Prolog
Katherine erwachte schlagartig. Ihr Herz klopfte heftig, die Bettdecken türmten sich zerwühlt neben ihr, und das leichte Leinennachthemd klebte an ihrem schweißnassen Körper.
Sie keuchte und legte sich instinktiv die Hände um den Bauch, als müsse sie sich vergewissern, dass das Kind in ihrem Inneren in Sicherheit war. Es gab keinen Grund zur Sorge, alles war gut, beschwor sie sich und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Schon bald würde das Baby geboren werden. Diese seltsame Unruhe war sicher ganz normal bei einer unerfahrenen jungen Frau, die das erste Mal Mutter wurde.
Bis zur Morgendämmerung würde es gewiss noch einige Stunden dauern. Mondlicht fiel durch das Fenster und erhellte den Raum mit einem magisch silbrigen Glanz, der sich auf geschmackvoll im Zimmer arrangierte Porzellanfiguren und kostbare Möbel legte.
Wozu all dieser Luxus?, fragte sich Katherine müde. Als ihr Blick auf das unbenutzte Kissen neben ihr fiel, überschlugen sich die Erinnerungen in ihrem Kopf, und sie spürte, wie eine tiefe Trauer sich schwer auf ihre Brust legte. Nein, redete sie sich ein und versuchte, die schmerzvollen Bilder von sich zu schütteln, es war sinnlos, überhaupt noch daran zu denken. Jene glückliche Zeit würde schließlich nie wiederkehren.
Nervös stand sie auf, sie konnte die dunklen Gedanken einfach nicht beruhigen, die wild in ihr brodelten. Mit einem Streichholz vom Nachttisch zündete sie den Docht der Öllampe an und ging zum Fenster. Unter ihren nackten Füßen spürte sie den weichen Teppich aus Seide.
Der Vollmond tauchte die Nacht in ein geheimnisvolles Licht. Gedankenverloren betrachtete Katherine die Schattenlandschaft, während die nächtliche Brise durch die offenen Läden drang und erfrischend über ihre Haut streichelte. Allmählich färbte die Ruhe ihrer Umgebung auch auf ihr Inneres ab, und die bedrohlichen Erinnerungen zogen sich angesichts der hypnotischen Macht der Stille zurück.
Doch plötzlich zerriss ein fürchterlicher Schrei die Dunkelheit.
Katherine überfiel eine schreckliche Ahnung. Rasch nahm sie die Lampe vom Nachttisch und rannte los. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiten mochten.
Keuchend stürzte sie die Treppe hinauf.
«Molly?», rief sie atemlos. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie endlich die Tür zum Mansardenzimmer aufriss.
«Molly?»
Da entdeckte sie Mollys Gestalt auf dem Boden. Dieser Anblick und das stockende Stöhnen, das von ihrem Körper ausging, ließen in Katherine die Erinnerung an etwas aufbrechen, das vor nicht allzu langer Zeit an diesem Ort geschehen war. Etwas, das Katherines Leben für immer verändert hatte.
Mit den ungeschickten Bewegungen einer Hochschwangeren kniete Katherine sich neben die junge Frau, die ebenfalls in anderen Umständen war. Sie stellte die Öllampe auf den Dielen ab, hob sanft Mollys Kopf an und bettete ihn in ihren Schoß.
Eine lange dunkle Strähne fiel über das olivfarbene Gesicht der jungen Frau. Katherine strich das Haar liebevoll beiseite und sah ihr in die Augen.
«Katherine …» Molly seufzte erleichtert, als sie das Gesicht ihrer Freundin erblickte. «Es kommt», sagte sie erschöpft, aber voller Stolz. «Ich wollte dir Bescheid sagen, als es losging, aber …»
Sie konnte nicht weitersprechen.
Katherines Gesichtsausdruck wurde sanft. «Alles wird gut», sagte sie aufmunternd und nahm Mollys Hand, konnte aber ihren besorgten Blick nicht von dem Fleck abwenden, der den Teppich rot färbte.
Die Hände der beiden Frauen umschlangen sich fest. Auf Mollys Stirn glänzte eine dünne Schweißschicht, sie schrie erneut auf, als sie von einem weiteren Krampf geschüttelt wurde.
Alarmiert von den Schreien, tauchten kurz darauf drei Sklaven im Türrahmen auf, ein Mann und zwei Frauen, die jedoch an der Schwelle stehen blieben und nicht wagten, näher zu kommen, als sie ihre Herrin am Boden knien sahen.
«Thomas!», rief Katherine. «Geh und such Owen. Sag ihm, Mollys Baby kommt. Er soll Doktor Steward holen!»
Doch der Mann rührte sich nicht. Wie gebannt betrachtete er die junge Sklavin, die mit blutigem Nachthemd am Boden lag.
«Worauf wartest du? Lauf!»
Ein Leben lang gewohnt zu gehorchen, riss der Farbige sich schließlich von dem Anblick los und setzte sich auf seinen alten Beinen in Bewegung.
Schnell wandte Katherine sich der jüngeren der beiden Frauen zu. «Latoya! Nana Lo soll herkommen. Und bring reichlich heißes Wasser und saubere Tücher.»
Die Sklavin verschwand sofort.
«Und du, Olivia, komm her und hilf mir, Molly aufs Bett zu legen. Sie ist sehr schwach.»
Kaum hatte sie den Befehl erteilt, versuchte Katherine sich aufzurichten. Sie schlang sich Mollys kraftlosen Arm um die Schultern und zerrte mit aller Kraft an ihrem Oberkörper.
Genau in diesem Moment überfiel der Schmerz auch sie ohne jede Vorwarnung. Kurz und heftig wie ein Peitschenhieb.
«Mein Gott! Nicht jetzt», flehte sie und krümmte sich, während sie mit zusammengebissenen Zähnen darum kämpfte, Molly nicht fallen zu lassen. «Gib mir bitte noch etwas Zeit.»
Sie atmete tief aus und ein und spürte erleichtert, dass das Stechen wieder nachließ. Trotzdem gelang es ihr nicht, allein aufzustehen, und sie sah sich hilfesuchend um.
«Olivia, worauf wartest du?», drängte sie die rundliche schwarze Frau, die wie festgewachsen stehen geblieben war, unfähig zu entscheiden, welcher der beiden schwangeren Frauen sie nun beistehen sollte. «Hilf mir», befahl Katherine, während Mollys Körper ihr immer mehr entglitt.
Gemeinsam schleiften sie die beinahe bewusstlose Schwangere zum Bett. Olivia nahm die Schultern, Katherine packte die Füße, und mit letzter Kraft schafften sie es, Molly auf die Laken zu hieven.
Vollkommen erschöpft ließ Katherine sich neben ihrer Freundin aufs Bett fallen. Sie schloss die Augen und tat das Einzige, was ihr noch möglich war: Sie betete, dass bald Hilfe kommen möge.
***
Mollys herzzerreißende Schreie hatten sich in leises Stöhnen verwandelt, als Nana Lo, die alte Hebamme der Plantage, endlich das Zimmer betrat, gefolgt von Latoya, die Stofffetzen und eine Schüssel mit Wasser trug.
Langsam näherte Nana Lo sich dem Bett, und ihr dunkler und durchdringender Blick wurde unwillkürlich etwas trauriger, als sie Molly erblickte. Forschend betrachtete sie den schlaffen Körper, öffnete vorsichtig die Augenlider der jungen Frau, als würde das ausreichen, um alles in Mollys Innerem zu lesen, was sie wissen musste. Dann tastete sie den Bauch der Schwangeren ab, und nach einer abschließenden Untersuchung ihres Schoßes, die nur wenige Augenblicke dauerte, sah sie ihre Herrin ernst an und schüttelte den Kopf.
Als der alte Sklave schließlich mit Doktor Steward und dem Aufseher Owen Graham zurückkehrte, rührte Molly sich kaum noch.
Der Arzt war Anfang vierzig, mittelgroß und schlank. Er hatte dichtes braunes Haar und einen sorgfältig getrimmten Backenbart, der bis auf wenige Millimeter an die Mundwinkel heranreichte. Er war die Verkörperung der Gewissenhaftigkeit.
Wenn es Schwierigkeiten gab, wusste er gewiss einen Ausweg, sagte sich Katherine und versuchte, die hämmernden Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen, die ihr einreden wollten, dass der Befund der alten Hebamme richtig war.
Owen bemühte sich, die junge Frau nicht anzusehen, die auf den mittlerweile blutgetränkten Laken um ihr Leben kämpfte. Er mochte nicht daran denken, dass Molly vielleicht sterben könnte. Gleich nachdem der Sklave ihm Bescheid gegeben hatte, war der Aufseher losgestürmt. Mitten in der Nacht war er quer über die Felder galoppiert, um Hilfe zu holen. Jetzt, da er seine Mission erfüllt und den Arzt sicher auf die Plantage gebracht hatte, konnte er nichts mehr tun. Er musste abwarten und darauf vertrauen, dass Molly die Geburt überstand. Für einen Moment kreuzte sich sein Blick mit Katherines. Owen senkte schnell den Kopf und verließ dann den Raum. Er würde im Gang warten.
Doktor Steward sah sich kurz um. Mit ausdrucksloser Miene winkte er den Sklaven heran, zog seine Jacke aus und reichte sie ihm. Dann knöpfte er die Manschetten seines Hemdes auf und krempelte die Ärmel hoch bis zu den Ellbogen. Er holte das Stethoskop aus seiner Tasche und näherte sich der Wöchnerin mit der gleichen Bedachtsamkeit, mit der er auch einen heißen Kaffee getrunken oder die Spitzen seines Backenbartes zurechtgezupft hätte. Er hörte sie ab, als folge er einem mit den Jahren einstudierten Ritual. Anschließend drückte er ihr das breite Ende eines konkaven Holzzylinders auf die Brust und näherte sein Ohr dem Gerät. Nachdem er dem Herzschlag für einige Sekunden gelauscht hatte, überprüfte er mit Hilfe seiner Taschenuhr den Puls der Patientin und untersuchte ihre Augen. Zum Schluss tastete er Mollys Leib ab, wie es auch die Hebamme mit ihren erfahrenen Händen schon getan hatte.
«Es tut mir leid, Mrs. Parrish. Das Kind liegt nicht richtig. Wir müssten es ein wenig drehen, um es zu holen, aber dazu brauchen wir die Hilfe der Mutter. Und in ihrem Zustand wird sie uns wohl nicht unterstützen können. Sie hat viel Blut verloren und ist zu schwach, um zu pressen. Ich fürchte, wir können nichts tun.»
Anders als die stumme Geste der Hebamme schienen die Worte des Arztes in Mollys Bewusstsein zu dringen. Sie öffnete die Augen und blickte Katherine flehend an.
«Mach dir keine Sorgen, Molly. Alles wird gut», beruhigte Katherine ihre Freundin und versuchte überzeugter zu wirken, als sie es tatsächlich war.
«Lass nicht zu, dass mein Kind stirbt», bat Molly mit kaum wahrnehmbarer Stimme, während ihr eine Träne über die Wange rollte.
«Hör mir gut zu, Molly.» Katherine sprach mit fester Stimme und sah ihr in die Augen. «Niemand wird sterben. Ich verspreche dir, dass du noch in dieser Nacht dein Kind in den Armen hältst, und es wird gesund und kräftig sein.»
Molly lächelte schwach, und ihre Lider wurden wieder schwer. Katherine hatte sie noch nie belogen.
«Aber du musst uns helfen, Molly», fügte Katherine schnell hinzu, damit ihre Freundin nicht vor Erschöpfung ohnmächtig wurde. «Das Baby braucht dich. Es kann nicht allein auf die Welt kommen. Du musst pressen.»
Katherine drückte Mollys Arm. Die junge Frau nickte zustimmend und versuchte all ihre Kräfte zusammenzunehmen.
Der Doktor enthielt sich einer Bemerkung. Aus seiner Tasche holte er ein Fläschchen Riechsalz hervor und reichte es Katherine.
«Geben Sie es ihr erst, wenn ich es Ihnen sage. Sie wird jede Hilfe brauchen können.»
Sobald er sicher sein konnte, dass Katherine seine Anweisungen verstanden hatte, bereitete Doktor Steward sich darauf vor, das Kind zu drehen.
Katherine hielt den Atem an, als er sich an Mollys Schoß zu schaffen machte.
«Jetzt», rief der Arzt mit blutigen Händen.
Katherine öffnete das Fläschchen und hielt es Molly unter die Nase. Der durchdringende Geruch des Riechsalzes entriss Molly ihrer Lethargie.
«Pressen!», spornte Katherine sie an und hielt fest ihre Hand. «Mein Gott! Man kann es schon sehen! Pressen, Molly! Noch einmal!»
Vor Anstrengung hob Molly den Kopf. Dann merkte Katherine, wie plötzlich der Druck in ihrer Hand nachließ.
«Ich kann nicht …» Molly gab auf und ließ sich zurückfallen. «Ich …»
Gleich würde sie das Bewusstsein verlieren.
«Molly, verflucht!», rief Katherine außer sich und schüttelte sie heftig. «Du musst pressen!»
Sekunden später erfüllte ein kräftiges Schreien das Zimmer. Katherine richtete sich erleichtert auf. Sie nahm das Kind in die Arme, wusch es mit Latoyas Hilfe eilig und wickelte es in ein schönes Baumwolldeckchen.
«Wie ich es dir versprochen habe.» Mit einem strahlenden Lächeln legte Katherine den Säugling auf Mollys Brust und setzte sich auf den Stuhl, den der Sklave an das Kopfende des Bettes gestellt hatte. «Es ist ein wunderschönes und gesundes Mädchen.»
Mollys mandelförmige Augen glänzten verzaubert, als sie das Neugeborene betrachtete.
Die Kleine ahnte nichts von den Schmerzen, die ihre Geburt der Mutter bereitet hatte, und schlief friedlich ein. Das rundliche Gesichtchen hatte sanfte und zarte Züge, die winzigen Fäuste waren kräftig geballt, und trotz der nach der Geburt geröteten Haut konnte man sehen, dass sie sehr hell war.
«Ja, sie ist weiß, Molly», sagte Katherine schnell und konnte die eigene Freude darüber kaum verbergen. «Weißer als ein Baumwollfeld.»
Die Haut des Mädchens war tatsächlich heller als die der meisten Kinder weißer Herren. Wahrscheinlich würde niemand, der sie zum ersten Mal sah, auf den Gedanken kommen, dass auch nur ein einziger Tropfen Sklavenblut durch ihre Adern floss.
Für einen kurzen Moment schien Mollys Glück unendlich zu sein. Dann aber wich alles Leben aus ihrem Körper, und sie wurde aschfahl im Gesicht. Nicht einmal die Freude, ihr Baby in den Armen zu halten, konnte die Schatten des Todes jetzt noch verjagen.
«Weißt du, Katty, ich hatte immer einen Traum», flüsterte Molly, und die Verzweiflung überdeckte alle Zeichen des Glücks.
«Erzähl ihn mir, Molly. Wir hatten doch nie Geheimnisse voreinander.»
Obwohl Molly erschöpft war, atmete sie tief ein und sprach mit einer Sehnsucht, die Katherine so niemals an ihr wahrgenommen hatte: «Ich habe mir immer gewünscht, frei zu sein.»
Die Worte bohrten sich wie spitze Dolche in Katherines Herz. Nie hatte sie es sich eingestanden, ja mit den Jahren hatte sie sogar verdrängt, dass die Frau, die sie ihre beste Freundin nannte und mit der sie seit Kindertagen ihr Leben teilte, eine Sklavin war. Man hatte ihr Molly zum siebten Geburtstag geschenkt, und seither war sie nicht von ihrer Seite gewichen.
«Warum hast du mir das nie gesagt?»
«Ich dachte, du würdest mir den Wunsch vielleicht abschlagen.»
Katherine hielt ihrem Blick stand. Da lag kein Vorwurf in Mollys Stimme, nur eine tiefe Traurigkeit, die Katherine jetzt die Tränen in die Augen trieb.
Hatte sie in all den Jahren wirklich nie daran gedacht, ihr die Freiheit zu schenken? Im Grunde hatte sie schon vor langer Zeit beschlossen, dass die junge Frau mit der bronzefarbenen Haut und den grünen Augen ihre Freundin sein sollte, auch wenn stets eine unbestimmte Angst an ihr nagte. Angst, dass Molly sie verlassen würde, sobald sie frei wäre.
«Ich hätte dich niemals verlassen, Katty», flüsterte Molly, als könnte sie die Gedanken ihrer Herrin erraten. «Du bist die einzige Familie, die ich je gekannt habe. Und die beste Freundin, die …» Sie wollte weitersprechen, aber die Anstrengung war zu groß.
«Molly, du musst dich ausruhen. Wir sprechen morgen über alles.»
«Nein!», stieß sie aus. «Morgen wird es zu spät sein.» Zum ersten Mal in ihrem Leben widersprach Molly ihrer Herrin.
Katherine wollte erwidern, dass das nicht stimmte, dass das Schlimmste überstanden sei und es ihr bald besser gehen würde. Aber als sie sah, wie Doktor Steward bereits seine Sachen packte, obwohl die Blutung noch nicht gestillt war, brachte sie kein Wort heraus. Langsam verstand sie, dass es für Molly kein Morgen geben würde.
«Bis jetzt habe ich dich nie um etwas gebeten», fuhr Molly flehentlich mit dünner Stimme fort. «Aber nun musst du mir etwas versprechen … Ich muss sicher sein, dass meine Kleine nicht das gleiche Schicksal erleidet wie ich. Ich muss sicher sein, dass sie keine Sklavin wird.»
Katherine betrachtete das Neugeborene. Es war wunderschön und so schutzlos. Allein die Vorstellung, dass man dieses Mädchen zu einer Sklavin machte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
«Das wird nicht geschehen», versprach sie feierlich. Sie würde Molly nicht enttäuschen. Aber sie musste noch etwas anderes tun. Von jenem Herzenswunsch ihrer Freundin geleitet, den sie so lange ignoriert hatte, drehte Katherine sich zu Latoya um und befahl ihr, Papier und Federhalter zu bringen.
Owen Graham, der nach der Geburt des Mädchens wieder ins Zimmer getreten war, beobachtete alles aus dem Hintergrund, wagte aber nicht einzugreifen.
Molly war noch bei Bewusstsein, als Latoya zurückkehrte, ein zerknittertes Blatt in der einen und ein Tintenfass in der anderen Hand.
«Verzeihung, Herrin», entschuldigte sie sich, als sie die Dinge hastig auf den Nachttisch legte. «Das ist alles, was ich finden konnte.»
Ohne eine Sekunde zu verlieren, ergriff Katherine das vergilbte Blatt, und noch während ihre Hand überstürzt schrieb, las sie die Worte laut vor, die die Macht hatten, Molly die Freiheit zu schenken.
Ihre Stimme erhob sich klar und deutlich: «Ich, Katherine Lacroix, Eigentümerin der Sklavin, die seit meinem siebten Lebensjahr unter dem Namen Molly bekannt ist, schenke ihr heute, am 10. Juni 1837, die Freiheit.» Ihre Stimme erzitterte, bevor sie ihren Namen mit geschwungenen Lettern zu Papier brachte. «Gezeichnet: Katherine Lacroix.» Dann wandte sie sich an Doktor Steward und hielt ihm die Feder hin. «Ich brauche Ihre Unterschrift, Sie sind mein Zeuge.»
Steward, der sich inzwischen das Blut von den Händen gewaschen hatte und gerade dabei war, seine Manschetten wieder zuzuknöpfen, trat näher und unterschrieb, ohne eine Gefühlsregung zu verraten. Danach setzte der Aufseher Owen Graham als zweiter weißer Zeuge seinen groben Schnörkel unter das Dokument, damit es rechtliche Gültigkeit erlangte.
Weil Löschpapier fehlte, trocknete Katherine die Tinte schnell mit einem Zipfel ihres Nachthemdes ab.
«Hier steht es. Du bist frei!», verkündete sie und drückte Molly das Papier in die Hände.
Die junge Frau presste das Blatt an ihre Brust. Sie konnte nicht lesen; aber das musste sie auch nicht. Sie hatte vollstes Vertrauen in ihre Freundin.
Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet, und bei der Berührung mit der Haut der Sklavin war es, als würden die Worte in ihr Inneres sickern und schließlich mit ihrer Seele verschmelzen.
Molly drehte ihrer Kleinen das Gesicht zu und murmelte mit ihrem letzten Atemzug: «Frei …»
Dann sank ihr Körper in sich zusammen.
***
Katherine beugte sich über den leblosen Körper ihrer Freundin und weinte bitterlich. «Oh Gott, vergib mir! Vergib mir, liebste Freundin, dass ich so selbstsüchtig war!»
Doktor Steward, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat nun näher und schloss Molly die Augen. Dann nahm er Katherine sanft bei den Schultern und löste sie von der Toten.
Er sah besorgt aus. «Mrs. Parrish, Sie müssen sich beruhigen. Denken Sie an Ihr Kind.»
Kaum hatte der Doktor den Satz beendet, als Katherines Bauch von einer Kontraktion geschüttelt wurde und eine warme Flüssigkeit ihr Nachthemd durchnässte. Die Fruchtblase war geplatzt. Noch in dieser Nacht würde das Kind geboren werden.
Der Arzt griff erneut nach seiner Tasche und winkte den Aufseher und den Sklaven heran.
«Schnell! Mrs. Parrish muss sofort in ihr Zimmer gebracht werden.»
Viel zu erschöpft, um sich zu weigern, stützte Katherine sich auf die Schultern der Helfer.
Als man sie gerade aus dem Zimmer führte, vernahm sie, wie Olivia den Arzt um Anweisungen bat, was mit Mollys Kind geschehen solle.
Doktor Steward warf nur einen schnellen Blick auf das Neugeborene, aber in diesem kurzen Moment verriet sein Gesichtsausdruck all die Verachtung und Abneigung, die er gegen dieses unschuldige Wesen hegte.
«Bring sie zum Sklavendorf. Später wird man entscheiden, was aus ihr werden soll.»
Katherine nahm den Befehl des Arztes nur wie ein entferntes Echo wahr. Sie hatte nicht mehr die Kraft zu denken, wollte nur noch, dass diese lange, schreckliche Nacht vorüberginge. Aber die Verachtung, mit der jener Mann über Mollys Tochter sprach, drang durch den Schleier aus Schmerzen bis in ihr Innerstes. Und sie begriff, was geschehen würde. Die Kleine würde kein glückliches Leben führen. Zu schwarz, um weiß zu sein, und zu weiß, um eine von den Sklaven zu sein. Mollys Tochter würde kein leichteres Schicksal haben als ihre Mutter.
Getrieben von einer heftigen Wut, befreite Katherine sich gewaltsam von den Männern, die sie stützten. Und noch bevor diese begriffen, was geschah, riss Katherine Owen die Pistole aus dem Gürtel und zielte auf seinen Kopf.
«Olivia, gib mir das Kind», befahl sie.
Wie gelähmt blieb die Sklavin stehen.
«Gib es mir!», schrie Katherine.
Olivia blickte verwirrt zum Aufseher. Langsam hob Owen die Hände und gab der Sklavin einen Wink.
Unsicheren Schritts ging Olivia zu ihrer Herrin und streckte ihr das Neugeborene entgegen, das daraufhin zu weinen begann.
«Sie bleibt bei mir», erklärte Katherine mit eisiger Stimme, als sie sich das Bündel an die Brust drückte.
Das Schreien wurde eindringlicher.
«Mrs. Parrish, beruhigen Sie sich», mischte sich Doktor Steward ein und trat einen Schritt vor. «Dem Kind wird es gutgehen. Verstehen Sie doch, hier ist nicht sein Platz. Sie müssen …»
Katherine drehte sich um und richtete die Waffe auf den Arzt. «Kommen Sie nicht näher», warnte sie und presste die Kleine noch fester an ihren Körper. «Und sparen Sie sich die Mühe, mit leeren Worten zu leugnen, was Ihre Augen ohnehin nicht verbergen können.»
Der Doktor blieb stehen.
«Mrs. Parrish, bitte! Sie wissen nicht, was Sie da reden. Erlauben Sie uns, Ihnen zu helfen.»
«Auf diese Hilfe kann ich verzichten!», rief Katherine rasend vor Zorn. «Raus hier!»
Latoya, Olivia und Thomas verließen sofort das Zimmer. Ihre Herrin hatte den Verstand verloren. Nana Lo folgte ohne Eile. Bevor sie die Schwelle erreichte, hielt die alte Hebamme inne und suchte die Augen ihrer Herrin. Beide wussten, dass dieses Mädchen nicht lange im Herrenhaus bleiben konnte.
Doch Katherine hielt dem Blick der Sklavin stand. «Raus, habe ich gesagt», wiederholte sie zornig. «Alle!»
Nana Lo schüttelte traurig den Kopf und ging.
Der Doktor und der Aufseher dagegen rührten sich nicht. Owen Graham war schon im Alter von zwanzig Jahren Aufseher der Parrishs geworden, und in den elf Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er niemals gewagt, einen Befehl seiner Herren in Frage zu stellen. Wie er einen aufsässigen Schwarzen behandeln musste, wusste er genau, aber das hier war anders. Er war der Lage einfach nicht gewachsen. Fragend sah er zum Doktor hinüber und hoffte auf Anweisungen.
«Ich kann Sie nicht allein lassen», beharrte der Doktor, ohne die Ruhe zu verlieren. «Ihr Kind kann jeden Augenblick kommen, und …»
«Wagen Sie nicht, mich auf die Probe zu stellen», warnte Katherine ihn mit unterdrückter Wut. Immer noch hielt sie die Waffe fest in der Hand. «Ich schwöre, dass ich nicht zögern werde, auf Sie zu schießen.» Einige Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Ihre nackten Füße waren schmutzig und mit dem Blut der Sklavin bespritzt.
Steward taxierte Katherine skeptisch. Sie war vollkommen erschöpft und machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Als er ihr Gesicht jedoch genauer betrachtete und die schmalen Augen und den entschlossenen Blick darin deutete, spürte er, wie gefährlich es sein würde, diese Frau zu unterschätzen. Stolz und herausfordernd stand sie vor ihm und begegnete seinem Blick mit einer solchen Entschlossenheit, dass er schließlich zurückwich.
Er nahm seine Tasche vom Nachttisch und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Owen Graham folgte ihm schweigend.
Eilig schloss Katherine sich im Zimmer ein, legte die Waffe ab und ließ sich erschöpft in den Schaukelstuhl sinken. Als sie ihre Umarmung lockerte, hörte das Baby endlich auf zu weinen. Die Kleine öffnete die Augen und schien sogar zu lächeln.
Und so erwartete Katherine Parrish die Geburt ihres eigenen Kindes.
***
Am nächsten Morgen wurde Molly, zusammen mit dem Dokument, das ihr die Freiheit gewährte, auf einer abgelegenen Parzelle der Plantage begraben. Dort, wo der Fluss ein kleines von Bäumen umgebenes Bassin bildete, dessen Ufer im Frühling von Blumen bewachsen war.
Nach der schlichten Zeremonie kehrte Katherine gegen Mittag in Mollys Zimmer zurück. Der Fußboden war geschrubbt worden. Und der Teppich, auf dem sie ihre Freundin in der Nacht zuvor gefunden hatte, war zusammen mit der blutgetränkten Tagesdecke verschwunden. Aber trotz der Unmengen an Wasser und Seife, mit denen man versucht hatte, die Erinnerung an das Geschehene auszulöschen, erfüllte Mollys sanfter Duft noch immer jeden Winkel des Zimmers.
Mit einem Baby auf jedem Arm ging Katherine zu dem Schaukelstuhl aus Holz, der unter dem Fenster stand, und setzte sich. Sie war sehr müde. Ihre eigene Tochter war gekommen, als schon der Tag angebrochen war. So war ihr keine Zeit mehr zum Schlafen geblieben, aber trotzdem hatte sie noch die Kraft gefunden, an diesem Morgen Mollys Beerdigung beizuwohnen. Jetzt musste sie sich ausruhen. Sie schloss die Augen und ließ ihr Gesicht von den warmen Sonnenstrahlen liebkosen.
***
Als David Parrish auf der Plantage ankam, senkte sich die Sonne bereits. Nachdem er über die Geschehnisse unterrichtet worden war, machte er sich sofort auf die Suche nach seiner Frau.
Geräuschlos betrat er das Zimmer.
Er bemerkte die fehlende Tagesdecke auf dem Bett und verspürte ein leichtes Schaudern. Es war nicht die Trauer über das frühzeitige und tragische Ende einer Sklavin, sondern eine instinktive Reaktion angesichts der Nähe des Todes. Und während jenes Erschauern langsam verebbte, sah er sie.
Katherine war in leichten Schlaf gefallen und hatte seine Ankunft nicht bemerkt. Vom warmen Glanz der Abenddämmerung umgeben, schien sie David die schönste Frau zu sein, die er je gesehen hatte. Sie war sogar noch schöner als an dem Tag, als er sie in New Orleans kennengelernt hatte, vor kaum einem Jahr. Ihre Haut schimmerte samtweich, das Haar war braun und seidig. Die großen Korkenzieherlocken fielen ihr über die Schultern und umrahmten das perfekte Oval ihres Gesichts. Auf ihren feinen und sinnlichen Lippen lag ein leichtes Lächeln.
Aber der Zauber war nicht von Dauer. Als Katherine Davids Anwesenheit spürte, schlug sie die Augen auf, und sobald sie den Eindringling erkannte, erstarrte ihr Gesicht.
David konnte zusehen, wie sich in wenigen Momenten eine unüberwindliche Mauer zwischen ihnen aufbaute, die all seine Hoffnungen mit der Wurzel ausriss.
«Hallo, Katherine», begrüßte er sie höflich.
«David», antwortete sie kühl. «Ich habe dich nicht vor morgen erwartet.»
«Doktor Steward hat mir eine Nachricht zukommen lassen und mich über die Ereignisse informiert. Daher schien es mir angemessen, meine Rückreise vorzuverlegen.» Eingehend und mit einer gewissen Irritation betrachtete er jetzt die beiden Bündel, die Katherine liebevoll in den Armen hielt.
Die Mädchen schlummerten, und die Abendsonne leuchtete warm in ihre kleinen Gesichter. Sie waren wunderhübsch, und zu Davids größter Verzweiflung hatten beide ausgesprochen helle Haut.
«Ich freue mich zu sehen, dass es dir gutgeht», sagte er in wohlerzogener Manier und beobachtete dabei weiter skeptisch die schlafenden Kleinen.
«Danke», antwortete Katherine und empfand eine gewisse Genugtuung angesichts der offensichtlichen Bemühungen ihres Mannes herauszufinden, welches der Mädchen schwarzes Blut in den Adern hatte.
«Welche ist von dir?», fragte er schließlich, zu ungeduldig für das Spielchen, das er selbst begonnen hatte.
Zum ersten Mal sah Katherine ihm direkt ins Gesicht. Seine hellblauen Augen leuchteten durchdringend. Tiefer Hass trennte sie. Für einen Moment glaubte sie, dass er sich auf sie stürzen und die Wahrheit aus ihr herausprügeln würde. Aber David rührte sich nicht.
Katherine verzog den Mund zu einem kühlen Lächeln. «Das, mein Lieber, wirst du nie erfahren.»