »Also. Wie haben Sie das gemacht?«
Er zuckte die Achseln. »Ich wollte, dass der Fernseher ausgeht, also ging er aus.«
»Wow«, stieß sie hervor. »Das ist ja Wahnsinn. Ich schätze, das macht mich zur glücklichsten Frau der Welt.«
»Inwiefern?«
»Weil ich den einzigen Mann gefunden haben, der nie ›Wo ist die Fernbedienung, Schatz?‹ rufen und dann das ganze Haus auf den Kopf stellen wird.«
Er sah sie ebenso verwirrt an wie sie ihn. »Ich verstehe Sie nicht. Sie sind eine Unsterbliche, ein Geschöpf der Nacht mit hellseherischen Fähigkeiten und Vampirzähnen. Wie kommt es, dass Sie sich so schwer damit tun, mich als das zu akzeptieren, was ich bin und was ich kann?«
»Weil es gegen alles verstößt, woran ich bisher geglaubt habe. Wir«, sagte sie und zeigte auf sich selbst, »wir Dark Hunter sollten doch eigentlich das Unheimlichste sein, was nach Einbruch der Dämmerung auf den Straßen unterwegs ist. Dann kommen Sie auf einmal daher, und ich stelle fest, dass unsere Kräfte im Vergleich zu Ihren der reinste Witz sind. Das bringt mich völlig aus dem Konzept.«
Sie sah ihm an, dass ihre Worte ihn erstaunten. »Wieso denn? Sie wussten doch schon immer, dass Acheron das mächtigste Geschöpf in unserer Welt ist.«
»Das stimmt, aber er ist einer von uns.«
Wann immer sie etwas sagte oder tat, was ihm gegen den Strich ging, wurde seine Miene ausdruckslos.
»Was denn?«, fragte sie. »Wollen Sie mir jetzt erzählen, Ash sei kein Dark Hunter?«
»Er ist einzigartig in unserer Welt.«
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Uns allen. Das ist in vielen Diskussionen der Dark-Hunter-Foren ein Thema.«
Sie bemerkte ein boshaftes Flackern in seinen Augen, das sie dunkler als gewöhnlich wirken ließ. »Ich weiß. Ich war stundenlang unter einem Pseudonym eingeloggt und habe euch auf falsche Fährten geführt, um zu sehen, wie ihr mit den Spekulationen umgeht. Ich muss sagen, es hat einen Riesenspaß gemacht, euch beim Hantieren mit den Puzzleteilchen, wer oder was er ist, zuzusehen.«
Die Vorstellung amüsierte und ärgerte sie zugleich. »Sie sind echt krank.«
Er zuckte lässig die Achseln. »Mit irgendetwas muss ich doch meine Langweile vertreiben.«
Vielleicht hatte er ja recht, und es war nur eine harmlose Art, um die Monotonie seines Daseins zu durchbrechen. Trotzdem gefiel ihr die Vorstellung nicht, manipuliert zu werden.
Doch darum ging es jetzt nicht. Für den Augenblick gab es wichtigere Dinge, die sie mit diesem schrägen Vogel zu bereden hatte. »Ich habe nachgedacht.«
»Und?«
»Und ich bin zu einem Entschluss gelangt. Wenn Sie und Ash dieses Spielchen durchziehen wollen, das Sie offenbar alle paar Jahrhunderte spielen, müssen Sie es schon selbst tun. Ich werde Ihnen nicht dabei helfen, andere Dark Hunter zu töten. Ich will mit dem Verurteilen anderer nichts zu tun haben. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wozu so etwas führt, und das war alles andere als schön. Ich will nie wieder das Blut Unschuldiger an meinen Händen kleben haben.«
Er holte tief Luft, als müsse er erst verdauen, was sie gerade gesagt hatte. »Wir sind aber nicht das Revolutionstribunal«, sagte er schließlich und musterte sie finster.
Sie war erstaunt, dass er den Grund ihrer Entscheidung auf Anhieb durchschaut hatte, doch es änderte nichts. »Nein, Sie sind Richter, Jury und Vollstrecker in einer Person. Für meine Begriffe macht Sie das zu etwas wesentlich Schlimmerem. Wenn Sie mich töten wollen, dann töten Sie mich. Ich wäre lieber ein Shade, als meine Freunde oder selbst meine Feinde so schmählich zu verraten. Glauben Sie mir, nachdem ich selbst so hinterhältig verraten wurde, werde ich es ganz bestimmt keinem anderen antun.«
Seine Augen nahmen wieder ihre unheimliche grüne Färbung an. »Es ist nicht schwer, tapfer zu sein, wenn man keine Ahnung hat, was es bedeutet, ein Shade zu sein.«
»Oh, ich weiß es durchaus. Man wird von ständigem Hunger und Durst getrieben, ohne sie jemals stillen zu können. Niemand kann einen sehen, hören und so weiter und so weiter. Dieses Schicksal ist schlimmer als der Tod selbst, denn es gibt keine Belohnung, keine Wiederauferstehung. Es ist die Hölle. So viel weiß ich.«
»Nein, Danger«, sagte er mit schmerzerfüllter Stimme. »Sie wissen es nicht.«
Aus einem Impuls heraus legte er ihr eine Hand auf die Schulter. Schmerz und grauenvolle Bilder durchzuckten sie. Sie sah einen Mann, den sie nicht kannte. Er stand mitten auf einer überfüllten Straße in New York und schrie, jemand möge ihn doch sehen. Ihn hören.
Er versuchte, die Hände nach den Passanten auszustrecken, doch sie schienen geradewegs durch ihn hindurchzugehen. Und jede Seele, die ihn dabei berührte, bohrte sich wie eine spitze Glasscherbe in seinen Phantomkörper. Es tat weh, brannte und bereitete ihm unsägliche Schmerzen.
Sie konnte den Hunger fühlen, der so tief in seinem Innern nagte, dass sie keine Worte dafür fand. Der Mann litt schrecklichen Durst, der seine Mundhöhle und seine Lippen verbrannte wie ein Feuer, das sich niemals löschen lassen würde. Die erbarmungslosen, unablässigen Schmerzen drohten ihn zu verschlingen, ebenso wie die Einsamkeit, die Sehnsucht nach einem Gespräch, und wenn es nur für einen kurzen Augenblick war.
Etwas in ihm schrie nach Erlösung, bettelte voller Inbrunst darum, sterben zu dürfen.
Er flehte um Vergebung.
Alexion löste seinen Griff und senkte den Kopf. »Das bedeutet es, ein Shade zu sein, Danger. Ist es wirklich das, was Sie wollen?«, flüsterte er ihr zornig ins Ohr.
Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Nicht einmal im Traum hätte sie gedacht, dass es so schlimm sein und dass es eine derartige Hölle geben könnte. Selbst jetzt war das Bild des Mannes noch in ihre Seele eingebrannt und schmerzte auf eine Weise, auf die sie nicht gefasst gewesen war. »Wer ist das?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Er heißt Erius und ist seit mehr als zweitausend Jahren zu diesem Dasein gezwungen.«
Alexions tiefe Stimme hallte in ihren Ohren wider. Er stand so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem an ihrem Hals spüren konnte. »Er dachte, er könnte ein Gott sein, bräuchte dafür nur ein paar Menschen zu töten und ihnen wie ein Daimon die Seele herauszureißen. So wie Kyros es gerade tut, hat auch er eine Gruppe Dark Hunter um sich geschart, um sich gegen Acheron und Artemis aufzulehnen. Er könne sie in die Freiheit führen, hat er den Dark Huntern versprochen. Sie alle hätten die Gabe, Götter zu werden. Sie müssten nur auf ihn hören und seinem Beispiel folgen.«
Danger schluckte gegen den Kloß in ihrer Kehle an und sah ihn forschend an. »Haben Sie ihn getötet?«
»Nein«, antwortete er, während sein Blick und sein Tonfall eine Spur milder wurden. »Acheron hat es getan. Er ging zu ihm und versuchte, ihm alles zu erklären, aber Erius wollte nicht auf ihn hören. Er wollte nicht von dem Glauben ablassen, Acheron hätte das Geheimnis um die Macht der Daimons entdeckt, das er ihnen allen vorenthalte. Acherons Auftauchen schürte seine Wut nur noch, und am Ende hat er sich genau damit selbst verflucht. Es war das letzte Mal, dass Acheron einen Dark Hunter aufgesucht und zu retten versucht hat.«
Ein gequälter Ausdruck trat in seine Augen. »Danach habe ich das übernommen. Ich gehe zu ihnen und tue so, als wäre ich ebenfalls ein Dark Hunter. Ich versuche ihnen zu erklären, dass Acheron ihnen nichts vorenthält und dass sie mit ihren Mutmaßungen über den Ursprung seiner Kräfte falschliegen. Normalerweise hören die meisten auf mich und lassen es gut sein.«
Es war durchaus nachvollziehbar, weshalb Alexion derjenige sein sollte, der eingriff, denn wenn Acheron auftauchte, würde Kyros ihn ohne Umschweife angreifen. Männer aus dem Altertum waren nicht gerade bekannt dafür, dass sie ihre Konflikte sachlich ausdiskutierten. »Auf einen der Ihren hören sie jedenfalls eher.«
Er nickte. »Aber Dark Hunter sind von Natur aus rachsüchtig. Sie wurden im Leben betrogen, deshalb kommen viele nur allzu leicht auf die Idee, dass es im Tod genauso sein könnte. Sie brauchen jemanden, den sie hassen können.«
»Und Acheron ist das perfekte Ziel.«
»Ja. Er ist mächtiger als sie, und jeder weiß, dass es Dinge gibt, die er euch nicht sagt. Ist der Keim der Lüge also erst einmal gepflanzt, schlägt er rasch Wurzeln und wächst zu Hass, Misstrauen und schließlich Revolution heran.«
Sie wich einen Schritt zurück, um einen klaren Gedanken fassen zu können. »Wieso sagt Acheron dann nicht einfach die Wahrheit, sondern verschweigt uns seine Vergangenheit?«
Alexion zuckte die Achseln. »Als ich Sie gestern Abend gebeten habe, mit mir zu schlafen, haben Sie mit dem Argument abgelehnt, Sie wollten keinen Sex mit einem Fremden haben. Trotzdem haben Sie die ersten fünfzig Jahre Ihres Daseins als Dark Hunterin einen Liebhaber nach dem anderen …«
Sie unterbrach ihn, indem sie ihm die Hand auf den Mund legte. »Woher wissen Sie das?«
Er begann, an ihrer Handfläche zu knabbern, worauf sie sie zurückriss. Sein Lächeln war verschmitzt und keineswegs unfreundlich. »Ich weiß eine ganze Menge über Sie. Genauso wie Acheron.«
Die Vorstellung behagte ihr gar nicht. »Haben Sie mich ausspioniert?«
»Nein, aber ich kenne Sie. Meine Kräfte gleichen in vielerlei Hinsicht denen Acherons, deshalb kann ich ebenso wie er in Ihr Herz und in Ihre Vergangenheit blicken.«
Danger legte den Kopf schief, unsicher, ob es ihr gefiel, so durchschaubar zu sein. Jeder sollte einen Teil von sich im Verborgenen halten können. »Dann wissen Sie auch über Acherons Vergangenheit Bescheid?«
Sie sah die Scham in seinem Blick, ehe er sich löste. »Antworten Sie mir, Alexion.«
Mit einem resignierten Atemzug wandte er sich dem Regal zu und begann, die DVDs einzuräumen. »Ja. Ich bin per Zufall auf seine Vergangenheit gestoßen.«
Der gequälte Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er sich wünschte, er hätte niemals etwas davon erfahren. »Es war gleich zu Anfang, als ich gelernt habe, meine Kräfte einzusetzen.« Er hielt inne. »Damals wusste ich nicht, wie ich diese Fähigkeit kontrollieren konnte, und stieß rein zufällig darauf. Als er nach Hause kam, fand er die sfora – die Seherkugel – in meinem Zimmer. Er sah mich an, und mir war klar, dass er Bescheid wusste.«
Sie hatte Acheron niemals wütend erlebt, doch angesichts des Geheimnisses, das er um seine Vergangenheit machte, musste er außer sich vor Zorn gewesen sein. »Wie hat er reagiert?«
Alexions Blick heftete sich auf den Boden, als sehe er den Tag genau vor sich. »Er nahm die sfora und sagte ›Ich sollte dir wohl zeigen, wie man sie korrekt benutzt.‹«
Sie blinzelte ungläubig. »Das war alles?«
Er nickte, ehe er sich erneut den DVDs zuwandte. »Ich habe nie darüber gesprochen, und er genauso wenig.«
»Und was haben Sie ges…«
»Bitte fragen Sie nicht«, unterbrach er. »Sie wollen es nicht wissen, glauben Sie mir. Es gibt Dinge, die man am besten ruhen lässt.«
»Aber …«
»Kein Aber, Danger. Er hat gute Gründe, weshalb er nicht über sein Leben als Mensch spricht. Niemand würde davon profitieren, wenn er Bescheid wüsste. Für ihn persönlich hingegen wäre es sehr verletzend. Das ist der Grund, weshalb er nicht darüber spricht. Er enthält den Dark Huntern kein wichtiges Geheimnis über ihre Welt vor; von der Tatsache, dass Artemis sich keinen Pfifferling um euch schert, einmal abgesehen. Aber was hättet ihr davon? Ihr seid besser dran, wenn ihr an die Lüge glaubt.«
Vielleicht hatte er recht. Sie selbst hätte sehr gut ohne das Wissen leben können, dass es Artemis nicht im Mindesten kümmerte, was aus ihnen wurde. »Aber weshalb sind wir dann erschaffen worden?«
»Ganz ehrlich?«
»Bitte.«
Seufzend stellte er die letzte DVD ins Regal. »Ich habe es Ihnen schon gesagt. Artemis wollte Acheron an sich binden. Und die einzige Methode, um das zu erreichen, war, seine Schuldgefühle auszunutzen. Deshalb hat sie seine eigenen Kräfte gegen ihn verwendet, indem sie die ersten Dark Hunter erschaffen hat. Sie wusste, dass Acheron sich niemals gegen die Unschuldigen wenden würde, denen Artemis nur seinetwegen ihren Handel angeboten hat.«
Alexion fixierte sie mit einem drohenden Blick. »Seine Schuldgefühle sind der Grund dafür, weshalb Acheron alles darangesetzt hat, dass ihr Unterstützung durch eure Diener bekommt und für eure Arbeit entlohnt werdet. Die Dark Hunter haben diesem Mann alles zu verdanken, was sie sind und besitzen, und ich meine es genau so, wie ich es sage. Er bezahlt mit seinem Blut dafür, wann immer einer von euch seine Freiheit zurückhaben will, und er leidet tagtäglich, damit ihr alle euer kleines behagliches Leben in Reichtum und Luxus führen könnt.«
Das Feuer loderte förmlich in seinen grünen Augen. »Und ich muss zugeben, dass es mich jedes Mal rasend macht, wenn es einer von euch wagt, sich gegen ihn zu stellen. Acheron verlangt nichts von euch, und genau das bekommt er auch. Wann hat sich das letzte Mal einer von euch bei ihm bedankt?«
Schuldgefühle ergriffen sie.
Er hatte völlig recht. Sie hatte sich niemals bei Acheron für ihre Ausbildung oder sonst etwas bedankt. Zumindest konnte sie sich nicht erinnern. Wenn sie sich bei jemandem für ihr Leben bedankte, dann war es Artemis.
»Wieso erzählt Acheron uns nicht die Wahrheit?«, fragte sie.
»Weil es nicht seine Art ist. Er braucht es nicht für sein Ego, beweihräuchert oder gewürdigt zu werden. Alles, worum er euch bittet, ist, dass ihr eure Arbeit erledigt und nicht sterbt.«
Ein Muskel an seinem Kiefer begann zu zucken. »Und jetzt zu erfahren, dass Kyros, einer der ersten Dark Hunter, sich gegen ihn wendet, macht mich auf eine Art und Weise wütend, die ich nicht einmal ansatzweise beschreiben kann. Von allen Dark Huntern sollten gerade er und Callabrax wissen, dass Acheron keinen von euch jemals für eine Privatfehde benutzen würde.«
Danger nickte. Wenn Alexion die Wahrheit sagte – und ehrlich gesagt, begann sie ihm allmählich zu glauben –, musste die Erkenntnis, dass Kyros sich gegen ihn gewendet hatte, sehr schmerzlich für Acheron sein. »Kyros und Brax sind wahre Legenden.«
»Das stimmt, und genau aus diesem Grund muss ich Kyros Einhalt gebieten. Auf ihn werden mehr Dark Hunter hören als auf sonst jemanden, weil er schon so lange da ist.«
Das war ein überzeugendes Argument, trotzdem wünschte sie, er würde sie nicht in diese Angelegenheit hineinziehen. Als sie etwas erwidern wollte, trat erneut dieser merkwürdig distanzierte Ausdruck in seine Augen.
»Sie sind wieder da«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Danger stöhnte resigniert. »Bitte, Miss Carol Anne, hören Sie doch endlich mit dieser Poltergeist-Nummer auf. Wenn wir keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen können und sie uns nichts tun, will ich gar nicht wissen, dass sie uns belauschen.«
Er ging nicht auf ihre Bemerkung ein. »Simi«, knurrte er. »Ich habe hier wichtige Dinge zu erledigen und kann diesen Unsinn jetzt nicht gebrauchen. Ich schulde Kyros zu viel, um zuzusehen, wie er stirbt, aber wenn du mich ständig ablenkst, kann ich ihn nicht retten.«
Danger horchte auf. »Sie klingen ja fast, als würden Sie den ganzen Tag mit Simi reden.«
»Stimmt. Aber sie muss es sein. Sie sieht uns eine Weile zu, dann verschwindet sie, und nach einer Weile fängt es wieder an.«
Das klang ziemlich ausgeflippt, aber wenn es ihr Spaß machte … »Haben Sie überhaupt nicht geschlafen?«
Wieder antwortete er nicht, was sie zum nächsten Punkt führte, der ihr aufgefallen war. »Sie sagten gerade, Sie stünden in Kyros’ Schuld. Inwiefern?«
Er zögerte kurz. »Ich bin ihm die Chance schuldig, am Leben zu bleiben«, antwortete er dann.
Sie glaubte ihm keine Sekunde. Es klang völlig absurd. Die plötzliche Ausdruckslosigkeit in seiner Miene verriet, dass er ihr etwas verschwieg.
Und in diesem Augenblick wusste sie, was los war. »Sie kannten ihn.«
Immer noch dieser emotionslose Ausdruck in seinen Augen. »Ich kenne alle Dark Hunter.«
Durchaus möglich, aber sie spürte, dass das nicht alles sein konnte. »Nein. Da ist noch mehr. Etwas Persönliches. Ich kann es fühlen.«
Er wandte sich ab.
Sie folgte ihm. »Reden Sie mit mir, Alexion. Wenn Sie wirklich wollen, dass ich Ihnen helfe, müssen Sie mir eine ehrliche Antwort geben.«
»Ich war Ihnen gegenüber von Anfang an ehrlich.« Er ging zur Tür.
Danger blieb stehen und wartete, bis er im Begriff war, den Raum zu verlassen.
Mittlerweile hatte sie einen Verdacht, wer er sein könnte, und nun war der Zeitpunkt gekommen, die Probe aufs Exempel zu machen. »Ias?«
Er blieb stehen und sah sich um. »Was?«, fragte er, während er automatisch auf den Namen reagierte.
Ihr fiel die Kinnlade herunter. Sie hatte also recht gehabt, und zwei Sekunden später wurde es ihm ebenfalls bewusst. Seine Miene versteinerte sich.
»Mon Dieu«, stieß sie hervor, als seine Seltsamkeit plötzlich einen Sinn ergab. Das war der Grund, weshalb er keinen Geschmackssinn mehr besaß. Und zu keiner wahren Empfindung mehr imstande war.
Und deshalb wusste er auch so genau, wie es war, ein Shade zu sein …
»Es stimmt also«, sagte sie atemlos. »Sie sind der dritte Dark Hunter, der nach Acheron erschaffen wurde. Der erste, der gestorben ist.«
»Nein, das stimmt nicht, und Ias ist ein Shade.«
Sie glaubte ihm kein Wort. »Und wenn ich genau in dieser Sekunde mit Ihnen zu Kyros gehen würde, was würde er sagen? Mit welchem Namen würde er Sie ansprechen?«
Alexion biss die Zähne zusammen. Diese Frau hatte ihn scheinbar mühelos durchschaut.
Es war sinnlos, auch nur zu versuchen, die Wahrheit vor ihr zu verbergen. Sie würde es in der Sekunde erfahren, wenn Kyros ihn ansah.
Verdammt.
»Er würde mich Ias nennen. Aber ich war nicht der erste Dark Hunter, der gestorben ist«, fügte er hinzu. Er wollte, dass sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. »Die Daimons hatten bereits vor mir zwei Männer getötet, bevor Acheron von uns erfahren hat.«
Er spürte, wie sich etwas in ihrem Innern veränderte. Ihre Züge wurden weicher, als sie den Raum durchquerte und vor ihn trat. Suchend wanderte ihr Blick über sein Gesicht, ehe sie die Hand hob und sie behutsam auf seine Wange legte.
Diese schlichte Berührung drohte ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Wie konnte er auf einmal eine solche Empfindung haben? Jahrhundertelang hatte er für niemanden Gefühle entwickelt, nur für Simi und Acheron.
Und nun mit einem Mal eine solche Empfindung …
Es war unglaublich.
Ihre dunklen Augen waren das Tor zu ihrem Herzen. »Shades besitzen doch gar keine menschliche Gestalt.«
»Tun sie auch nicht.«
Sie strich ihm über die Wange. »Für mich fühlen Sie sich aber sehr real an.«
Ihre Berührung erregte ihn so sehr, dass es beinahe schmerzte. In der Vergangenheit waren seine Begegnungen mit Frauen stets flüchtig gewesen – gerade lange genug, um seine Lust zu befriedigen. Danach waren die Frauen verschwunden, und er hatte sie niemals wiedergesehen. Doch nie hatte er bei diesen Begegnungen eine so zärtliche Berührung genossen; eine Berührung, die ihn trösten sollte, die ihn besänftigte und sich zugleich wie ein glühender Lavastrom durch sein Innerstes fraß. »Ich bin anders als die anderen.«
»Inwiefern?«
Unfähig, die ungewohnte Zärtlichkeit noch länger zu ertragen, löste er ihre Hand von seinem Gesicht. Sie diente ohnehin nur einem Zweck – seine Sehnsucht nach etwas zu schüren, das er niemals haben konnte.
Er war jenseits aller menschlichen Regungen.
Jenseits menschlicher Gefühle.
»Acheron glaubt, er sei für meinen Tod verantwortlich«, erklärte er leise. »Ohne seinen groben Fehler wäre ich niemals zum Shade geworden. Deshalb hat er mir eine menschliche Gestalt gegeben und mich zu sich und Simi geholt.«
»Das ist also der Grund, weshalb Sie ihn in Schutz nehmen.«
Er nickte. »Ich kann Ihnen versichern, eine Existenz als Shade ist nicht gerade ein Zuckerschlecken. Meine kurze Zeit als richtiger Shade hat mich gelehrt, dass es nichts Schlimmeres auf der Welt gibt, deshalb bin ich jeden Tag für Acherons Gnade dankbar.«
Sie hatte großen Respekt vor seiner Loyalität gegenüber dem Mann, der ihn gerettet hatte, und doch verlieh die Tatsache, dass er anderen ein Schicksal zuteilwerden ließ, dem er selbst entgangen war, seinem Vorhaben etwas Makabres. »Wie viele andere haben Sie und Acheron schon zu einer Existenz als Shade verdammt?«
»Keiner von uns tut so etwas leichtfertig, so viel kann ich Ihnen versichern. Nur diejenigen, die gestorben sind, weil sie Jagd auf hilflose Menschen gemacht haben, sind dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit in diesem Zustand zu verharren. Alle anderen, die in Ausübung ihrer Pflicht gestorben sind, kommen in eine Art Paradies, wo es ihnen gut geht und sie nicht leiden müssen. Das würde Acheron niemals zulassen.«
Danger runzelte die Stirn. Das hatte sie noch nie gehört. Bisher waren sie alle davon ausgegangen, dass diejenigen, die in Ausübung ihrer Pflicht starben, dasselbe leidvolle Dasein erwartete wie die Shades.
Und zwar unwiederbringlich.
»Wieso hat Ash uns nie etwas davon gesagt?«
»Weil ein Shade im Gegensatz zu einem Dark Hunter nicht zu seiner Existenz als Mensch zurückkehren kann. Jede Hoffnung auf eine zukünftige Reinkarnation ist vergebens. Sie können nicht darauf hoffen, jemals wieder ein normales Leben zu führen.«
Das klang für ihre Begriffe keineswegs logisch. Er war doch real, schien aus Fleisch und Blut zu bestehen. »Aber Sie …«
»Ich besitze keinen menschlichen Körper, Danger.« Er blickte mit schmerzverzerrter Miene an sich hinunter. »Diese Gestalt, die Sie im Augenblick sehen und spüren, hat gewissermaßen ein Ablaufdatum. In ein paar Tagen muss ich in meine Welt zurückkehren, sonst verschwinde ich vollends. Acheron hat Angst, dass die Dark Hunter, wenn sie herausfänden, dass es doch eine Möglichkeit gibt, den Qualen zu entgehen, noch erbarmungsloser wären und sich noch weniger vor dem Tod fürchten würden. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es da draußen noch viel schlimmere Dinge als den Tod gibt.«
»Und zwar?«
Das Leid in seinen Augen ließ Schlimmes ahnen, und als er fortfuhr, wusste sie, dass er aus eigener Erfahrung sprach. »In der Ewigkeit allein leben zu müssen, ohne die Hoffnung, dass sich jemals etwas daran ändert. Sie haben keine Ahnung, was für ein Glück Sie und all die anderen Dark Hunter haben. Sie leben in der ständigen Gewissheit, dass Sie eines Tages wieder frei sein können. Das ist eine Hoffnung, die Ihnen stets bleibt.«
Danger schnürte es den Hals zu. Er war einmal einer von ihnen gewesen. Und ihm hatten sie es zu verdanken, dass sie die Möglichkeit hatten, jederzeit auszusteigen. Wäre er nicht gewesen, hätte ihnen Artemis niemals dieses Schlupfloch gewährt. Wie entsetzlich, mit der Gewissheit leben zu müssen, dass man anderen ein so unglaubliches Geschenk gemacht hatte, das man selbst niemals würde in Anspruch nehmen können. »Es tut mir sehr leid, wie ich Sie behandelt habe.«
Verwirrt musterte er sie.
»Sie hätten mir sagen müssen, dass Sie selbst früher ein Dark Hunter waren.«
»Warum ist das wichtig?«
»Es ist wichtig«, meinte sie und strich ihm behutsam über den Arm. »Wenn Sie die Wahrheit sagen, und ich gehe davon aus, dass Sie das tun, weiß ich, dass Stryker gelogen hat.«
Bei der Erwähnung dieses Namens wurde er blass. »Stryker? Der Daimon?«
»Sie kennen ihn?«
Alexion stieß einen Fluch aus und wandte den Blick gen Himmel. »Acheron! Falls du mich hören kannst, schaff sofort deinen Hintern hierher, Boss. Wir haben ein echtes Problem.«
Als nichts passierte, fluchte er erneut. »Acheron!«
»Was ist los?«, fragte Danger.
»Ich weiß noch nicht einmal, wo ich anfangen soll, Ihnen klarzumachen, wie sehr wir am Arsch sind, wenn Stryker hier ist und Acheron nicht.«
»Er ist doch nur ein Daimon.«
»Nein«, widersprach er. »Er ist ein Gott. Und zwar ein überaus bösartiger, der Acheron aus tiefster Seele hasst.«
Das klang nicht gerade vielversprechend. Angst stieg in ihr auf. Wenn sich jemand, der so mächtig war wie Alexion, vor dem Kerl fürchtete, war die Lage brenzlig. »Im Ernst?«
»Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«
Nein. Ganz und gar nicht. Sie fluchte ebenfalls.
Alexion schüttelte den Kopf, als wolle er ein lästiges Insekt vertreiben. »Simi«, stieß er aufgebracht hervor. »Hör sofort auf, mich zu beobachten, und hol akri. Ich brauche ihn.«
Augenblicke später hörte Danger eine Stimme, bei deren Klang sie einen erleichterten Seufzer ausstieß.
»Danger? Alexion?«, rief Acheron aus der Diele.
»Gott sei Dank«, sagte sie und ging zur Tür.
»Nein!«, rief Alexion, als sie die Finger um den Türknauf legte, lief zu ihr und riss sie genau in der Sekunde zurück, als die Tür zerbarst und Holzsplitter quer durch den Raum regneten.
Dangers Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie eine Gestalt auftauchen sah, die wie eine Art Dämon aussah – vollständig nackt bis auf einen schwarzen Lendenschurz und mit dunkelgrün-schwarz marmorierter Haut. Das Geschöpf war nicht sehr groß, höchstens einen Meter zwanzig, und besaß große, schwarze, ölig aussehende Flügel, mit denen es hereingeflogen kam. Seine leuchtend gelben, hasserfüllten Augen schienen sie zu durchbohren, während es das Maul aufriss und ein zorniges Fauchen ausstieß, wobei ein Paar scharfer Vampirzähne zum Vorschein kamen.
Danger schluckte. »Bitte sagen Sie mir, dass das Simi ist.«
Die Kreatur schwang sich in Richtung Zimmerdecke, als habe sie vor, einen Bogen zu schlagen und sich geradewegs auf sie zu stürzen.
Alexions Blick spiegelte ihr eigenes Entsetzen wider. Als er sprach, schnitten sich die Worte wie ein glühend heißer Dolch durch ihre Eingeweide. »Nein, das ist definitiv nicht Simi!«