21
Alexion verbrachte die nächsten beiden Tage damit, sich daran zu gewöhnen, dass Xirena ein Teil von ihm war und in den unangebrachtesten Augenblicken auftauchte, weil sein Herz schneller schlug und sein Blutdruck in die Höhe schoss. Allem Anschein nach konnte der Dämon den Unterschied nicht spüren, wann er tatsächlich in Gefahr schwebte und wann er nur mit Danger zusammen war.
Was sie in aller Regel mit einem angewiderten »Igitt, Sex mit nackten Menschen!« kommentierte.
Er nahm es ihr nicht übel, denn die Vorstellung von zwei nackten Dämonen beim Sex war eine ähnlich abstoßende Vorstellung für ihn.
Abgesehen davon kämpfte er mit der ständigen Angst um Dangers Zukunft. Ein Teil von ihm wünschte die Stimme in seinem Kopf zurück, die ihn anfangs gewarnt hatte, sie im Auge zu behalten. Wem hatte die Stimme gehört, und wohin war sie verschwunden?
Wie konnte er sie wieder heraufbeschwören?
Verdammt. Nie waren die Stimmen da, wenn man sie brauchte.
Und heute war der große Abend. Er würde den Dark Huntern sein Ultimatum stellen und dann Acherons Macht durch seine Person wirken lassen.
In der Vergangenheit war er stets bereit gewesen, danach nach Hause zurückzukehren. Diesmal war er es nicht. Allein die Vorstellung, Danger zurückzulassen, ließ einen Schmerz in seiner Brust aufwallen, wie er ihn noch nie zuvor gespürt hatte.
»Ich kann es nicht.«
Aber welche Wahl hatte er? Er konnte in diesem Körper nicht leben. Seine Zeit auf der Erde war begrenzt, daran gab es nichts zu rütteln. Er konnte unmöglich hierbleiben.
Es war vorbei.
Er sah auf, als Danger den Raum betrat, die in ihrer schwarzen Jeans und der langärmeligen schwarzen Bluse zum Anbeißen aussah.
Sie durchquerte den Raum und trat vor ihn. Und der Kuss, den sie ihm gab, setzte seinen Körper augenblicklich in Flammen. »Wann wirst du zurückgehen?«
Er wandte den Blick ab, weil er es nicht ertrug, ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. »Noch heute Abend. Wenn ich meine Mission erfüllt habe, werde ich sofort zurückgeholt.«
Er wandte sich ihr zu und sah die Traurigkeit in ihren dunklen Augen aufflackern, ehe sie sie eilig verbarg. »Nur für den Fall, dass ich später keine Gelegenheit mehr habe – ich möchte dir sagen, wie sehr ich mich gefreut habe, dass du hier warst. Und es tut mir leid, dass ich dich niedergestochen habe … noch dazu gleich zweimal.«
Er lächelte, doch der Schmerz in seiner Brust drohte ihn zu überwältigen. Er würde sie mehr vermissen, als er jemals geglaubt hatte.
»Danger …«
»Nicht.« Sie legte den Zeigefinger auf seine Lippen. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Ich sehe es in deinen Augen. Ich werde dich auch vermissen, aber machen wir es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist, okay?«
Ihre Stärke versetzte ihn immer wieder in Staunen. Manchmal glaubte er sogar, dass sie stärker war als er. »Okay.«
Sie holte tief Luft und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vielleicht gelingt es uns ja doch noch, zu Kyros durchzudringen und ihn zu retten.«
»Darauf will ich lieber nicht wetten.«
»Aber vielleicht klappt es ja trotzdem«, beharrte sie mit einer Hoffnung, die er längst aufgegeben hatte. »Wir sollten ihn noch nicht ganz abschreiben. Manchmal können einen Leute auch überraschen.«
Er runzelte die Stirn. »Wieso liegt dir so viel daran, dass wir es noch einmal versuchen?«
Sie richtete ihre dunklen Augen auf ihn. »Weil ich dich ohne Kyros niemals kennengelernt hätte. Und wenn du als Mensch so wunderbar gewesen bist, denke ich nach wie vor, dass er es auch gewesen sein muss, denn sonst hättest du wohl niemals an ihn geglaubt.«
Das war ein Argument. Wie könnte ein Mann, der seine fünf Sinne beisammenhatte, etwas dagegen sagen?
Und was das Wichtigste war – er wollte sie auf keinen Fall enttäuschen oder ihr wehtun. Für sie würde er alles tun.
»Also gut, ich werde es versuchen.«
Kyros ging in seinem lediglich von Kerzenschein erhellten Büro auf und ab. Es war bereits drei Uhr früh und damit nicht mehr lange bis zum Morgengrauen. Seine Gedanken überschlugen sich. Der große Showdown stand unmittelbar bevor.
Und er war unvermeidlich.
Wann immer er darüber nachdachte, sträubten sich ihm die Nackenhaare. Etwas stimmte nicht. Irgendetwas war nicht in Ordnung, und Ias’ Gegenwart war nicht der Grund dafür.
Es musste an etwas anderem liegen. An etwas, das er nicht sehen konnte, aber mit jeder Faser seines Körpers wahrnahm.
»Brauchst du noch etwas?«, fragte Rob, sein Squire.
Kyros wandte sich zu dem jungen dunkelhaarigen Mann im Türrahmen um. Er war nur etwa einen Meter siebzig groß und trug Jeans und T-Shirt. Rein äußerlich wirkte er kaum älter als Kyros, doch mit seinen neunundzwanzig Jahren war er ein Baby im Vergleich zu den Jahrhunderten, die Kyros bereits auf der Erde weilte.
»Nein. Du kannst gehen.«
Falls es eng wurde, wollte er nicht, dass der Squire in der Nähe war, deshalb würde Rob zu seiner Familie nach Nashville fahren.
Rob nickte. »Gut. Dann sehen wir uns nächste Woche.«
»Hoffentlich«, sagte Kyros leise, als er sich zum Gehen wandte. Er würde heute Abend einen Verrat begehen, der ihn aller Wahrscheinlichkeit nach tötete. Aber er hatte von Anfang an gewusst, was er tat.
Zumindest hatte er das gehofft.
Danger lag nackt in Alexions Armen. Sie hatte ihren Kopf auf seine Brust gelegt, während er mit den Fingern mit ihrem Haar spielte. Die Zeit raste dahin; so schnell, dass sie nicht wusste, wo ihr der Kopf stand.
Am liebsten hätte sie laut geschrien, sie möge stehen bleiben. Sie sehnte sich danach, Alexion die ganze Nacht in den Armen zu halten und den nächsten Tag und den Tag danach.
Aber das würde nicht passieren.
Ich werde nicht weinen. Auf keinen Fall.
Das wäre nicht fair. Weder ihm gegenüber noch ihr selbst. Doch insgeheim vergoss sie verzweifelte Tränen. Sie fühlte sich, als wäre sie in Stücke gerissen worden. Wie sollte sie diese Nacht nur überstehen?
Wie sollte sie vom Besten, was ihr je widerfahren war, Abschied nehmen?
Wie machten es andere, die den Menschen zurückließen, den sie liebten?
Doch sie kannte die Antwort auf diese Frage bereits. In der Vergangenheit war sie so oft gezwungen gewesen, geliebte Menschen zurückzulassen, dass sie sich nur fragen konnte, weshalb sie sich je gestattet hatte, jemandem ihr Herz zu schenken.
Andererseits war es völlig ausgeschlossen, einen Mann wie Alexion nicht zu lieben.
Sie hörte die Standuhr auf dem Korridor zehn Uhr schlagen.
»Wir müssen gehen«, sagte Alexion mit belegter, rauer Stimme.
»Ich weiß.«
Widerstrebend löste sie sich von ihm und zwang sich, ihre Gedanken auf andere Dinge zu lenken.
Keiner von ihnen sprach, als sie duschten und sich anzogen.
Was hätten sie auch sagen sollen? Schlimmer noch – sie hatte Angst, jedes Wort von ihm oder ihr selbst könnte sie augenblicklich in Tränen ausbrechen lassen. Es war einfacher, die Fassung zu bewahren, wenn sie schwiegen.
Sie konnte ihm noch nicht einmal sagen, dass sie ihn niemals vergessen würde. Und das tat am allermeisten weh.
»Ich will nicht vergessen …«
Erst als Alexion sie in die Arme nahm, wurde ihr bewusst, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Es ist besser, wenn du es tust. Ich könnte dich nicht in dem Wissen zurücklassen, dass du meinetwegen leidest. Das Einzige, was es für mich erträglich macht, ist die Gewissheit, dass dein Leben morgen wieder genauso sein wird wie zuvor.«
Eine Träne löste sich und lief ihr über die Wange. »Es tut mir leid«, sagte sie und wischte sie eilig fort. Aber es war zu spät. Diese eine Träne löste eine wahre Flut aus, und ihr Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.
Die Vorstellung, dass sie sich schon bald nicht einmal mehr daran erinnern würde, dass er existierte, brach ihr das Herz. Die Erinnerung an seine Berührung, für immer fort … ebenso wie die Erinnerung an seinen Geruch.
Gott, wie liebte sie den Duft seiner Haut. Die Zärtlichkeit, mit der er über ihre Wange strich. Das Gefühl, unter ihm zu liegen …
Wie sollte sie nur ohne ihn weiterleben?
»Verlass mich nicht.« Ihre Stimme brach.
Alexion schloss die Augen, als auch er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Hätte er einen Wunsch frei gehabt …
Doch selbst alle Wünsche auf dieser Welt konnten ihn nicht wieder menschlich machen, so dass sie für immer zusammen sein konnten.
»Ich werde dich nicht verlassen, Danger. Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst.«
Sie hob den Kopf. In ihren Augen lag ein Schmerz, der sich tief in sein Herz schnitt. »Aber ich werde dich nicht sehen können.«
»Nein, das nicht, aber ich werde dich niemals allein lassen. Das schwöre ich.«
Danger schlang die Arme noch fester um ihn. Sie wusste nicht, wer von ihnen schlimmer dran war – derjenige, der keinerlei Erinnerung an ihre Begegnung hatte, oder der, der sie hatte, aber nicht darüber sprechen konnte.
Sie wollte nicht, dass diese Nacht endete. Unfähig, dem Druck noch länger standzuhalten, zog sie ihn zu sich herab, um ein letztes Mal seinen Geschmack auf ihren Lippen zu spüren, seinen warmen maskulinen Duft einzuatmen und sich davon umhüllen und forttragen zu lassen.
Nicht einmal die Liebe vermochte sie zu retten. Nichts konnte sie retten.
»Ich liebe dich, Alexion. Ich liebe dich, Ias. Mit allem, was ich bin und was ich fühle.«
»Je t’aime pour toujours.«
»Moi aussi.«
Und dann tat sie das Schwerste, was sie je in ihrem Leben hatte tun müssen.
Sie ließ ihn los und trat zurück, obwohl jede einzelne Faser ihres Seins danach schrie, ihn für immer in den Armen zu halten.
Unfähig, ihn noch eine Sekunde länger anzusehen, ohne vollends zu zerbrechen, holte sie tief Luft, wischte sich die Tränen ab und ging in Richtung Garage.
Alexion stieß einen Fluch aus. Ich bin stärker als das hier. Das Problem war nur, dass das nicht stimmte. Nicht einmal seine und Acherons Kräfte zusammen könnten seinen unsäglichen Schmerz lindern.
Danger hatte etwas in ihm gefunden und ans Licht gebracht. Nach den Tagen in ihrer Gegenwart würde er nie wieder derselbe sein.
Er wollte nur noch einen einzigen Tag mit ihr.
Nein, das war eine Lüge. Das wusste er ganz genau. Ein einziger Tag könnte ihn niemals zufriedenstellen.
Er wollte alles.
Er sog tief den Atem ein und ließ ihn wieder entweichen. Wenn Wünsche Pferde wären, könnten selbst Bettler reiten – ein Sprichwort, das er vor etwa dreihundert Jahren von einem Dark Hunter gehört hatte.
Bei jeder Inkarnation lernte er etwas Neues dazu.
Und nun hatte er gelernt zu lieben … nein, das stimmte nicht. Er hatte endlich gelernt zu leben.
Und heute Abend würde er lernen, wie man Abschied nahm.
Er zwang sich, Danger zu folgen. Und mit jedem Schritt hielt er sich vor Augen, dass sein Handeln einem größeren, übergeordneten Wohl diente.
Dieser Gedanke hielt auch Acheron bei der Stange, seit Tausenden und Abertausenden von Jahren. Und genau dieser Gedanke machte das Unerträgliche erträglich.
Er schloss die Augen und beschwor ein Gefühl betäubender Ruhe in seinem Innern herauf. Später würde er Tränen darüber vergießen, was er verloren hatte. Heute Abend jedoch würde er Danger beschützen und seine Aufgabe erfüllen.
Mochten die Götter Kyros und Stryker gnädig sein. Denn Alexion wäre es nicht.