20

Es war einer der unglaublichsten Abende in Alexions endloser Existenz – andererseits war jeder Abend mit Danger ein unglaubliches Erlebnis.

Dennoch war es einzigartig – inmitten von Menschen zu sitzen, als wären sie völlig normal, genauso wie alle anderen. Ihm fehlten die Worte, um seine Gefühle zu beschreiben. Er hörte die Leute im Kino lachen, scharf den Atem einsaugen, wenn es besonders spannend wurde, und sogar leise reden. Was ihn im Gegensatz zu den meisten Kinobesuchern nicht im Mindesten störte.

Für eine Weile gehörte er zu ihnen.

Kein Wunder, dass Acheron so etwas häufiger machte. Inzwischen konnte er ihn voll und ganz verstehen.

Verdammt, er fand es sogar schön, wie der Fußboden unter seinen Sohlen klebte. Doch das Allerbeste war, als Danger die Armlehne hochklappte, so dass sie sich einen Eimer Popcorn teilen konnten. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und kuschelte sich in der Dunkelheit an ihn.

»So fühlt es sich also an, ganz normal zu sein?«, fragte er, als sie am Ende der Vorstellung dem Menschenstrom nach draußen folgten.

»Ja. Ziemlich klasse, was?«

Alexion nickte, sah einer Gruppe Jugendlicher nach, die ins Freie traten, und legte Danger den Arm um die Schultern. Leiser Magnolienduft wehte ihm in die Nase – er liebte den Geruch dieser Frau.

»Gehst du häufig ins Kino?«, fragte er.

Sie schlang ihm den Arm um die Taille – eine unglaublich intime Geste, die ihm den Atem raubte. »Nicht besonders oft. Wenn ich nicht gerade irgendwelchen Daimons auf den Pelz rücke, bin ich abends meistens zu Hause.«

Er konnte diese selbstauferlegte Einsamkeit nicht ganz nachvollziehen; schließlich hatte sie im Gegensatz zu ihm eine Wahl. »Wieso?«

»Ich fühle mich einsam, wenn ich abends allein unterwegs bin«, antwortete sie und deutete auf ein Pärchen, das knutschend an der Mauer des Parkhauses stand. »Es erinnert mich jedes Mal daran, was ich nicht mehr habe und auch nicht mehr haben werde, wenn du weg bist.«

Alexion hielt sie fest und zog sie an sich. Er schlang die Arme um sie und schloss die Augen. Wie sehr er sich wünschte, ihrer beider Leben verliefe anders. »Wenn ich könnte, würde ich dir so gern geben, was du dir wünschst.«

»Danke. Das ist sehr nett von dir.«

Er legte den Finger unter ihr Kinn und hob es an. »Ich werde immer bei dir sein, Danger.«

Danger sah die Aufrichtigkeit in seinen Augen. Der Anblick bedeutete ihr sehr viel. Trotzdem war es nicht genug. »Aber ich werde es nicht wissen, stimmt’s?« Seine Augen wurden dunkel vor Kummer. Augenblicklich bereute sie ihre Worte. Ihm wehzutun, war das Letzte, was sie wollte. »Schon gut, Alexion. Ich wollte die Stimmung nicht verderben. Ich bin dankbar, dass wir diesen Abend haben.«

»Ich auch.« Er drückte sie an sich, ehe er ihre Hand nahm und den Weg zum Wagen einschlug.

Die Fahrt nach Hause verlief nahezu schweigend. Als sie an Elvis’ Geburtshaus, einem kleinen weißen Häuschen, vorbeifuhren, sah Danger zu Alexion hinüber. »Weißt du, wer Elvis ist?«

Alexion lächelte. »Der King of Rock’n’Roll, Baby. Natürlich kenne ich ihn. Simi liebt ihn heiß und innig.«

Sie lachte. »Irgendwann muss ich diese Simi einmal kennenlernen.« Sie nickte in Richtung des Hauses. »Dort drüben wurde er geboren, und ich bin ein Dutzend Mal daran vorbeigefahren, als er ein paar Wochen alt war, ohne zu ahnen, dass dieser kleine Junge eines Tages einen solchen Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft haben würde.«

»Das ist die seltsamste von Acherons Fähigkeiten. Er hätte genau gewusst, was aus dem Knirps werden würde.«

Was würde sie für diese Gabe geben. Es wäre sensationell, die Zukunft vorhersehen zu können. »Kannst du das auch?«

»Nur mit der sfora. Acheron lässt nicht zu, dass ich Fähigkeiten ausübe, von denen er glaubt, ich käme nicht damit zurecht.«

Danger runzelt die Stirn. »Wie kommt er darauf?«

»Weil es Zeiten gibt, in denen es ihm nicht einmal selbst gelingt.«

»Inwiefern?«

Alexion stieß den Atem aus und schwieg einige Momente. »Es ist sehr schwer, wenn man weiß, dass jemanden ein tragischer Schicksalsschlag treffen wird, und man nicht eingreift, um es zu verhindern.«

»Aber wieso greift er dann nicht ein?«

»Weil die Menschen nur aus ihren Fehlern lernen, Danger. Schmerz und Versagen gehören nun einmal dazu. Es ist dasselbe, wie wenn eine Mutter ihrem Kind zusieht, das hinfällt, wenn es gerade laufen lernt. Statt es zu trösten und auf den Arm zu nehmen, muss man es wieder hinstellen und noch einmal versuchen lassen. Sie müssen erst ein paarmal stolpern und umkippen, bevor sie laufen können.«

Sie schüttelte den Kopf. Es erschien ihr so hartherzig. »Ich weiß nicht. Mir kommt es grausam vor. Die meisten Leute tragen schlimmere Verletzungen als aufgeschrammte Knie davon.«

»Manchmal ist das Leben nun einmal grausam.«

Das stimmte. Das wusste sie besser als jeder andere. Ihr Herz zog sich zusammen, als die Gesichter ihrer Familie vor ihrem geistigen Auge auftauchten.

Sie waren auf dem Weg nach Deutschland gewesen, als die Leute ihres Ehemannes sie überfallen hatte.

Danger schloss die Augen.

»Nein, Michel! Er ist doch mein Vater!«

Doch in den eisig blauen Augen dieses Mannes hatte keine Gnade, kein Fünkchen Mitleid gestanden. »Er ist Aristokrat. Sterben sollen sie, alle zusammen!«

»Dann töte mich auch. Ich werde nicht zulassen, dass du sie mitnimmst. Nicht solange noch ein Atemzug in mir steckt.«

Also hatte er auch sie erschossen … mitten ins Herz, das ihm so zugetan gewesen war.

»Aristokratenhure!«, hatte er hervorgestoßen, als sie sterbend in den Armen ihres Vaters lag. »Sterben sollt ihr, alle zusammen!«

Das Letzte, was sie hörte, war der Schuss, der dem Leben ihres Vaters ein Ende setzte.

Wut und Schmerz wallten in ihr auf, als sich die alten Erinnerungen mit ihrer Wut auf das Schicksal mischten, das Alexion erwartete. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie gelernt hatte, einem Mann zu vertrauen. Doch genau das tat sie jetzt, und sie wollte ihn nicht wieder gehen lassen.

»Glaubst du ernsthaft, dass wir uns das Herz herausreißen lassen müssen?«

»Ohne Wasser kann ein Blume nicht wachsen«, erwiderte er reflexartig.

»Aber bei zu viel Regen stirbt sie.«

»Und doch wachsen die schönsten Lotusblüten im tiefsten Sumpf.«

Sie schnaubte. »In dieser Angelegenheit kannst du mich wohl nicht gewinnen lassen, stimmt’s?«

»Das hat nichts mit gewinnen zu tun, Danger. Wie sagte John Lennon immer? Das Leben ist das, was passiert, während du gerade andere Pläne schmiedest. Es ist chaotisch und bricht einem manches Mal das Herz, aber gleichzeitig ist es auch eine unglaublich spannende Reise.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es erstaunt mich immer wieder, wie viel du über unsere Kultur und unsere Helden weißt.«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe schließlich alle Zeit der Welt, sie zu studieren.«

Eine Woge des Mitleids überkam sie. Es gab Zeiten, in denen ihr Leben schrecklich eintönig und monoton war … Sie konnte nur ahnen, wie es für ihn sein mochte. Doch da sie unübersehbar unterschiedlicher Meinung darüber waren, wie viele Knüppel die Menschheit zwischen die Beine brauchte, lenkte sie das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück.

»Ich wollte schon immer mal anhalten und mir das Museum in Elvis’ Geburtshaus ansehen.«

»Wieso hast du es nicht getan?«

»Weil sie vor Einbruch der Dunkelheit schließen. Aber im Juni gibt es ein Elvis-Festival. Da herrscht großer Trubel, und meistens verirrt sich auch der eine oder andere Daimon hierher.«

Er lachte. »So wie du es ausdrückst, muss ich mich fragen, welcher Teil das Geschäft und welcher das Vergnügen ist.«

Sie lächelte. »Ich spiele gern die Superheldin. Nicht viele haben das Glück, anderen helfen zu können.«

»Das stimmt allerdings.«

Unvermittelt beschlich Danger ein mulmiges Gefühl. »Werden wir etwa wieder beobachtet?«

Alexion schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Ahnung, wieso, aber Stryker scheint sich gerade eine Auszeit zu gönnen.«

Doch ihre übersinnlichen Kräfte sagten ihr weiterhin, dass etwas Merkwürdiges geschehen würde.

Erst als sie zu ihrem Haus kamen, begriff sie. In der Auffahrt stand ein schwarzer Aston Martin Vanquish.

Diesen Wagen hatte sie in ihrer Gegend noch nie gesehen.

»Was um alles in der Welt hat Viper hier zu suchen?«, fragte sie.

Alexion runzelte die Stirn. Viper war ein Dark Hunter, der in Memphis, Tennessee, zwei Autostunden von Tupelo entfernt, eingesetzt war. »Gute Frage.«

Als Danger neben dem Aston Martin anhielt, stieg ein großer, gut aussehender Mann mit schwarzem Haar aus dem Wagen. Obwohl Dark Hunter sich nicht der Sonne aussetzen durften, hatte Viper noch immer einen höchst attraktiven olivfarbenen Teint – das genetische Erbe seiner maurischen Mutter.

Viper, einst einer der dreizehn Abenteurer, die Pizarro auf seiner Reise in die alte Inkastadt Tumbes begleitetet hatten, war vor fast fünfhundert Jahren auf der Suche nach Gold und Ruhm nach Amerika gekommen. »Diese Männer waren so kühn, dass sie keine Gefahren fürchteten … Sie segelten in großen Holzhäusern über die Meere zu uns«, schrieben die Inkas über die fremden Eindringlinge.

Bis zum heutigen Tag gab es nichts, wovor Viper sich fürchtete.

Danger hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihn veranlasst haben könnte, den weiten Weg hierherzukommen. Sie war ihm nur einmal persönlich begegnet, hatte aber mehrmals via Internet oder Telefon mit ihm zu tun gehabt.

Wie die meisten Dark Hunter war der Spanier von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet – schwarze Hose mit Bügelfalten und ein eng anliegendes T-Shirt. Sein Haar war kurz geschnitten und sorgfältig gestylt. Als sie aus dem Wagen stiegen, nahm er seine Sonnenbrille ab und warf sie auf den Fahrersitz.

»Hola, Viper«, begrüßte sie ihn. »Cómo estás

Statt einer Antwort trat er auf Alexion zu und versetzte ihm ohne Vorwarnung einen Hieb in den Magen, ehe er erneut zum Schlag ausholte.

»Hör auf!«, rief Danger entsetzt.

Auf Alexions Gesicht lag ein Ausdruck, der Danger fürchten ließ, er bringe den Spanier gleich um.

Zum Glück riss er sich zusammen.

Doch als Viper erneut ausholte, wurde er wie aus dem Nichts abrupt nach hinten geschleudert. Xirena tauchte in ihrer Schattengestalt unter Alexions Ärmel auf und funkelte ihn kampflustig an.

»Nein, Xirena«, presste Alexion mühsam hervor. »Es ist alles in Ordnung.«

Der Dämon richtete seinen vernichtenden Blick auf Viper, der sich eilig bekreuzigte. »Wer bist du?«, fragte er drohend.

»Sie ist ein Dämon«, erklärte Danger. »Und was zum Teufel sollte das gerade sein? Wieso bist du auf ihn losgegangen?«

Viper wandte sich ihr zu. »Er hat Euphemia getötet.«

Danger schlug sich die Hand vor den Mund. Die griechische Sklavin, eine bildschöne Blondine mit einer Menge Humor und Cleverness, war gemeinsam mit Viper in Memphis stationiert.

»Efie ist tot?«, fragte Alexion. »Wann ist das passiert?«

Viper musterte ihn hasserfüllt. »Spiel hier nicht den Unschuldigen. Stryker hat mir alles über dich erzählt.« Er wandte sich wieder an Danger und verzog abfällig den Mund. »Und du hilfst ihm auch noch.«

»Ja, ich helfe ihm, weil er überhaupt niemanden tötet. Sondern Stryker.«

Aber Viper hörte nicht auf sie. Wieder machte er Anstalten, auf Alexion loszugehen, doch Xirena fauchte ihn drohend an.

»Xirena, hierher!«

Der Dämon fauchte Alexion an, ehe sie sichtlich verstimmt wieder ihre Schattengestalt annahm und unter seiner Kleidung verschwand.

Danger hob die Brauen. Was für eine interessante Gabe.

»Du weißt genau, dass ich sie nicht getötet habe«, sagte Alexion ruhig. »Du bist wütend und willst jemandem die Schuld für ihren Tod geben, und das respektiere ich. Aber du weißt auch, dass Danger sich niemals an der Jagd auf einen anderen Dark Hunter beteiligen würde.«

Sie sah die Qual in Vipers Augen. Den Kummer. Er hatte Euphemia seit langer Zeit gekannt, und ihr Tod traf ihn sehr. »Sie haben ihr den Kopf abgeschnitten.«

Danger trat vor und legte die Arme um ihn. »Das tut mir so leid, Viper. Von ganzem Herzen.«

Ihre Arme schlossen sich fest um ihn, als sein Kummer auf sie übersprang und ihr die Tränen in die Augen trieb. »Wie konnten sie ihr so etwas antun?«

Danger verstand es nicht. Weder jetzt noch früher. »Ich weiß es nicht.«

»Glaubst du ernsthaft, dass wir dahinterstecken, Viper? Ganz ehrlich?«, fragte Alexion.

Sie sah die Unentschlossenheit in Vipers Augen, als er sich von ihr löste und sie finster ansah. »Sag mir die Wahrheit, Danger. Habt ihr irgendetwas damit zu tun?«

Sie wusste, dass er ihre Antwort bereits kannte. Doch sie konnte sein Bedürfnis nach Bestätigung verstehen. Viper musste sich aufs Schändlichste verraten fühlen. »Wann ist Efie gestorben?«

»Vor drei Stunden.«

Danger griff in ihre Jackentasche und zog die Rechnung des italienischen Restaurants und die abgerissenen Kinokarten heraus. »Wie du siehst, waren wir die ganze Zeit hier in der Stadt. Wir können gar nicht in Memphis gewesen sein.«

Er betrachtete die Karten und nickte. »Dann lügt Stryker uns an. Aber wieso?«

»Weil er ein Daimon ist«, antwortete sie schlicht. »Er will, dass wir alle sterben.«

Viper schüttelte den Kopf. »Ich kenne Kyros seit Jahrhunderten. Ich habe ihm vertraut.«

»Kyros kann im Moment nicht klar denken«, erklärte Danger. »Aber wir müssen vernünftig sein und dürfen jetzt nicht den Kopf verlieren.«

Er nickte. »Ich habe ihnen diesen Unsinn von Anfang an nicht abgekauft. Ash hat mich im Lauf der Jahrhunderte immer unterstürzt. Und ich täusche mich nur selten in Menschen.«

»Und auch in diesem Fall hast du es nicht getan«, stellte Alexion fest.

Tränen schimmerten in Vipers Augen, und ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. »Einen solchen Tod hat Efie nicht verdient. Sie war eine tolle Frau.« Er richtete seinen Blick wieder auf Danger. »Ich will die Typen in die Finger kriegen, die dafür verantwortlich sind. Ich will ihr Blut an meinen Fingern spüren.«

»Wir kriegen sie«, erklärte Danger.

Viper sah Alexion an. »Tut mir leid, dass ich auf dich losgegangen bin.«

Alexion zuckte nur die Achseln. »Unter diesen Umständen ist das völlig verständlich. Und längst verziehen.«

Danger lächelte ihn an. Das war einer der Gründe, weshalb sie diesen Mann so liebte. Das Verständnis, das er für andere Menschen aufbrachte, war unglaublich.

Viper holte tief Luft und musterte Alexion von oben bis unten. »Ich habe nur eine Frage an dich. Wenn du nicht Acherons Zerstörer bist, weshalb bist du dann hier?«

»Um neue Freunde zu finden und meinen Einfluss auf andere geltend zu machen«, konterte Alexion trocken.

Viper runzelte die Stirn, während Danger in schallendes Gelächter ausbrach.

»Das mit dem Einfluss auf andere stimmt wirklich«, fuhr Alexion scheinbar ungerührt fort. »Nur das mit den Freunden ist mir nicht so wichtig. Allerdings liegen mir die Dark Hunter sehr am Herzen. Kyros und Stryker haben recht, was …«

Danger räusperte sich, um seinen Redefluss zu unterbrechen, als ihr dämmerte, dass er mit seinen Worten genau dasselbe auslösen würde wie bei ihren vergangenen Begegnungen mit den anderen Dark Huntern: eine Katastrophe.

Alexion mochte ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen für die Regungen und Verhaltensweisen anderer Menschen besitzen, doch er hatte keine Ahnung, wie man mit ihnen redete. »Hatten wir uns nicht erst kürzlich über das Thema Drohungen unterhalten?«, meinte sie.

Er sah sie verärgert an. »Okay, und was soll ich deiner Meinung nach sagen?«

Sie tätschelte ihm spielerisch den Bauch. »Sieh zu und lern von mir.« Sie wandte sich an Viper. »Wie lange kennst du Ash schon?«

»Seit der Nacht, als ich zum Dark Hunter wurde. Genauso wie du.«

Sie nickte. »Okay. Und was hat Ash in dieser Nacht zu dir gesagt?«

Viper schwieg einen Moment, als lasse er diese Nacht noch einmal Revue passieren. »Dass er gekommen sei, um mir zu zeigen, wie ich überleben kann.«

»Stimmt. Und wenn seine Worte damals ernst gemeint waren, weshalb sollte er dann jetzt jemanden schicken, der dich tötet?«

Sie sah die Erkenntnis in Vipers Blick aufflackern. »Das würde er nicht tun.«

»Nein, würde er nicht.« Mitfühlend legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich habe es selbst auch vergessen, aber das sagt Ash zu jedem Dark Hunter bei seiner ersten Begegnung. Und dann bringt er Wochen damit zu, uns beizubringen, wie wir kämpfen sollen und überleben können. Mehr noch – wir bekommen jede Menge Geld, ein tolles Haus und Bedienstete. Weshalb sollte er sich so ins Zeug legen, wenn wir nichts als Schachfiguren für ihn wären, auf die er verzichten kann?«

Viper lachte auf. »Du hast recht. Ich habe mich mit meinem Blut, meinem Schweiß und meinen Tränen der spanischen Armada verpflichtet, die sich keinen Pfifferling darum geschert hat, was ich zu essen kriege oder wo ich nachts schlafe. Und die Bezahlung war auch lausig.«

Sie nickte.

»Die einzigen Dark Hunter, die ich jemals getötet habe, waren diejenigen, die Jagd auf Menschen gemacht haben«, erklärte Alexion nachdrücklich. »Das ist das Einzige, was Acheron nicht zulassen kann. Und das ist auch der Grund, weshalb ich hergeschickt wurde. Wenn ihr bereit seid, die Menschen zufrieden und das Vergangene ruhen zu lassen, tut Acheron dasselbe, und ihr könnt alle in Frieden nach Hause zurückkehren. Wenn ihr allerdings glaubt, dass er euch belügt und ihr mit den Menschen anstellen könnt, was ihr wollt, ohne eine Strafe fürchten zu müssen, werdet ihr es nicht überleben.«

Wieder sah Danger das zornige Blitzen in Vipers Augen als Reaktion auf Alexions Drohung und fürchtete, er würde ihn erneut angreifen.

Zu ihrer Erleichterung tat er es nicht.

»Kyros trommelt im Augenblick alle Dark Hunter der Gegend zusammen. Das Treffen ist für übermorgen Abend angesetzt. Er sagt, er müsse uns etwas zeigen, was Acherons Schuld beweist …« Er sah Alexion an. »Aber ich werde nicht hingehen.«

Danger lächelte. »Sehr gut. Du bist ein anständiger Kerl.«

»Ich tue mein Bestes.« Viper nickte ihnen zu. »Ich sollte jetzt gehen. In Memphis herrscht im Moment Personalknappheit an Dark Huntern, und Danger saugt mir gewaltig Energie ab. Außerdem muss ich rechtzeitig vor Tagesanbruch zurück sein.«

Sie nickte. »Vaya con Dios, Sebastian«, sagte sie – Vipers richtiger Name.

»Hasta la vista, francés.« Er sah Alexion an. »Y tu, du schräger Vogel.«

Alexion lachte. »Adiós, mi amigo

Danger sah zu, wie Viper zu seinem Wagen ging. Als er aus der Einfahrt fuhr, überkam sie eine tiefe Traurigkeit.

Euphemia war tot …

Der Schmerz schnitt sich tief in ihr Herz. »Wie viele Dark Hunter werden sie noch töten?«

Alexion trat zu ihr und nahm sie in die Arme. »Es wird alles wieder gut.«

»Wirklich?« Gequält von düsteren Gedanken und tiefer Trauer, klammerte sie sich an ihn. »Am meisten Sorge bereitet mir, dass sie sie in Memphis erwischt haben. Wie konnte Stryker sie dort angreifen und gleichzeitig hier sein und …«

»Blitzlöcher«, unterbrach Alexion. »Er kann sie jederzeit und überall öffnen und in der einen Sekunde hier und bereits in der nächsten in Moskau sein.«

»Aber wie können wir ihm dann Einhalt gebieten?«

Er sah sie durchdringend an. »Du tust gar nichts. Das ist meine Aufgabe.«

»Und wenn es dir nicht gelingt?«

»Das wird nicht passieren. Wir kriegen ihn. Das verspreche ich dir.«

Doch selbst als die Worte über seine Lippen kamen, keimte die unheimliche Vorahnung in Danger auf, dass es nicht so sein würde; ein dumpfer Verdacht, der sich tief in ihr eingenistet hatte.

Am Ende siegte nicht immer das Gute. Das wusste sie besser als jeder andere.

Aufgewühlt ging Ash vor seinem Thron auf und ab und versuchte, die Bilder zu verdrängen, die ihn verfolgten.

»Ich werde mich nicht einmischen.« Es war ein Mantra, das er sich bereits den ganzen Tag wieder und wieder vorsagte, aber wie um alles in der Welt sollte er sich daran halten?

Das Leben und das Wohlbefinden von Menschen, die ihm am Herzen lagen, standen auf dem Spiel.

Er streckte die Hand aus, worauf Bilder seines Lebens als Mensch auf den Monitoren links von ihm aufflammten. Zeugnisse des Horrors, den er durchlebt hatte. Der tiefen Demütigung. Des Schmerzes und der Angst. Und all das nur wegen zwei Frauen, die ihn zu »retten« versucht hatten.

Das würde er Ias unter keinen Umständen antun. Er würde die Wege des Schicksals oder des freien menschlichen Willens nicht durchkreuzen …

Das war katastrophal.

»Acheron?«

Die Monitore wurden schwarz, und der unerwartete Klang einer Stimme ließ ihn erstarren. »Savitar?«

»Wie viele Stimmen hast du im Kopf, dass du diese Frage stellen musst?«

Er lachte über den trockenen Humor des Mannes. Savitar wusste besser als jeder andere, wie viele Stimmen in Acherons Kopf widerhallten.

Ein unheimlicher bläulicher Nebel formte sich vor ihm, aus dem sich Sekunden später die Gestalt eines Mannes löste, der beinahe so groß war wie er selbst. Nur Savitar wagte es, ohne ausdrückliche Einladung in Acherons Heim aufzutauchen … okay, er und Artemis, aber Artemis war ein Fall für sich. Besser gesagt, der reinste Alptraum.

Savitar, der die Gestalt eines Mannes von etwa dreißig Jahren besaß, stand mit einem sarkastischen Grinsen und vor der Brust gekreuzten Armen vor ihm. Er trug weiße Strandshorts und ein blaues Hemd mit kurzen Ärmeln über einem weißen T-Shirt – ein Outfit, das nicht einmal ansatzweise ahnen ließ, dass sich dahinter ein Wesen verbarg, dem alle Weisheit der Welt innewohnte und dessen Macht der Acherons in nichts nachstand. Vielleicht war er sogar noch mächtiger als er.

Es gab nur einen Weg, es herauszufinden, und Ash hatte zu großen Respekt vor ihm, um es zu versuchen.

Savitar war schlank und muskulös und hatte sich seit ihrer ersten Begegnung kaum verändert – von seiner Garderobe einmal abgesehen. Etwas, was Ash nicht von sich behaupten konnte.

Savitars Unterarme waren von leuchtend bunten Tattoos bedeckt, und sein gewelltes schwarzes Haar reichte ihm bis knapp über die Ohren. Seine Augen waren leuchtend lavendelblau und verrieten Macht, Alterslosigkeit und sogar einen Hauch Verschlagenheit.

Nein, mehr als nur einen Hauch.

Ash war nie sicher, auf wessen Seite sich sein einstiger Lehrer stellen würde. Nur Savitar allein wusste es, und er ließ ihn nicht immer daran teilhaben.

»Wie geht es Simi?«, erkundigte er sich.

Ash zog einen Zipfel seiner formesta beiseite, unter dem Simis Tattoo zum Vorschein kam. »Gut. Sie ruht sich aus. Ich habe sie zu lange aufbleiben lassen.«

»Du solltest deinen Dämon nicht so schamlos benutzen. Sie baucht ihren Schlaf.«

Ash ignorierte die Bemerkung. Sie beide wussten, dass er Simi niemals ausnutzen würde.

Savitar schlenderte durch den Raum und sah sich jeden Winkel an. »Ziemlich steril hier«, stellte er fest.

»Ich bin sicher, dein Heim ist der Inbegriff des Hedonismus.«

Savitar lachte, ehe er wieder ernst wurde. »Du kannst nicht zu ihnen gehen, Atlantäer. Wenn du das tust, wirst du Stryker töten.«

Ash schloss die Augen und wünschte, er könnte seine eigene Zukunft ebenso mühelos vor sich sehen wie Savitar. Aber zumindest war er diesmal ausnahmsweise bereit, sein Wissen mit ihm zu teilen. »Bist du sicher?«

»So sicher, wie ich hier stehe.« Mittels Willenskraft beförderte sich Savitar hinter Ash. »Aber vielleicht bin ich ja gar nicht hier.«

Ash wirbelte abrupt herum – Savitar wusste ganz genau, dass er es nicht mochte, jemanden in seinem Rücken zu haben. »Hör auf, mich unter Druck zu setzen, Savitar«, knurrte er. »Ich bin längst kein Anfänger mehr.«

»Nein, das bist du nicht. Aber wenn du mich angreifen willst, kann ich dich nicht daran hindern. Ich kann deinen Willen ebenso wenig beeinflussen wie du den ihren.«

Savitar hob die Hand und spreizte die Finger, um die leuchtende Farben und wilde Muster herumtanzten. »Im Augenblick verändert sich das ganze Universum und nimmt eine neue Ordnung an. Aber das weißt du ja längst. Du kannst es fühlen.«

Ash biss die Zähne zusammen, als der Schmerz ihn durchzuckte. Er wusste genau, dass das Universum sich noch immer mit dem arrangierte, was niemals hätte passieren dürfen. »Ich habe einen Fehler begangen.«

»Nick Gautier.«

Ash nickte. »Ich habe ihn verflucht und im Zuge dessen den Lauf des Lebens zahlloser Menschen verändert. Menschen, die ich liebe.«

Savitar starrte ihn durchdringend an. »Und jetzt weißt du auch, weshalb ich niemanden liebe. Weshalb ich es nie getan habe und auch niemals tun werde.« Er senkte die Stimme. »Hör auf meine Worte, kleiner Bruder. Die Liebe bringt nichts als Zerstörung.«

Ash weigerte sich, ihm zu glauben. Er wusste es besser. »Die Liebe kann die Rettung sein.«

Savitar schnaubte abfällig. »Wie oft hat die Liebe dich mittlerweile zerstört?«

Ein bitteres Lächeln breitete sich auf Ashs Zügen aus. »Das war keine Liebe. Sondern Dummheit.«

»Trotzdem hast du deine Lektion noch immer nicht gelernt, Atlantäer. Solange du wie ein Mensch fühlst und liebst, wirst du immer den Kürzeren ziehen. Und genau aus diesem Grund hat dieses griechische Miststück dich auch noch nach elftausend Jahren in der Hand. Schreib sie ab, und nimm dein Schicksal endlich in die Hand.«

»Nein«, widersprach Ash nachdrücklich. »Mein Mitgefühl bewahrt mich davor, noch etwas viel Drastischeres zu tun. Wenn ich es über Bord werfe … In einer Welt, die entstünde, wenn ich mein Schicksal in die Hand nehmen würde, würdest du ganz bestimmt nicht leben wollen.«

»Bist du dir da so sicher?«

Nein, das war er nicht. Savitar konnte manchmal ziemlich brutal und roh sein. »Liebe ist immer ein Heilsbringer.«

»Dann werde glücklich damit. Ich habe etwas Besseres zu tun, als hier herumzustehen und zu debattieren, was zu tun ist.« Seine Gestalt begann sich aufzulösen.

»Warte«, rief Ash.

Er erschien ein zweites Mal. »Ja?«

Acheron zögerte. Aber er musste es wissen. »Wie geht es Nick?«

Savitar zuckte lässig die Achseln. »Er wurde aus allem herausgerissen, was er kannte und liebte. Er hat Angst und ist in tiefer Trauer. Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass er schon bessere Zeiten gesehen hat.«

Ash wollte lieber nicht daran denken. Es war seine alleinige Schuld, dass Nick tot war und litt. Und deshalb hatte er den Cajun zu Savitar geschickt, damit er ihn ausbildete. Der Cajun brauchte Mitgefühl, allerdings war Ash nicht sicher, ob Savitar es aufbrachte.

»Danke, dass du ihn unterweist.«

»Du brauchst mir nicht zu danken, Atlantäer. Eines Tages werde ich dich um einen Gefallen bitten.«

»Und ich werde ihn erwidern.«

»Das weiß ich.« Unvermittelt fiel die gleichmütige Ruhe von Savitar ab. »Ich will ja nicht gönnerhaft sein, Acheron, aber ich bin sehr stolz auf das, was aus dir geworden ist. Du hast viel gelernt und setzt dein Wissen weise ein, ganz im Gegensatz zu vielen anderen, die ich kenne …«

Ash nickte. Savitar hatte seine eigenen Dämonen, die er zu bekämpfen hatte. Andererseits galt das für jeden.

»Ich hoffe, du findest deinen Frieden, mein Bruder«, sagte er zu Savitar.

Savitar schnaubte. »Frieden geht Hand in Hand mit einem ruhigen Gewissen.«

»Dann sind wir alle beide geliefert.«

Savitar lachte. »Allerdings.«

Ash schwieg einen Moment. »Frage?«

»Antwort?«

Er sah Savitar verdrossen an. Es gab Zeiten, in denen er es regelrecht genoss, Acheron zu provozieren. »Wäre es so schlimm, Stryker zu töten?«

»Diese Frage kannst nur du beantworten.«

»Ich hasse es, wenn du den Propheten spielst. Aber wahrscheinlich verdiene ich es nicht anders.«

Savitar zuckte die Achseln. »Wir alle sind irgendjemandem gegenüber verpflichtet.«

Ash horchte überrascht auf. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass Savitar irgendjemandem gestatten würde, Macht über ihn zu besitzen. »Und wer hält dich an der Leine?«

»Wenn ich dir das verraten würde, wüsstest du viel zu viel über mich.«

»Du weißt bereits viel zu viel über mich.«

Savitar ging nicht darauf ein. »Das Leben ist, was wir daraus machen«, sagte er langsam. »Ich brauche dir nicht zu erklären, was passieren würde, wenn du Stryker tötest. Du kennst die Antwort bereits.« Er trat neben Ash. »In New Orleans hast du dich von deinen Gefühlen leiten lassen, und was ist passiert?«

Es war zur absoluten Katastrophe gekommen.

Ash verkniff sich die Frage, ob Alexion die bevorstehende Schlacht gegen Stryker überleben würde. Wenn die Antwort »Nein« lautete, wäre es unmöglich für ihn, nicht ins Geschehen einzugreifen.

Ich muss mich heraushalten.

»Mach dir keine Sorgen, Atlantäer«, sagte Savitar leise. »Eines kann ich dir mit Sicherheit sagen … dein eigenes Handeln wird deine Rettung sein.«

»Und Alexion?«

»Seines ist seine Verdammnis. Aber das wusstest du ja bereits.«