Wie alles begann …
Griechenland, 7238 vor unserer Zeit
Acheron nahm irgendetwas hinter sich wahr. Vermutlich war es ein Daimon, der sich auf ihn stürzen wollte. Er wirbelte mit gezücktem Stab herum, bereit, sich zur Wehr zu setzen.
Aber da war kein Daimon.
Stattdessen sah er Simi, die kopfüber an einem Baum hing, die langen, fledermausartigen, burgunderroten Flügel eng an ihren kindergleichen Körper gelegt. Sie trug einen weiten schwarzen Chiton mit einem Himation, der in der nächtlichen Brise leise flatterte. Zweifellos sorgte Simi mithilfe ihrer Kräfte dafür, dass die Kleidungsstücke an Ort und Stelle blieben und ihr nicht über den Kopf rutschten, so dass ihr Körper entblößt wäre. Ihre blutroten Augen glühten unheimlich in der Finsternis, und ihr langer schwarzer Zopf reichte bis zum Boden.
Acheron entspannte sich und grub seinen Stab ins feuchte Gras.
»Wo warst du, Simi?«, fragte er scharf. Er hatte bestimmt eine halbe Stunde lang nach dem Charonte-Dämon gerufen.
»Oh, Simi war nur ein bisschen unterwegs, akri«, erwiderte sie lächelnd und schwang an ihrem Ast hin und her, während die Farbe ihrer Augen zu einem leuchtenden Gelb wechselte. »Hat akri mich vermisst?«
Acheron stieß einen erschöpften Seufzer aus. Er mochte Simi wirklich gern, trotzdem wünschte er, er hätte einen etwas reiferen Dämon als Gefährten – und keinen, der sich selbst nach seit dreitausend Jahren noch immer auf dem Entwicklungsstand eines fünfjährigen Kindes befand.
Es würde noch Jahrhunderte dauern, bis Simi endlich erwachsen wäre.
»Hast du meine Nachricht überbracht?«, fragte er.
»Ja, akri«, antwortete sie und verwendete dabei das atlantäische Wort für »mein Herr und Gebieter«. »Ich habe sie überbracht, genauso wie du es befohlen hast, akri.«
Acheron spürte, wie die Haut in seinem Nacken zu prickeln begann. Irgendetwas an ihrem Tonfall ließ ihn aufhorchen. »Was hast du angestellt, Sim?«
»Simi hat gar nichts angestellt, akri. Aber …«
Er wartete, während sie ihn nervös ansah.
»Aber?«
»Auf dem Heimweg hatte Simi auf einmal Hunger.«
Eiskalte Furcht packte ihn. »Wen hast du diesmal gefressen?«
»Es war kein Wer, akri, sondern ein Was. Mit Hörnern, so wie ich welche habe. Na ja, eigentlich waren es mehrere. Sie alle hatten Hörner und machten ständig so seltsam Muh-Muh.«
»Du meinst Kühe? Du hast Kühe gefressen?«
»Genau, akri. Ich habe Kühe gefressen.«
»Das ist nicht so schlimm.«
»Nein«, bestätigte sie mit der bezaubernden Unschuld eines kleinen Mädchens. »Ehrlich gesagt haben sie ziemlich gut geschmeckt, akri. Wieso hast du Simi nie erzählt, dass es sie gibt? Gebraten waren sie sehr lecker. Sie haben Simi ganz ausgezeichnet geschmeckt.«
»Weshalb bist du dann so besorgt?«
»Wegen dieses großen Mannes mit nur einem Auge, der aus der Höhle kam, wie verrückt herumsprang und Simi anschrie. Er sagte, Simi sei böse, weil sie die Kühe gefressen hätte, und müsse dafür bezahlen. Aber was heißt das, akri? Simi versteht nicht, was es bedeutet, wenn man für etwas bezahlen muss.«
Acheron wünschte, er könnte dasselbe von sich behaupten. »Dieser riesige Mann, Simi … war er ein Zyklop?«
»Was ist ein Zyklop?«
»Ein Sohn des Poseidon.«
»Oh, jetzt verstehe ich. Ja, das hat er gesagt. Aber er hatte keine Hörner. Sondern nur einen riesigen kahlen Kopf.«
Acheron verspürte keinerlei Bedürfnis, mit seinem Dämon über Kahlköpfe zu diskutieren. Wichtig war nur, wie er Wiedergutmachung für Simis gewaltigen Appetit leisten konnte. »Und was hat der Zyklop zu dir gesagt?«
»Dass er Simi böse ist, weil sie seine Kühe aufgefressen hat. Die Horntiere gehörten Poseidon, sagte er. Wer ist Poseidon, akri?«
»Ein griechischer Gott.«
»Oh, aber wenn das so ist, steckt Simi ja gar nicht in Schwierigkeiten. Simi tötet einfach diesen griechischen Gott, und alles ist gut.«
»Du kannst keinen griechischen Gott töten, Simi. Das ist nicht gestattet.«
»Siehst du? Du tust es schon wieder, akri. Immer verbietest du Simi alles. Friss dies nicht, Simi, töte das nicht, Simi. Bleib hier, Simi. Geh nach Katoteros, Simi, und warte, bis ich dich rufe.« Sie kreuzte die Arme vor der Brust und musterte ihn finster. »Nie darf ich etwas. Das gefällt mit nicht, akri.«
Acheron verzog das Gesicht, als der Schmerz in seinem Hinterkopf zu pochen begann. Hätte er doch nur einen Papagei zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag bekommen. Dieser Charonte-Dämon brachte ihn irgendwann noch ins Grab.
»Wieso hast du Simi denn gerufen, akri?«
»Ich brauchte deine Hilfe bei den Daimons.«
Sie entspannte sich und begann wieder zu schaukeln. »Es sah aber nicht so aus, als würdest du Hilfe brauchen, akri. Simi findet, du hast dich auch so ganz wacker geschlagen. Besonders gefiel mir, dass du diesen einen Daimon zuerst durch die Luft geschleudert hast, bevor du ihn getötet hast. Sehr gut. Ich wusste ja gar nicht, dass sie so schön bunt sind, wenn sie explodieren.«
Sie schnellte von ihrem Ast, landete auf dem Boden und trat zu ihm. »Und wohin gehst du jetzt, akri? Nimmst du Simi wieder irgendwohin mit, wo es kalt ist? Dort, wo wir letztes Mal waren, hat es mir sehr gut gefallen. Der Berg war sehr schön.«
»Acheron?«
Artemis’ Stimme ließ ihn aufhorchen. Er stieß einen gequälten Seufzer aus.
Seit zweitausend Jahren ignorierte er sie eisern.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie versucht hatte, ihn »leibhaftig« aufzustöbern, doch das hatte er unterbunden.
Inzwischen war ihre mentale Telepathiekraft das Einzige, dem er sich nicht vollständig entziehen konnte.
»Komm, Simi«, sagte er und machte sich auf den Weg zurück nach Therakos. Die Daimons hatten dort eine Kolonie gegründet und lauerten den armen Griechen in einem kleinen Dorf auf.
»Acheron. Ich brauche deine Hilfe. Meine neuen Dark Hunter brauchen einen Lehrer.«
Er erstarrte.
Neue Dark Hunter?
Was zum Teufel sollte das bedeuten?
»Was hast du getan, Artemis?«, flüsterte er. Der Wind nahm seine Stimme auf und trug sie den ganzen Weg bis zum Olymp, wo sie bereits in ihrem Tempel wartete.
»Oh, du sprichst also mit mir.« Er hörte die Erleichterung in ihrem Tonfall. »Ich hatte mich schon gefragt, ob ich je wieder dem Klang deiner Stimme würde lauschen dürfen.«
Acheron verzog die Lippen. Er hatte jetzt keine Zeit für diese Spielchen.
»Acheron?«
Er ignorierte sie.
Sie verstand den Wink nicht.
»Die Bedrohung durch die Daimons verbreitet sich schneller, als du sie kontrollieren kannst. Du brauchtest Hilfe, deshalb habe ich sie dir gewährt. Ich habe neue Krieger erschaffen, die dir im Kampf gegen sie zur Seite stehen sollen … Ich habe sie Dark Hunter genannt.«
Er schnaubte höhnisch. Seit Anbeginn der Zeit hatte griechische Göttin noch nie etwas aus Selbstlosigkeit für andere getan.
»Lass mich in Ruhe, Artemis. Wir sind fertig miteinander, du und ich. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen und keine Zeit, mich mit dir herumzuschlagen.«
»Gut, dann lasse ich sie eben unvorbereitet auf die Daimons los. Wenn sie sterben, wen kümmert das schon? Sind ja nur Menschen. Ich kann jederzeit mehr von ihnen zum Kampf heranziehen.«
Es war ein mieser Trick.
Und doch wusste Acheron tief in seinem Innern, dass es mehr war. Höchstwahrscheinlich hatte sie mehrere Geschöpfe dieser Art erschaffen, und wenn sie es einmal getan hatte, würde sie es zweifellos wieder tun.
Insbesondere, wenn sie ihm damit ein schlechtes Gewissen bereiten konnte.
Diese verdammte Artemis. Er hatte keine andere Wahl, als sie in ihrem Tempel aufzusuchen.
Lieber hätte er sich erneut die Eingeweide herausreißen lassen.
Er sah seinen Dämon an. »Simi, ich muss zu Artemis. Du kehrst nach Katoteros zurück und wartest, bis ich dich rufe. Und sieh zu, dass du keinen Ärger bekommst.«
Der Dämon verzog das Gesicht. »Simi mag Artemis nicht, akri. Ich wünschte, du würdest Simi erlauben, dass sie die Göttin tötet. Simi würde ihr am liebsten jedes lange rote Haar einzeln ausreißen.«
Er konnte es ihr durchaus nachfühlen.
Simi war Artemis nur ein einziges Mal begegnet.
Dieses Aufeinandertreffen war katastrophal verlaufen.
»Ich weiß, Simi. Und genau deshalb will ich, dass du in Katoteros bleibst.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal um. »Und friss um Acherons willen nichts, bis ich wieder zurück bin. Besonders keinen Menschen.«
»Aber …«
»Nein, Simi. Kein Fressen.«
»Nein, Simi. Kein Fressen«, äffte sie ihn nach. »Simi gefällt das nicht, akri. In Katoteros ist es langweilig. Dort gibt es nichts als alte tote Leute, die hierher zurückkehren wollen. Bäh!«
»Simi …« Ein warnender Unterton lag in seiner Stimme.
»Ich höre und gehorche, akri. Aber Simi hat nie behauptet, dass sie es ohne Widerrede tut.«
Er schüttelte den Kopf, ehe er den Weg von der Erde zu Artemis’ Tempel im Olymp antrat.
Wenig später stand Acheron auf der goldenen Brücke. Das Rauschen des Wassers unter ihm hallte von den kahlen Felsen rings um ihn herum wider.
Nichts hatte sich in den letzten zweitausend Jahren verändert.
Das gesamte Areal auf dem Berggipfel bestand aus schimmernden Brücken und Übergängen, die zu den einzelnen Tempeln führten und über denen sich ein schillernd bunter Regenbogen spannte.
Die Hallen des Olymp waren gewaltig und prachtvoll – perfekte Heimstätten für das Ego der Götter, die sie bewohnten.
Artemis’ Tempel war aus Gold mit einer Kuppel und Marmorsäulen. Von ihrem Thronsaal aus bot sich ein atemberaubender Ausblick auf den Himmel und die Erde darunter.
Zumindest hatte er es in seiner Jugend stets so empfunden.
Aber das war lange her. Die Zeit und die Erfahrung hatten seine Wertschätzung beträchtlich geschmälert. Für ihn wohnte diesem Ort nichts Spektakuläres oder Schönes mehr inne. Stattdessen sah er nichts als die selbstsüchtige Eitelkeit und Kälte der Olympier.
Diese neuen Götter waren so ganz anders als jene, mit denen Acheron aufgewachsen war. Die atlantäischen Götter hatten sich bis auf einen durch Mitgefühl ausgezeichnet. Durch Liebe, Freundlichkeit und die Fähigkeit zu verzeihen.
Nur ein einziges Mal hatten sich die Atlantäer von ihrer Furcht leiten lassen – ein Fehler, der sie ihre Unsterblichkeit gekostet und den olympischen Göttern erlaubt hatte, ihren Platz einzunehmen.
Es war in vielfacher Hinsicht ein trauriger Tag für die Menschheit gewesen.
Acheron zwang sich, die Brücke zu Artemis’ Tempel zu überqueren. Vor zweitausend Jahren hatte er diesen Ort verlassen und sich geschworen, nie wieder zurückzukehren.
Er hätte wissen müssen, dass Artemis ihn früher oder später mit einer List zurücklocken würde.
Mithilfe seiner telekinetischen Fähigkeiten öffnete Acheron die riesigen goldenen Portale, während sich die Wut wie eine glühend heiße Faust um seinen Magen legte. Augenblicklich drangen die markerschütternden Schreie von Artemis’ koris – ihren weiblichen Bediensteten – an seine Ohren, als sie schutzsuchend hinter Artemis’ Thron liefen. Sie waren nicht daran gewöhnt, dass ein männliches Wesen einen Fuß in die Privatgemächer ihrer Göttin setzte.
Die schrillen Schreie der Dienerinnen hallten von den Wänden wider. Artemis zuckte zusammen und beförderte die Frauen nacheinander mit einem Schlag aus dem Raum.
»Hast du etwa alle acht getötet?«, fragte Acheron.
Artemis rieb sich die Ohren. »Eigentlich hätte ich es tun sollen, aber ich habe sie lediglich in den Fluss geworfen.«
Erstaunt musterte er sie. Wie ungewöhnlich. Vielleicht hatte die Göttin ja in den vergangenen zweitausend Jahren doch so etwas wie Mitgefühl und Gnade entwickelt.
Was allerdings höchst unwahrscheinlich war.
Nun, da sie allein waren, erhob sie sich von ihrem dick gepolsterten Elfenbeinthron und trat auf ihn zu. Sie trug einen schlichten weißen Peplos, der sich um die üppigen Kurven ihres Körpers schmiegte. Ihre dichten kastanienroten Locken schimmerten im Licht, und in ihren grünen Augen lag ein warmer Glanz.
Doch ihr Blick durchbohrte ihn wie eine spitze Lanze. Heiß. Stechend. Schmerzlich.
Er hatte gewusst, dass es schwer werden würde, sie wiederzusehen – dies war einer der Gründe, weshalb er ihre Rufe so konsequent ignoriert hatte.
Doch etwas im Vorhinein zu wissen und es am eigenen Leib zu erleben, waren zwei grundverschiedene Dinge. Auf die Gefühle, die ihn nun, da er ihr gegenüberstand, zu übermannen drohten, war er nicht gefasst gewesen. Den Hass. Das Gefühl des Verrats.
Und, was am allerschlimmsten war, die Lust. Die Begierde. Das Verlangen.
Ein Teil von ihm liebte sie immer noch. Ein Teil von ihm war bereit, ihr alles zu verzeihen.
Selbst seinen Tod …
»Du siehst gut aus, Acheron. Genauso attraktiv wie bei unserer letzten Begegnung.« Sie streckte die Hand aus.
Er wich einen Schritt zurück. »Ich bin nicht zum Plaudern hergekommen, Artemis. Ich …«
»Früher hast du mich immer Artie genannt.«
»Früher habe ich so manches getan, was ich heute nicht mehr tun kann.« Er starrte sie eindringlich an, um sie daran zu erinnern, was sie ihm genommen hatte.
»Du bist immer noch wütend auf mich.«
»Glaubst du?«
Etwas Helles flackerte in ihren smaragdgrünen Augen auf, was ihn an den Dämon erinnerte, der in ihrem göttlichen Körper wohnte und noch größere Zerstörungskraft besaß als Simi – nicht zuletzt, weil Artemis sich voll und ganz im Klaren war, welchen Schaden sie anrichten konnte. »Ich hätte dich zwingen können, zu mir zu kommen, das ist dir hoffentlich klar. Aber ich war dir und deinem Trotz gegenüber sehr nachsichtig. Mehr, als ich es hätte sein sollen.«
Er wandte den Kopf ab. Sie hatte recht. Sie allein besaß die Nahrungsquelle, die er brauchte, um weiter existieren zu können.
Wenn er zu lange ohne Nahrung blieb, würde er zum unkontrollierbaren Killer und zur Gefahr für jeden werden, der ihm zu nahe kam.
Und nur Artemis besaß das, was er brauchte, um der zu bleiben, der er war. Bei klarem Verstand. Mitfühlend.
»Wieso hast du es dann nicht getan?«, fragte er.
»Weil ich dich kenne. Hätte ich es versucht, hättest du dafür gesorgt, dass wir beide dafür bezahlen.«
Und auch in diesem Punkt hatte sie recht. Seine Tage der Unterwerfung gehörten der Vergangenheit an – davon hatte er in seiner Kindheit und Jugend mehr als genug gehabt. Nachdem er erst einmal eine Kostprobe von der Freiheit und der Macht bekommen hatte, war ihm bewusst geworden, dass er beides viel zu sehr liebte, um wieder zu werden, was er früher gewesen war.
»Erzähl mir von diesen Dark Huntern, die du erschaffen hast«, forderte er sie auf.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du Hilfe brauchst.«
Er verzog den Mund. »Ich brauche keine Hilfe.«
»Ich und die anderen Götter sind aber anderer Meinung.«
Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Artemis …«, grollte er, wohl wissend, dass sie log. Er war durchaus in der Lage, die Daimons, die Jagd auf die Menschen machten, in Schach zu halten und zu töten. Sie beide wussten das ganz genau. »Ich schwöre …«
Bei der Erinnerung an die ersten Tage nach seiner Verwandlung biss er die Zähne zusammen. Er hatte niemanden gehabt, der ihm irgendetwas erklärt oder beigebracht hatte. Niemanden, der ihm gesagt hatte, was er tun sollte.
Wie er sein neues Leben leben sollte.
Und wie er jene Regeln befolgen sollte, die ihn an die Nacht und an Artemis banden. Diese neuen Krieger würden genauso wenig wissen, was sie zu tun hatten.
Und – was am schlimmsten war – bis sie gelernt hätten, ihre Kräfte einzusetzen, wären sie überaus verletzlich.
Der Teufel sollte diese verdammte Artemis holen.
Ebenso wie ihn selbst, weil er es nicht hatte kommen sehen. Er hätte wissen müssen, dass er sie nicht aus den Augen lassen durfte.
»Wo sind sie jetzt?«, fragte er.
»Sie warten in Falossos. Sie verstecken sich in einer Höhle, um nicht der Sonne ausgesetzt zu sein. Aber sie sind nicht sicher, was sie tun und wie sie die Daimons aufstöbern und bekämpfen sollen. Diese Männer brauchen einen Anführer.«
Acheron wollte es nicht tun. Er wollte weder andere führen noch Befehle von anderen befolgen. Nach dem Leben, das er als Mensch geführt hatte, war sein Bedürfnis, andere um sich zu haben, nicht allzu groß.
Er hatte nur einen einzigen Wunsch – allein und in Frieden gelassen zu werden.
Allein die Vorstellung, von anderen umgeben zu sein …
Es ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Doch so reizvoll der Gedanke auch war, seiner Wege zu gehen, war sich Acheron doch bewusst, dass es keine andere Möglichkeit gab. Wenn er den Männern nicht beibrachte, die Daimons zu bekämpfen und zu töten, würden sie am Ende selbst mit dem Leben bezahlen.
Und ein toter Mann ohne Seele war ein armer Teufel – niemand wusste das so genau wie er.
»Gut«, sagte er. »Ich werde sie unterweisen.«
Sie lächelte.
Acheron kehrte zu Simi zurück und befahl ihr, noch eine Weile zu bleiben, wo sie war. Der Dämon würde eine ohnehin komplizierte Angelegenheit nur noch komplizierter machen.
Als er sicher war, dass Simi, obwohl sie sich lautstark über seinen Befehl beschwerte, sich nicht vom Fleck rühren würde, beförderte er sich mittels Teleportation nach Falossos.
Wie Artemis angekündigt hatte, fand er drei Männer in der Dunkelheit einer Höhle, wo sie sich um ein Feuer gesetzt hatten und sich leise unterhielten, auch wenn ihre Augen von der Helligkeit der Flammen tränten.
Ihre Augen waren nicht länger menschlich und vertrugen keine Helligkeit mehr.
Es gab so vieles, was er ihnen beibringen musste.
Acheron trat aus den Schatten.
»Wer bist du?«, fragte der größte der drei Krieger, als er ihn erblickte.
Haltung, Körperbau und Rüstung des Mannes ließen darauf schließen, dass er dorischer Abstammung war. Sein Haar war lang und tiefschwarz, er war groß und sehr kräftig und trug noch seine handgefertigte Kampfrüstung, die dringend repariert und in Schuss gebracht werden sollte.
Die anderen Männer, blonde Griechen, trugen ebenfalls Rüstungen, die in ähnlich erbarmungswürdigem Zustand waren. Im Kettenhemd des jüngsten klaffte ein Loch, wo er mit einem Holzspeer durchbohrt worden war.
Die Männer konnten sich in dieser Montur unter keinen Umständen unter die Lebenden mischen. Er musste sich um sie kümmern. Sie mussten sich ausruhen.
Und sie mussten unterwiesen werden.
Acheron streifte die Kapuze seines schwarzen Himation ab und musterte die Männer der Reihe nach.
Beim Anblick seiner silbrig flirrenden Iris wurden die Männer bleich.
»Bist du ein Gott?«, wollte der Große wissen. »Es hieß, Götter würden uns sofort töten, wenn wir in ihre Nähe kämen.«
»Ich bin Acheron Parthenopaeus«, sagte er leise. »Artemis hat mich geschickt, damit ich euch unterweise.«
»Ich bin Callabrax von Likonos«, stellte sich der Große vor, womit er seine dorische Herkunft bestätigte.
Er zeigte auf den Blonden zu seiner Rechten. »Kyros von Seklos«, sagte er und zeigte auf den Jüngsten. »Und das ist Ias von Groesia.«
Ias trat ein paar Schritte zurück. Der Ausdruck in seinen Augen war leer. Acheron konnte die Gedanken des Mannes wahrnehmen, als gingen sie ihm selbst durch den Kopf. Der Schmerz des jungen Mannes berührte ihn zutiefst. Sein Magen zog sich vor Mitgefühl zusammen.
»Wie lange ist es her, seit ihr erschaffen wurdet?«, fragte Acheron.
»Bei mir sind es ein paar Wochen«, antwortete Kyros.
Callabrax nickte. »Bei mir auch.«
Acheron sah Ias an.
»Vor zwei Tagen«, erwiderte er tonlos.
»Ihm ist immer noch übel von der Verwandlung«, erklärte Kyros. »Aber allmählich erholt er sich. Bei mir hat es fast eine Woche gedauert, bis ich mich … angepasst hatte.«
Acheron unterdrückte ein bitteres Lachen. Das war eine treffende Beschreibung.
»Habt ihr schon Daimons getötet?«, fragte er weiter.
»Wir haben es versucht«, antwortete Callabrax. »Aber es ist ganz anders, als Soldaten zu töten. Sie sind stärker. Und schneller. Und sie sterben nicht so leicht. Schon zwei Männer haben wir ihretwegen verloren.«
Bei der Vorstellung, wie zwei völlig unvorbereitete Männer gegen die Daimons antraten und welche entsetzliche Existenz sie nach ihrem Tod erwartete, zuckte Acheron zusammen.
Er musste an seinen eigenen ersten Kampf denken …
Entschlossen schob er den Gedanken beiseite.
»Habt ihr heute Abend schon gegessen?«
Die drei nickten.
»Dann kommt mit nach draußen, damit ich euch zeigen kann, wie ihr sie töten könnt.«
Acheron arbeitete mit den drei Männern bis kurz vor Sonnenaufgang und brachte ihnen alles bei, was sie innerhalb einer Nacht lernen konnten – neue Taktiken, Angriffsstrategien und die verwundbaren Stellen der Daimons.
Am Ende begleitete er sie zu ihrer Höhle zurück.
»Ich werde einen besseren Platz suchen, wo ihr euch vor dem Tageslicht verstecken könnt«, versprach er.
»Ich bin Dorier«, erklärte Callabrax stolz. »Ich brauche nicht mehr als das, was ich habe.«
»Aber wir nicht«, wandte Kyros ein. »Ias und ich würden ein Bett sehr begrüßen. Und ein Bad noch viel mehr.«
Acheron nickte ihnen zu und bedeutete Ias, ihm nach draußen zu folgen.
Er führte den jungen Mann außer Hörweite der anderen.
»Du willst deine Frau wiedersehen«, sagte er leise.
Ias starrte ihn verblüfft an. »Woher weißt du das?«
Acheron antwortete nicht. Schon als Mensch hatte er persönliche Fragen verabscheut, weil sie meist unweigerlich zu Unterhaltungen führten, die er nicht führen wollte. Unterhaltungen, bei denen Erinnerungen geschürt wurden, die besser im Verborgenen blieben.
Acheron schloss die Augen und ließ seine Gedanken schweifen, quer durch das Universum, bis er die Frau fand, die Ias’ Gedanken heimsuchte.
Liora.
Sie war eine Schönheit, mit Haar so schwarz wie der Flügel eines Raben und Augen so klar und blau wie das offene Meer.
Kein Wunder, dass Ias sie schmerzlich vermisste.
Die Frau hatte sich hingekniet und weinte und betete. »Bitte«, flehte sie die Götter an, »bitte gebt mir meinen Geliebten zurück. Ich will alles tun, um ihn wieder zu Hause zu haben. Macht, dass die Kinder ihren Vater zurückbekommen.«
Mitfühlend lauschte Acheron ihren Worten. Niemand hatte ihr gesagt, was geschehen war. Sie betete für das Wohlergehen eines Mannes, der nicht mehr bei ihr war, ohne dass sie es ahnte.
Ihr Anblick war eine Qual.
»Ich verstehe deine Traurigkeit«, sagte er zu Ias, obwohl er wusste, dass er es in Wahrheit nicht tat. Bis zu dem Tag, an dem ihm Simi zugeteilt worden war, hatte er nie eine Vorstellung davon gehabt, was Liebe bedeutete, und auch jetzt noch verstand er nicht allzu viel davon. »Aber du kannst sie nicht wissen lassen, dass du jetzt in dieser Gestalt existierst. Sie hätten nur Angst vor dir, wenn du nach Hause kämst, und würden versuchen, dich zu töten.«
Tränen schossen Ias in die Augen, und als er fortfuhr, wurden seine Fangzähne sichtbar. »Liora hat sonst niemanden auf der Welt. Sie war Waise, als ich sie geheiratet habe, und mein Bruder hat bereits vor mir sein Leben verloren. Es ist niemand da, der sich meiner Witwe und meiner Kinder annehmen könnte. Sie werden Hunger leiden und es sehr schwer haben.«
Leiden war etwas, womit Acheron sich nur allzu gut auskannte, doch obwohl er mit den beiden fühlte, konnte er nichts für sie tun. »Du kannst nicht zurück.«
»Wieso nicht?«, fragte Ias zornig. »Artemis meinte, ich könnte an jenem Mann Rache nehmen, der mich getötet hat, und dann weiterleben, solange ich ihr nur diene. Sie hat nichts davon gesagt, dass ich nicht nach Hause zurückkehren kann.«
Acheron verstärkte den Griff um seinen Stab. Es war typisch für Artemis, bei Verhandlungen wichtige Details einfach zu »vergessen«. Sie war ein hinterhältiges Miststück, dem es völlig gleichgültig war, ob sie jemandem Schmerz zufügte, solange sie nur bekam, was sie wollte.
»Ias«, sagte er mit belegter Stimme, »denk doch mal einen Augenblick nach. Du bist nicht länger ein Mensch. Was glaubst du wohl, wie die Leute auf dich reagieren würden, wenn du mit schwarzen Augen und Vampirzähnen zurückkämst? Du kannst dich nicht bei Tageslicht draußen aufhalten. Deine Treuepflicht gilt nun der gesamten Menschheit, nicht nur deiner Familie. Niemand kann beiden verpflichtet sein. Du kannst nicht zurückkehren.«
Die Lippen des Mannes bebten, doch er nickte. »Ich rette Menschen, während meine eigene Familie dem Hungertod geweiht ist, weil sie niemanden haben, der für sie sorgt. Das ist also der Handel, den Artemis mit mir geschlossen hat, ja?«
Acheron wandte den Kopf ab. Der Schmerz über das Leid des Mannes und seiner Familie war zu viel für ihn.
»Geh hinein zu den anderen«, sagte er.
Er sah Ias nach, während er über seine Worte nachdachte. Er konnte nicht herumstehen und tatenlos zusehen.
Acheron konnte sehr gut allein sein, die anderen hingegen … im Gegensatz zu ihm hatten sie alle Familie gehabt. Menschen, die sie liebten und vermissten. Sie würden den Rest der Ewigkeit keinesfalls allein und isoliert verbringen wollen.
Er schloss die Augen und beförderte sich in Artemis’ Thronzimmer zurück.
Als die Frauen diesmal bei seinem Anblick hysterisch schreien wollen, fror Acheron ihre Stimmbänder ein.
»Lasst uns allein«, befahl er.
Die Frauen hasteten zur Tür hinaus und schlugen sie hinter sich zu.
Kaum waren sie allein, lächelte Artemis ihn an. »Du bist zurück. Ich hätte nicht erwartet, dich so schnell wiederzusehen.«
»Nicht, Artemis«, sagte er, um ihre Koketterie im Keim zu ersticken. »Ich bin nur hier, um dir die Meinung zu sagen.«
Sie besaß tatsächlich die Stirn, ihn verblüfft anzusehen. »Weswegen denn?«
Er starrte sie finster an. »Wie kannst du es wagen, diese Männer zu belügen, damit sie in deine Dienste treten?«
Sie erstarrte. »Ich lüge nie.«
Er hob nur eine Braue.
Mit sichtlichem Unbehagen räusperte sie sich und kehrte zu ihrem Thron zurück. »Bei dir war es etwas anderes. Ich habe nicht gelogen, sondern nur vergessen, einige Details zu erwähnen.«
»Das ist reine Wortklauberei, Artemis, und hier geht es nicht um mich. Sondern darum, was du mit ihnen gemacht hast. Du kannst diese armen Teufel nicht dort draußen lassen.«
»Wieso nicht? Du hast es doch auch allein geschafft.«
»Ich bin aber nicht wie sie, das weißt du ganz genau. Ich hatte nichts im Leben, wofür es sich zurückzukehren lohnte. Keine Familie, keine Freunde.«
»Mit Ausnahme von mir. Was war ich für dich?«
»Ein Fehler, den ich seit zweitausend Jahren bereue.«
Flammende Röte schoss ihr ins Gesicht. Sie erhob sich von ihrem Thron, trat die zwei Stufen herab und blieb vor ihm stehen. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden!«
Acheron riss sich den Umhang von den Schultern und schleuderte ihn gemeinsam mit seinem Stab in die Ecke. »Dann töte mich doch, Artemis. Los, tu es ruhig. Tu uns beiden einen Gefallen, und erlöse mich von meinem Leid.«
Sie versuchte ihm ins Gesicht zu schlagen, doch er bekam ihre Hand zu fassen und starrte ihr tief in die grünen Augen, während er die Versuchung niederkämpfte, ihr die Prügel zu verpassen, die sie verdiente. Doch er weigerte sich eisern, dem kindlichen Drang nachzugeben.
Sie konnte von Glück sagen, dass er sich so gut unter Kontrolle hatte.
Artemis sah den Hass in Acherons Augen, die Herablassung, die Wut.
Doch es war nicht seine Wut, nach der sie sich sehnte.
Nein, seine Wut war es niemals gewesen …
Ganz im Gegenteil.
Ihr Blick wanderte über seine Gestalt. Über seine perfekten Züge, die hohen Wangenknochen, die lange, edle Nase. Die tiefe Schwärze seines Haars.
Schließlich heftete er sich auf den unheimlichen flirrenden Silberglanz seiner Augen.
Nie war ein Sterblicher geboren worden, der sich mit dieser körperlichen Perfektion messen konnte. Und es war nicht nur seine Schönheit, die eine so unwiderstehliche Anziehungskraft auf andere – besser gesagt, auf sie – ausübte. Er besaß ein raues, unverbrämtes, männliches Charisma, wie man es nur höchst selten fand. Macht. Stärke. Charme. Intelligenz. Entschlossenheit.
Ihn anzusehen hieß unweigerlich, ihn zu wollen.
Sein Anblick löste den unwiderstehlichen Drang in ihr aus, ihn zu berühren.
Er war dafür geschaffen worden, anderen Freude zu schenken. Alles an ihm – von den sehnigen Muskeln bis hin zum satten, erotischen Timbre seiner Stimme schlug jeden in seinen Bann, der in seine Nähe kam.
Jede seiner Bewegungen barg die Verheißung der Gefahr und die maskuline Kraft eines wilden, ungezähmten Tieres. Die Verheißung ungekannter sexueller Erfüllung.
Versprechungen, die er durchaus zu erfüllen wusste.
In aller Ewigkeit hatte es nur einen Mann gegeben, bei dessen Anblick ihre Knie schwach wurden – Acheron.
Er war der Einzige, den sie je geliebt hatte.
Er besaß die Macht, sie zu töten. Das wussten sie beide. Und dass er es nicht tat, weckte ihre Neugier und provozierte sie – ein verführerischer und zutiefst erotischer Umstand.
Sie dachte an ihre erste Begegnung zurück. An seine Stärke. Die Leidenschaft zwischen ihnen.
Trotzig hatte er mitten in ihrem Tempel gestanden und ihre Drohung, ihn zu töten, mit einem Lachen abgetan.
Und genau an diesem Fleck hatte er getan, was kein Mann zuvor und seither je gewagt hatte …
Noch heute schmeckte sie seinen Kuss auf ihren Lippen.
Im Gegensatz zu anderen Männern hatte er niemals Angst vor ihr gehabt.
Und nun stand sie vor ihm. Die Hitze seiner Berührung brannte auf ihrer Haut. Andererseits war es schon immer so gewesen. Es gab nichts, wonach sie sich mehr sehnte, als seine Lippen auf ihrem Mund zu spüren. Das Feuer seiner Leidenschaft.
Doch mit einem einzigen kleinen Fehler hatte sie ihn verloren.
Am liebsten hätte sie geweint. Einmal, vor langer Zeit, hatte sie versucht, die Zeit zurückzudrehen und diesen Morgen ungeschehen zu machen.
Acherons Liebe und Vertrauen zurückzugewinnen.
Doch die Schicksalsgöttinnen hatten sie hart für ihre Kühnheit bestraft. Er war fort, und nicht einmal sie waren bereit gewesen, ihr zu helfen.
Während der vergangenen zweitausend Jahre hatte sie alles versucht, ihn zurückzugewinnen.
Nichts hatte funktioniert. Nichts hatte ihn auch nur annähernd bewogen, ihr zu verzeihen oder sie in ihrem Tempel aufzusuchen. Erst mit dem Einzigen, wozu er nicht Nein sagen konnte – eine sterbliche Seele, die in Gefahr schwebte –, war es ihr gelungen, ihn zu sich zu locken.
Acheron würde alles tun, um anderen Menschen zu helfen.
Ihr Plan, ihm die Verantwortung für ihre Dark Hunter zu übertragen, war aufgegangen. Er war zurück.
Könnte sie ihn doch nur halten!
»Du willst also, dass ich sie freilasse?«, fragte sie.
Für ihn würde sie alles tun.
»Ja.«
Doch er würde nichts für sie tun. Es sei denn, sie zwang ihn dazu.
»Was bekomme ich dafür, Acheron? Du kennst die Regeln. Ein Gefallen erfordert einen Gefallen im Gegenzug.«
Mit einem zornigen Fluch löste er sich von ihr und trat einen Schritt zurück. »Auf dieses Spiel werde ich mich nicht einlassen.«
Artemis zuckte mit gespielter Lässigkeit die Achseln – alles, was von Bedeutung war, stand in diesem Moment auf dem Spiel.
Wenn er Nein sagte, wäre sie am Boden zerstört.
»Gut, dann werden sie weiterhin als Dark Hunter existieren. Ohne jemanden, der ihnen beibringt, was sie wissen müssen. Es kümmert ohnehin keinen, was aus ihnen wird.«
Resigniert stieß er den Atem aus.
Sie hätte ihn so gern getröstet, doch sie wusste, dass er ihre Berührung keinesfalls zulassen würde. Er hatte sich schon immer gegen Trost und Mitgefühl gewehrt, denn er war stärker, als jeder andere es je sein würde.
Als sich ihre Blicke begegneten, verspürte sie einen sinnlichen Schauder. »Wenn sie dir und den Göttern dienen sollen, Artemis, werden sie ein paar Sachen brauchen.«
»Zum Beispiel?«
»Waffen. Du kannst sie nicht ohne Waffen in den Kampf schicken. Und sie brauchen Nahrung, Kleider, Pferde und Bedienstete, die sie während des Tages bewachen, wenn sie sich ausruhen.«
»Du verlangst zu viel.«
»Ich verlange nur, was sie zum Überleben brauchen.«
»Für dich hast du nichts davon verlangt«, sagte sie gekränkt.
Er verlangte nie etwas. Weil er genau wusste, dass andere damit Macht über ihn hätten. Er würde lieber grenzenloses Leid in Kauf nehmen und Verzicht üben, als etwas von anderen anzunehmen – selbst wenn es nur Freundlichkeit war.
»Ich brauche keine Nahrung, und dank meiner Kräfte kann ich mir alles beschaffen, was ich benötige. Und zu meinem Schutz habe ich immer noch Simi. Doch sie werden allein nicht überleben.«
Niemand tut das, Acheron.
Niemand.
Nicht einmal du.
Und ich schon gar nicht.
Fest entschlossen, ihn um jeden Preis auf ihre Seite zu ziehen, reckte Artemis das Kinn. »Und ich sage es noch einmal – was bekomme ich, wenn ich ihnen gebe, was sie brauchen?«
Acheron wandte den Blick ab. Er wusste genau, was sie wollte, doch er war nicht bereit, es ihr zu geben. Unter keinen Umständen. »Was ich verlange, ist für sie. Nicht für mich selbst.«
Sie zuckte die Achseln. »Gut. Da sie nichts haben, was sie mir im Gegenzug geben könnten, brauchen sie auch nichts.«
Die Lässigkeit, mit der sie über Leben und Wohlbefinden entschied, schürte die Wut tief in seinem Innern.
Sie hatte sich nicht verändert. Keinen Deut.
»Der Teufel soll dich holen, Artemis.«
Sie trat langsam auf ihn zu. »Ich will dich, Acheron. Ich will dich zurück. Es soll alles so sein wie früher.«
Er zuckte unmerklich unter der Berührung ihrer Hände zurück. Es würde nie wieder so werden, wie es gewesen war. Er hatte zu viel über sie erfahren.
Er war einmal zu häufig verraten worden.
Er hielt sich für einen Mann, der nur langsam begriff, doch das stimmte nicht. Stattdessen hatte er sich so sehr nach jemandem gesehnt, dem er etwas bedeutete, dass er der dunklen Seite ihres Charakters keine Beachtung geschenkt hatte.
Er hatte sie ignoriert, bis sie ihm in den Rücken gefallen war und ihn einen einsamen, qualvollen Tod hatte sterben lassen.
Manche Verbrechen konnten nun einmal nicht verziehen werden.
Seine Gedanken schweiften zu den unschuldigen Männern in der Höhle. Männer, die nichts über ihre neue Existenz und ihre Feinde wussten. Er konnte sie unmöglich ihrem Schicksal überlassen.
Er hatte mehr als genug Menschen Leben und Zukunft gekostet.
Er würde unter keinen Umständen zulassen, dass auch sie Leben und Seele verloren.
»Gut, Artemis. Ich gebe dir, was du willst, wenn du mir gibst, was sie zum Überleben brauchen.«
Sie strahlte ihn an.
»Aber«, fuhr er fort, »meine Bedingungen lauten folgendermaßen: Du wirst ihnen jeden Monat einen Sold bezahlen, der es ihnen erlaubt, sich zu kaufen, was sie haben wollen oder brauchen. Wie gesagt, sie werden Schildknappen brauchen, die sich um alles kümmern und ihnen Nahrung, Kleidung und Waffen besorgen. Ich will nicht, dass sie durch diese Dinge von ihrer Arbeit abgelenkt werden.«
»Gut. Ich werde ein paar Menschen finden, die ihnen dienen.«
»Lebende Menschen, Artemis. Freie Menschen. Ich will, dass sie ihnen aus freien Stücken dienen. Und du wirst keine Dark Hunter mehr erschaffen. Nie wieder.«
»Vier von euch reichen aber nicht. Wir werden mehr brauchen, um die Daimons in Schach zu halten.«
Acheron schloss die Augen, als ihm die Ausweglosigkeit ihrer Beziehung bewusst wurde. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die Zukunft aussah – je mehr Dark Hunter sie erschuf, umso länger wäre er ihr verpflichtet. Und es gab keine Möglichkeit, sie an dem Versuch zu hindern, ihn für immer an sich zu binden.
Oder etwa doch?
»Gut«, sagte er schließlich. »Ich gebe nach, aber nur, wenn du ihnen eine Möglichkeit gewährst, sich aus deinen Diensten zu befreien.«
Sie erstarrte. »Was meinst du damit?«
»Ich will, dass du den Dark Huntern eine Möglichkeit gibst, ihre Seele zurückzugewinnen, damit sie nicht länger an dich gebunden sind, wenn sie es nicht mehr wollen.«
Artemis wich zurück. Das hatte sie nicht vorhergesehen. Wenn sie ihm diesen Gefallen gewährte, würde die Regel automatisch auch für ihn gelten.
Und damit könnte er sie jederzeit verlassen.
Sie hatte vergessen, wie gerissen Acheron sein konnte. Wie genau er ihr Spiel durchschaute und wusste, wie er diese Regeln und auch sie selbst manipulieren konnte.
Er war ihr in jeder Hinsicht ebenbürtig.
Doch wenn sie seiner Forderung nicht nachkam, würde er sie ebenfalls verlassen. Sie hatte also keine Wahl, und das wusste er nur zu gut.
Trotzdem gab es ein paar Dinge, die gewährleisten würden, dass er bei ihr blieb – vor allem einen Umstand, der ihn in alle Ewigkeit an sie band.
»Sehr gut. Lass uns ein paar Regeln aufstellen.« Sie registrierte, dass seine Gedanken zu Ias zurückkehrten.
Er hatte Mitleid mit dem armen griechischen Soldaten, der seine Frau so innig liebte – wie üblich wurden ihm sein Mitgefühl und sein Großmut zum Verhängnis.
»Erstens müssen sie sterben, um ihre Seele zurückzubekommen.«
»Wieso?«
»Eine Seele kann nur im Augenblick des Todes von einem Körper aufsteigen. Folglich kann sie nur in ihn zurückkehren, wenn er nicht länger gebrauchsfähig ist. Solange sie als Dark Hunter ›leben‹, können sie ihre Seele nicht zurückerlangen. Diese Regel stelle nicht ich auf, Acheron, sondern sie liegt in der Natur der Dinge.«
Er runzelte die Stirn. »Und wie tötet man einen unsterblichen Dark Hunter?«
»Tja, wir könnten ihnen die Köpfe abschlagen oder sie der Sonne aussetzen, aber da dies ihren Körpern irreversiblen Schaden zufügt, ist es unseren Zwecken wohl nicht gerade dienlich.«
»Das ist nicht witzig.«
Ihm war vollkommen klar, dass sie sie in Wahrheit nicht aus ihren Diensten entlassen wollte.
Und am allerwenigsten ihn selbst.
»Du wirst ihnen ihre Dark-Hunter-Kräfte nehmen müssen«, sagte sie. »Ihre unsterblichen Körper müssen verletzlich werden, und dann müssen ihre Herzen aufhören zu schlagen. Nur dann können sie auf eine Art sterben, die es ihnen ermöglicht, ins Leben zurückzukehren.«
»Gut. Das kann ich machen.«
»Nun ja, du nicht.«
»Was willst du damit sagen?«
Sie unterdrückte ein Lächeln. Jetzt hatte sie ihn an der Angel.
»Es gibt ein paar Gesetzmäßigkeiten, die du über die Seelen wissen musst, Acheron. Erstens – der Besitzer muss sie aus freien Stücken hergeben. Und da ich ihre Seelen besitze …«
Acheron stieß einen Fluch aus. »Ich werde also um jede Seele mit dir feilschen müssen.«
Sie nickte.
Diese Aussicht schien ihm alles andere als zu behagen. Aber am Ende würde er sich damit abfinden müssen.
Das würde er wohl müssen.
»Was noch?«, fragte er weiter.
Nun würde sie zu der Regel kommen, die ihn für immer an sie band. »Nur ein treues reines Herz kann die Seele in einen Körper zurückkehren lassen. Derjenige, der ihm seine Seele zurückgibt, muss der einzige Mensch sein, der den Dark Hunter mehr liebt als jeder andere. Ein Wesen, dem er voll und ganz vertraut und dessen Liebe er erwidert.«
»Warum?«
»Weil die Seele eine Motivation zum Übertritt braucht, sonst bleibt sie, wo sie ist. Ich verwende Rachlust als Motivation, um die Seele in meinen Besitz zu bringen. Nur eine ähnlich starke Emotion wird sie bewegen, in den Körper zurückzukehren. Da ich diese Emotion auswählen kann, entscheide ich, dass es die Liebe sein soll – die schönste und edelste aller Gefühlsregungen. Und die einzige, die es wert ist, für sie in den Körper zurückzukehren.«
Acheron starrte auf die Marmorfliesen.
Liebe.
Vertrauen.
Worte, die sich so einfach sagten. So mächtige Worte. Er beneidete jeden, der ihre wahre Bedeutung kannte.
Er hatte keines davon jemals wirklich erfahren. Verrat, Schmerz, Herabwürdigung, Argwohn, Verachtung und Hass – das waren die Begriffe, die seine Existenz ausmachten. Das war alles, was er jemals gesehen und erlebt hatte.
Ein Teil von ihm hätte am liebsten kehrtgemacht und Artemis für immer verlassen.
»Gebt mir meinen Geliebten zurück. Bitte. Ich will alles tun, um ihn wieder zu Hause zu haben …« Lioras Worte hallten in seinen Gedanken wider. Selbst jetzt konnte er ihr Weinen hören. Ihren Schmerz spüren.
Ebenso wie den tiefen Kummer, den Ias empfand, wenn er an seine Frau und seine Kinder dachte. Seine Sorge um ihr Wohlergehen.
Diese selbstlose Liebe hatte Acheron niemals erfahren. Weder vor noch nach seinem Tod.
»Gib mir Ias’ Seele.«
Artemis sah ihn mit erhobener Braue an. »Bist du bereit, den Preis zu bezahlen, den ich verlange, und die Bedingungen für ihre Entlassung zu akzeptieren?«
Bei der Erinnerung an seine Jugend, die so lange zurücklag, und an die Art und Weise, wie man ihn gezwungen hatte, sein Leben als Sterblicher zu leben, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen.
Alles hat seinen Preis, Junge. Umsonst bekommt man gar nichts. Nein, man bezahlte mit allem, was man hatte, selbst mit der eigenen Seele. Sein Onkel hatte ihm den Preis fürs Überleben nur allzu deutlich vor Augen geführt.
Acheron hatte für alles, was er sich wünschte, stets teuer bezahlt. Für Nahrung. Für Unterschlupf. Für Kleidung.
Mit Fleisch und Blut.
Manche Dinge änderten sich nun einmal nicht.
»Ja«, sagte er. »Ich bin einverstanden. Ich werde bezahlen.«
Artemis lächelte. »Sieh doch nicht so unglücklich drein, Acheron. Es wird dir gefallen, das verspreche ich dir.«
Sein Magen verkrampfte sich noch mehr. Auch diese Worte hatte er schon früher gehört. Und er hatte sie bitter bereut.
Es dämmerte bereits, als Acheron zur Höhle zurückkehrte.
Er war nicht allein – zwei Männer und vier Pferde begleiteten ihn den kleinen Hügel hinauf.
»Was ist das?«, fragte Callabrax beim Anblick der kleinen Prozession, als die drei aus der Höhle traten.
»Das sind die Schildknappen für dich und Kyros. Sie werden euch zu den Dörfern begleiten, wo ihr während eurer Jagd auf die Daimons leben werdet. Sie werden sich um alles kümmern, was ihr braucht. Später komme ich vorbei und bringe eure Unterweisung zu Ende.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Ias.
»Du kommst mit mir.«
Kyros horchte auf. »Sag mir, wohin er geht. Ich werde nicht zulassen, dass ihm Schaden zugefügt wird.«
»Ich werde mich gut um ihn kümmern«, gab Acheron zurück. »Ich verspreche es.«
Er sah das Widerstreben auf Kyros’ Gesicht.
Kyros wandte sich Ias zu. »Ich werde dich vermissen, adelfos. Wenn du mich brauchst, ruf mich.«
Sie umarmten einander, als wären sie Brüder, dann trat Ias zurück. »Was auch geschieht – wir sind Freunde.«
Kyros nickte.
Acheron wartete, bis Kyros und Brax aufgesessen und davongeritten waren, ehe er sich an Ias wandte. »Bist du bereit, nach Hause zurückzukehren?«
Ias sah ihn erstaunt an. »Aber du sagtest doch …«
»Ich habe mich geirrt. Du kannst zurückkehren.«
»Aber was ist mit meinem Eid, den ich Artemis geleistet habe?«
»Darum habe ich mich bereits gekümmert.«
Ias umarmte auch ihn wie einen Bruder.
Acheron zuckte unter der Berührung zurück, als sich der Schmerz durch die tiefen Narben auf seinem Rücken grub. Doch viel mehr schmerzten die Narben in seiner Seele. Narben, die viel tiefer reichten.
Er hasste es seit jeher, wenn jemand ihn berührte.
Behutsam schob er Ias von sich. »Lass uns gehen.«
Acheron brachte sie zu Ias’ kleinem Hof, wo seine Frau gerade die Kinder zu Bett gebracht hatte. Beim Anblick der beiden Männer neben der Feuerstelle wurde sie kreidebleich.
Acheron verschloss sein Gehör gegen die Gedanken der beiden, um ihr Wiedersehen nicht zu stören.
»Ias?«, fragte sie ungläubig blinzelnd. »Heute Morgen haben sie mir gesagt, du wärst tot.«
Ias schüttelte den Kopf und sah sie mit klaren, leuchtenden Augen an. »Nein, meine Geliebte. Ich bin hier. Ich bin zu dir nach Hause gekommen.«
Acheron sog scharf den Atem ein, als Ias zu ihr eilte und sie in die Arme schloss. Ihr Anblick half ihm, die Schmerzen auf seinem Rücken zu lindern – von den Hieben, die Artemis ihm als Preis für Ias’ Seele zugefügt hatte. Dennoch war es ein guter Handel für ihn gewesen. Er würde niemals wahres Glück erfahren, doch diese beiden …
Sie konnten all das empfinden, was ihm stets verwehrt geblieben war.
Und er würde Freude aus dem Wissen ziehen, dass er das Richtige getan hatte.
»Da sind noch ein paar Dinge, über die wir reden müssen, Ias«, sagte Acheron leise.
Stirnrunzelnd löste Ias sich von seiner Frau.
»Deine Frau muss deine Seele in deinen Körper zurückkehren lassen, damit du wieder ein Mensch sein kannst.«
Liora starrte ihn an. »Was?«
»Ich habe mich Artemis verpflichtet«, erklärte Ias, »aber nun entlässt sie mich, damit ich zu dir zurückkehren kann.«
Liora lauschte verblüfft.
»Was müssen wir tun?«, fragte Ias.
»Du musst noch einmal sterben.«
Ias wurde blass. »Bist du sicher?«
Acheron nickte und reichte Liora einen steinernen Dolch. »Den musst du Ias durchs Herz stoßen.«
Sie sah ihn entsetzt an. »Das kann ich nicht.«
»Es ist die einzige Möglichkeit.«
Sie schüttelte hartnäckig den Kopf. »Das ist Mord. Man wird mich dafür steinigen.«
»Nein, das wird nicht passieren, ich schwöre es«, beruhigte Acheron sie.
»Tu es, Liora«, drängte Ias. »Ich will wieder bei dir sein. Für immer.«
Mit skeptischer Miene nahm sie den Dolch in die Hand und versuchte, ihn in seine Brust zu drücken.
Es gelang ihr nicht.
Die steinerne Klinge hinterließ lediglich einen feinen Kratzer auf seiner Haut.
Acheron verzog das Gesicht, als ihm einfiel, was Artemis über die Kräfte der Dark Hunter gesagt hatte. Ein gewöhnlicher Mensch konnte einem Dark Hunter nichts anhaben.
Er hingegen schon.
Er nahm Liora die Waffe aus der Hand und rammte sie Ias ins Herz.
Japsend taumelte Ias rückwärts.
»Keine Panik«, beschwichtigte Acheron und legte ihn auf den Boden vor der Feuerstelle. »Ich halte dich.«
Acheron nahm Lioras Hand und zog sie an seine Seite. Dann nahm er das steinerne blaue Medaillon, das Ias’ Seele enthielt, aus dem Säckchen. »Im Augenblick seines Todes musst du es in die Hand nehmen und seine Seele in seinen Körper zurückkehren lassen.«
»Aber wie?«, fragte sie.
»Drück den Stein über das Pfeil-und-Bogen-Brandmal auf seiner Schulter.«
Acheron wartete, bis Ias starb, dann reichte er Liora das Medaillon.
Sie schrie auf, als es ihre Handfläche berührte, und ließ es zu Boden fallen.
»Es brennt!«, kreischte sie.
Röchelnd kämpfte Ias um sein Leben.
»Heb es auf«, befahl Acheron.
Liora blies in ihre Handfläche und schüttelte den Kopf.
»Was ist los mit dir?«, fragte Acheron. »Er stirbt, wenn du ihn nicht rettest. Du musst seine Seele aufheben.«
»Nein.«
Fassungslos starrte er sie an. »Nein? Aber wie kannst du das tun? Er wird sterben. Ich habe doch gehört, wie du für seine Rückkehr gebetet hast. Du sagtest, du würdest alles tun, wenn dein Geliebter nur zu dir zurückkehrt. Und dass du ohne ihn nicht leben kannst.«
Sie ließ die Hand sinken und starrte ihn kühl an. »Ias ist nicht der, den ich liebe, es ist Lycantes. Er war derjenige, für dessen Rückkehr ich gebetet habe, und nun ist er tot. Man hat mir gesagt, der Geist von Ias hätte ihn ermordet, weil er Ias im Kampf getötet hat, damit wir beide zusammen sein und die Kinder großziehen können, von denen Ias glaubt, es seien seine.«
Acheron traute seinen Ohren nicht.
Er sah zu Ias hinüber und registrierte den Schmerz in den Augen des Mannes, ehe das Licht darin erlosch und er starb.
Mit hämmerndem Herzen hob Acheron das Medaillon vom Boden auf und versuchte, die Seele selbst zu befreien.
Es ging nicht.
Wutschnaubend ließ er Liora erstarren, ehe er sie tötete.
»Artemis!«, schrie er, den Blick gen Himmel gewandt.
Die Göttin erschien.
Zorn und Schuld verschleierten ihm die Sicht. Das konnte unmöglich wahr sein. Es war ausgeschlossen, dass ihm ein so gravierender Fehler unterlaufen war. Er deutete auf den toten Mann auf dem Boden. »Bitte, Artemis, rette ihn.«
Sie zuckte lässig die Achseln, als kümmere sie das Schicksal des armen Mannes nicht im Mindesten. »Ich kann die Regeln nicht verändern, Acheron. Ich habe dir die Bedingungen genannt, und du warst damit einverstanden.«
Er zeigte auf die Frau, die zur Statue erstarrt war. »Wieso hast du mir verschwiegen, dass sie ihn nicht liebt?«
»Das konnte ich ebenso wenig wissen wie du«, gab Artemis zurück, während sich ihr Blick verdüsterte. »Selbst Götter machen Fehler.«
»Wieso hast du mir dann nicht wenigstens gesagt, dass sie sich an dem Medaillon verbrennen würde?«
»Auch das wusste ich nicht. Mir kann es nichts anhaben, und du hast dich auch nicht daran verbrannt. Allerdings hat es noch nie ein Mensch in der Hand gehalten.«
Acheron war schwindlig vor Kummer und Schuldgefühl. Und vor Hass auf sich selbst und auf Artemis. Am meisten aber hasste er Liora für ihre Lügen. »Was geschieht jetzt mit ihm?«
»Er ist jetzt ein Shade, eine Schattengestalt. Ohne Körper und Seele ist sein innerstes Wesen dazu verdammt, für immer im Jenseits umherzuwandern.«
Acheron wand sich vor Schmerz. Er hatte soeben einen Mann getötet und ihn zu einem Schicksal verdammt, das noch viel schlimmer war als der Tod.
Und wofür?
Liebe?
Gnade?
Bei den Göttern, wie hatte er nur so ein Narr sein können?
Er hätte besser als jeder andere wissen müssen, wie man die richtigen Fragen stellte. Er hätte wissen müssen, dass er nicht auf die Liebe eines anderen Menschen setzen konnte.
Wann würde er es endlich lernen, verdammt?
Artemis legte die Hand um sein Kinn und zwang es empor, um sie anzusehen. »Sag mir, Acheron, gibt es irgendjemanden, dem du je genug Vertrauen entgegenbringen wirst, dass er deine Seele befreit?«