15

Danger stieg aus dem Wagen und blieb stehen. Sie standen vor Kyros’ Haus, und sie waren nicht allein. Neben einem Motorrad stand ein auffälliger roter Ferrari auf der Straße geparkt, den sie nur zu gut kannte.

»Was hat Rafael hier zu suchen?«, fragte sie.

Alexion schlug die Beifahrertür zu. »Wahrscheinlich versucht Kyros, ihn auf seine Seite zu ziehen, so wie er es auch mit dir versucht hat.«

Aber ihr Freund konnte doch nicht so dumm sein. Sie mochte Rafael gern und wollte nicht, dass ihm wehgetan wurde. »Das wird nie im Leben funktionieren, oder?«

In diesem Augenblick ging die Haustür auf.

Ein gut aussehender Afroamerikaner trat aus dem Haus. Er hatte sich den Schädel rasiert, so dass eine kunstvoll verschnörkelte Tätowierung zu erkennen war, die vom Nacken bis zum Scheitelpunkt seines Kopfes verlief. Rafael Santiago trug sein Markenzeichen, einen langen schwarzen Ledermantel, eine schwarze Lederhose und ein eng anliegendes schwarzes Strickhemd, unter dem jede Wölbung seines Sixpacks zu erkennen war.

Rafael war die Personifizierung des »harten Burschen«. Zu Lebzeiten war er nicht davor zurückgeschreckt, jedem die Kehle aufzuschlitzen, der ihn nur einen Moment zu lange angesehen hatte. Er kannte keine Gnade. »Mach die anderen fertig, bevor sie dich fertigmachen« – so hatte die Devise des unverschämt gut aussehenden Mannes gelautet.

Doch trotz seiner messerscharfen Zunge und seiner aufbrausenden Art hatte Danger ihn als echten Schatz kennengelernt. Er besaß eine bemerkenswerte Loyalität gegenüber jenen, die er als seine Freunde betrachtete, und würde sogar töten, um sie zu beschützen.

Sein Outfit wurde von einer dunklen Sonnenbrille vervollständigt, die nahezu sein gesamtes Gesicht verdeckte. Doch Danger erkannte den einstigen Piratenkapitän, der seit fast sechzig Jahren in Columbus stationiert war, auf den ersten Blick.

»Rafael«, begrüßte sie ihn, als er vor ihnen stehen blieb.

Trotz der Sonnenbrille spürte sie die Neugier, mit der er Alexion musterte. »Wer ist denn dein Freund?«

»Das ist Al«, sagte sie und vermied bewusst, Alexions vollen Namen auszusprechen, für den Fall, dass Kyros ihn bereits erwähnt hatte. Sie hätte ihn als Ias vorgestellt, doch es gab nur einen Ias, und neugierige Fragen waren so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. »Er ist Grieche.«

Rafael streckte ihm die Hand hin. »Neue Hunter sind mir immer willkommen.«

»Danke.« Alexion ergriff die Hand und schüttelte sie.

»Was führt dich hierher?«, fragte Danger.

Rafael nahm die Sonnenbrille ab und verdrehte die Augen. »Eigentlich waren wir zu fünft hier, aber die anderen sind schon weg. Kyros wollte Ephani und mich nicht gehen lassen, weil wir im Gegensatz zu den anderen Schwachköpfen diesen Blödsinn nicht glauben.«

»Welchen Blödsinn?«, hakte Alexion nach.

Seufzend strich Rafael mit der Hand über seine ausgeprägte Kinnpartie. »Er hat die kranke Idee im Kopf, Acheron sei ein Daimon. Bestimmt ist das der Grund, weshalb er euch beide herbestellt hat. Er will euch denselben Unsinn einreden. Dieser Mann ist ein Idiot. Ich gehe jetzt auf Patrouille, bevor ich diesem Arschloch an die Gurgel gehe und mir selbst noch dabei wehtue.«

Danger lachte. »Und glauben es die anderen?«

»So bereitwillig, als hätte er ihnen eine Hure nach einem Jahr auf See versprochen.«

»Was macht dich so sicher, dass er nicht doch recht hat?«, hakte Alexion nach.

»Bist du Acheron je begegnet?«

Danger verbarg ihre Belustigung und beobachtete voller Bewunderung, wie Alexion seine Fassade aufrechterhielt. Gleichzeitig war sie stolz, dass Rafael nicht so dumm war wie die anderen.

Alexions Miene blieb völlig ausdruckslos. »Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet.«

»Wie kannst du dann an ihm zweifeln?«, fragte Rafael. »Heilige Scheiße, ihr seid so was von blöd. Ich muss dringend los, bevor es abfärbt.«

Alexion erstarrte. »Deine Worte sind eine Beleidigung.«

Rafael starrte ihn drohend an. »Sei so lange beleidigt, wie du willst. Es ändert nichts an den Tatsachen.« Er sah Danger an. »Los, meine kleine französische Blume, stell meinen Glauben an das Gute wieder her, und sag mir, dass du es nicht glaubst.«

»Nein, tue ich nicht.«

»Braves Mädchen«, lobte er mit einem bezaubernden Zwinkern. »Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist.«

Alexion schüttelte den Kopf und lachte.

Rafael beugte sich vor und drückte Danger einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Bis dann, Franzosenmädchen.«

»Au revoir«, sagte sie, während er sich auf den Weg zu seinem Wagen machte.

Sie wandte sich wieder Alexion zu, der sie mit eigentümlicher Miene ansah, und deutete mit dem Kopf in Richtung Eingangstür. »Gehen wir?«

»Après toi, ma petite

»Alles klar mit dir?«

»Bestens. Wieso?«

»Keine Ahnung. Ich spüre da so etwas. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf Rafael, oder?«

Mit einem Mal schien er sich höchst unwohl in seiner Haut zu fühlen. »Lass uns reingehen.«

Verblüfft blieb Danger stehen. »Du bist eifersüchtig?«

Alexion biss die Zähne zusammen. Er wusste, wie idiotisch es war, aber Gefühle hatten nun mal keinen Verstand, wie Acheron stets sagte. Und er sollte eigentlich gar keine haben. Seit dem Tag, als seine Frau ihn auf dem Fußboden hatte sterben lassen, hatte er keine Gefühle mehr für eine Frau entwickelt.

Dennoch konnte er seine Empfindungen nicht leugnen. Und was ihm am meisten zusetzte, war die Tatsache, dass Rafael immer noch in Dangers Nähe war, wenn er längst verschwunden wäre. Er könnte sie sehen, mit ihr reden, während er bestenfalls in seiner sfora einen Blick auf sie erhaschen konnte.

Es war einfach nicht fair. Und es machte ihn wütend, dass er etwas so Besonderes, das er in der letzten Nacht mit ihr entdeckt hatte, würde zurücklassen müssen. Es mochte selbstsüchtig und gierig sein, doch er wollte mehr. Er wollte sie nicht in wenigen Tagen hier zurücklassen müssen.

Das ist völlig idiotisch, das weißt du ganz genau.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ja, schon gut, dann war ich eben einen Moment lang eifersüchtig. Es gefiel mir nicht, wie er dich angesehen hat.«

»Wir sind nur Freunde.«

Trotzdem versetzte es ihm einen Stich. Ein Teil von ihm wollte sie für sich behalten. »Ich weiß.«

Danger stellte sich auf die Zehenspitzen, legte die Hand um seinen Hinterkopf und zog ihn zu sich herab. »Du hast nichts zu befürchten, Ias.«

Er war ihr dankbar für diese Worte … ebenso wie für die Tatsache, dass sie ihn mit seinem alten Namen angesprochen hatte. Es war viel zu lange her, dass ihn jemand verwendet hatte, und es gab ihm das Gefühl, wieder menschlich zu sein.

Er ballte die Faust, als ihn eine Woge der Zärtlichkeit überkam und sein Herz schneller zu schlagen begann. Er schloss die Augen und wünschte, dieser Moment würde ewig dauern.

Oh, hätte er doch nur die Macht, diesen Wunsch wahr werden zu lassen. Dafür zu sorgen, dass dieser Augenblick niemals endete.

Doch viel zu schnell ließ sie ihn los und wandte sich zum Haus um. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er den Drang nieder, sie zurückzurufen, um sie noch eine Weile in den Armen zu halten.

Es war idiotisch. Er war hier, um eine Aufgabe zu erfüllen. Er musste Kyros retten.

Als sie auf das Haus zukamen, trat Ephani aus der Tür und kam über die Veranda die Treppe heruntergestürzt, um sie zu begrüßen. Die Amazone überragte Danger um mindestens dreißig Zentimeter, sie war schlank und wunderschön – und zugleich knallhart und ruppiger als jeder gestandene Mann. Ihr flammend rotes Haar quoll unter einem silberfarbenen Barett hervor und ergoss sich über ihren Rücken.

»Lass dir von mir einen Rat geben, Danger«, sagte sie mit ihrem unüberhörbaren griechischen Akzent. »Geh nach Hause, und lass dich in diesen Sumpf gar nicht erst hineinziehen.«

Dangers Miene verriet ihm, wie erleichtert sie war, diese Worte zu hören. »Dann glaubst du es also auch nicht?«

Ephani stieß einen herzhaften Fluch aus. »Sagen wir mal so – ich will es nicht glauben.«

»Aber?«

Die Amazone zuckte die Achseln. »Ich traue Acheron nicht. Das habe ich noch nie getan.«

Danger lachte. »Du traust doch keinem Mann.«

Ephani bedachte Alexion mit einem vielsagenden Blick. »Und du solltest das auch nicht tun, Schwesterchen. Lass dir von einer Amazone einen Rat geben. Reite ihn die ganze Nacht, und wenn der Morgen graut, jag ihm ein Messer zwischen die Rippen.«

Acheron hob eine Braue. »Ziemlich hart.«

»So ist nun mal das Leben.« Ephani legte den Kopf schief, als hätte sie plötzlich seine Kleidung bemerkt. »Du trägst ja einen weißen Mantel.«

»Und du besitzt beeindruckende kognitive Fähigkeiten.«

Sie schien alles andere als amüsiert über seine trockene Erwiderung zu sein. »Bist du der Zerstörer?«

»Nein«, erwiderte er, ohne zu zögern. »Dieser Titel gehört einer Frau. Sie ist nicht zu übersehen. Sie ist groß, blond und sieht meistens aus, als wäre ihr eine Laus über die Leber gelaufen.«

Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht … Ephani sah aus, als wolle sie ihm am liebsten ins Gesicht springen.

»Er ist hier, um uns zu helfen«, warf Danger ein, ehe Ephani Alexion angehen konnte.

Als Alexion nichts sagte, wandte Danger sich zu ihm. »Oder, Liebling?«

Er zuckte die Achseln. »Ephani kennt die Wahrheit. Sie zweifelt nicht ernsthaft und wird am Ende die richtige Entscheidung treffen.«

Danger stieß einen erleichterten Seufzer aus. Sie hatte die Amazonen-Kriegerin immer sehr gemocht und wollte, dass ihr ebenso wenig etwas passierte wie Rafael.

Ephani kniff die Augen zusammen und funkelte ihn an. »Beherrschst du auch Acherons Gedankenverschmelzungsschwachsinn?«

»Absolut«, bestätigte er mit einem spöttischen Grinsen. »Und es ist okay, dass du mich nicht ausstehen kannst. Ich bin nicht hier, um neue Freunde zu finden.«

Sie sah wieder Danger an. »Lass die Finger von ihm, Schwesterchen. Dieser Kerl ist ein Freak. Und ich muss jetzt gehen, solange noch etwas von meinen Kräften übrig ist. Ich war viel zu lange mit Kyros und den anderen zusammen.« Sie zog ihre Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. »Pass gut auf dich auf, Danger.«

»Du auch.«

Ephani nickte ihnen zu, ehe sie sich zum Gehen wandte.

Danger wandte sich Alexion zu. »Wie willst du sie retten, wenn du sie nur gegen dich aufbringst?«

»Ich habe nur Ephani verärgert, und bei ihr besteht, wie ich schon sagte, keine Gefahr, dass sie sich auf die verkehrte Seite stellt. Es sind die anderen, die mich brauchen.«

Sie konnte nur hoffen, dass er recht hatte. Ephanis Argwohn gegenüber Acheron und jedem anderen Mann durfte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Ihre Freundin hatte sich schon oft ins eigene Fleisch geschnitten, und Danger hoffte, dass es diesmal nicht so kam.

Sie lief die Treppe hinauf, dicht gefolgt von Alexion.

Danger klopfte, während er einen Schritt zurücktrat. Wenige Minuten später erschien Kyros an der Tür.

Bei ihrem Anblick erschien ein argwöhnischer Ausdruck auf seinem Gesicht. »Was wollt ihr beide denn hier?«

»Ich muss mit dir reden«, begann Alexion.

»Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe.«

»Das stimmt, aber du hast dir noch nicht angehört, was ich zu sagen habe. Wieso hast du mich angerufen und vor dem Charonte gewarnt?«

Kyros zuckte die Achseln. »Das war ein Anflug von Sentimentalität. Aber jetzt ist nichts mehr davon übrig. Ich habe dich einmal gewarnt. Ein zweites Mal wird es nicht geben.«

»Kyros …«

»Nicht«, knurrte er.

Er machte Anstalten, die Tür zu schließen, doch Alexion war schneller.

»Lass mich herein, Kyros.«

Kyros’ Züge versteinerten sich. »Du wirst jetzt nach Hause gehen«, sagte er langsam und betonte jede einzelne Silbe.

»Ich muss mit dir reden.«

Ein Muskel an Kyros’ Kiefer begann zu zucken. »Du hast noch nie auf mich gehört, Bauerntölpel.« Mit einem Fluch schob er Alexion zurück. »Verschwinde.«

Er schlug die Tür zu.

Ehe Danger sichs versah, hatte Alexion die Tür aufgetreten. Mit einem Knall schlug sie so heftig gegen die Wand, dass sie aus den Angeln gehoben wurde.

Verärgert betrachtete Kyros den Schaden. »Zwing mich nicht, dich in den Hintern zu treten, Ias.«

Ohne jede Vorwarnung schien sich ein Sog der Macht um Alexion aufzubauen. Ein heftiger Wind zerrte an seinem Mantel und wirbelte sein Haar auf. Es war fast, als sei die Luft um ihn herum von einer gewaltigen Energie erfüllt. Danger zwang sich, nicht in Panik zu verfallen, und trat zu den beiden Männern.

Die Tür schlug hinter ihr zu. Die Beschädigung war verschwunden.

Alexions Augen glühten in einem unheimlichen, übernatürlichen Grün. »Die Tage, an denen du mich in den Hintern getreten hast, sind längst vorbei, Kyros. Ich bin jetzt derjenige, der die Macht besitzt.«

»Na ja, so ganz der Wahrheit entspricht das wohl nicht.«

Beim Klang von Strykers Stimme sog Danger scharf den Atem ein. Der Daimon kam aus einem Raum geschlendert, trat neben Kyros und musterte die beiden voller Hass.

Der Daimon schnalzte mit der Zunge. »Sieht so aus, als wäre meine Idee mit dem Charonte völlige Zeitverschwendung gewesen. Los, sag mir, mit welchem Befehl du Xirena zum Gehorsam gezwungen hast.«

Die Luft um Alexion schien sich zu beruhigen, als er die Energie wieder in seinen Körper zurückzog. »Gar keinen. Xirena mag mich.«

Stryker lachte, obwohl er alles andere als belustigt aussah. »Du hast einiges auf dem Kasten, das muss man dir lassen, Mistkerl. Aber selbst einfallsreiche Mistkerle können sterben.«

Alexion lachte nur. »Ich bin sicher, das weißt du besser als die meisten anderen.«

Stryker wandte sich Kyros zu. »Dein Freund ist ziemlich arrogant für jemanden, der seine Kräfte nur geborgt hat. Aber wenn es nicht die eigenen sind, haben sie nun mal leider Grenzen.«

Alexion schnaubte abfällig. »Selbst wenn sie Grenzen haben, sind sie immer noch größer als deine.«

»Ach ja?«

Danger beschlich ein mulmiges Gefühl. War das eine Falle? Allmählich kam es ihr so vor. Vielleicht war das der Grund, weshalb Kyros sie gewarnt hatte. Wahrscheinlich hatte er gewusst, dass Alexion, wenn der Charonte versagte, herkommen und eine Erklärung verlangen würde.

Stryker trat dicht vor Alexion. In seinen Augen war nicht einmal ein Anflug von Angst zu erkennen. Stattdessen musterte er ihn amüsiert. »Es ist ein tolles Gefühl, der Macht so nahe zu sein, was?«

Alexion zuckte lässig die Achseln. »Ich beklage mich jedenfalls nicht.«

»Nein, aber vielleicht solltest du das tun.«

Unvermittelt zückte Stryker ein Messer und rammte es Alexion geradewegs in die Brust.

Alexion zerbarst augenblicklich.

Kyros stieß einen Fluch aus. »Was zum Teufel hast du mit Ias gemacht?«

Danger verdrehte die Augen. »Was für eine Zeitverschwendung.«

Wie aufs Stichwort materialisierte Alexion sich vor ihrer aller Augen. Doch gerade als er Gestalt annahm, streckte Stryker die Hand aus, rammte ihm einen merkwürdig aussehenden Gipsstein in die Brust, zerquetschte den brüchigen Stein mit den Fingern und riss abrupt seine Hand zurück.

Alexion starrte ihn an. »Was …«

Wie gelähmt sah Danger zu, wie sich ein entsetzter Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete und seine Atemzüge mühsam und schwer wurden.

»Alexion?«, rief sie und trat auf ihn zu.

Er taumelte rückwärts. Seine Augen wurden dunkel vor Schmerz, während er Stryker ungläubig ansah. »Was hast du mit mir gemacht?«, stieß er mit erstickter Stimme hervor.