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Pünktlich um acht Uhr gesellte David sich zu den anderen Gästen, die sich im Salon versammelt hatten. Als gleich darauf die Türen zum Esszimmer geöffnet wurden, folgte er ihnen und stellte sich hinter seinen Stuhl zur Linken des Gastgebers. Man wartete noch auf Lacroix, der dem Protokoll zufolge als Erster seinen Platz einnehmen musste.

«Mr. Parrish, nicht wahr?», fragte freundlich die ältere Dame neben ihm. «Wenn ich mich Ihnen vorstellen darf, ich bin Marie Languelot, und dies ist Mrs. Sophie De Blois», sie deutete auf die etwa fünfundzwanzigjährige junge Dame mit leicht hervorstehenden Augen, die ihm gegenüberstand.

«David Parrish aus Virginia. Zu Ihren Diensten», antwortete David und bedachte die Damen mit einer knappen Verbeugung.

Als Mrs. De Blois lächelte, kamen zwar ein paar ziemlich hübsche Zähne zum Vorschein, doch ihr größter Reiz bestand zweifellos aus ein paar Rubinohrringen und der dazu passenden Kette.

Mrs. Languelot hingegen trug kaum auffälligen Schmuck. In ihrem schneeweißen Haar steckte eine Reihe perlenbesetzter Haarnadeln, die für den akkuraten Sitz der komplizierten Hochfrisur sorgten. Von ihren Ohrläppchen hingen in Trauben Perlengehänge herab, und eine schlichte elfenbeinerne Kamee durchbrach das strenge Schwarz ihres Seidenkleids. Ihre Haltung war aufrecht und elegant, das Gewicht der Zeit hatte ihre Schultern nicht beugen können. Das Kinn hatte sie etwas in die Höhe gereckt, aber niemand hätte das für eine herausfordernde Geste gehalten. Im Gegenteil, Marie Languelot schien eine herzliche und angenehme Frau zu sein.

Endlich erschien Gaston Lacroix in Begleitung eines dünnen Männleins, das die vierzig wohl noch nicht erreicht hatte. Der Mann trug eine runde Metallbrille und einen Anzug, der für die Gelegenheit eigentlich nicht elegant genug war. Lacroix hatte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter gelegt. Nach den beiden betrat Katherine den Raum. Ihr Kleid war ganz in zartem Flieder gehalten, nur eine Schärpe im leuchtendsten Violett betonte ihre schmale Taille. Sie ging am Arm eines hochgewachsenen, dunkelhaarigen jungen Mannes in einem tadellosen grünen Anzug.

Als David feststellte, dass Katherine an ihm vorbeiging und sich stattdessen Lacroix und sein Begleiter neben ihn setzten, wich die Aufregung, die er kurz vor dem Abendessen noch empfunden hatte, einer tiefen Enttäuschung.

Katherine und ihr Begleiter hatten gerade am entgegengesetzten Ende der Tafel Platz genommen, als David spürte, wie jemand diskret an seiner Jacke zupfte. Marie Languelot bedeutete ihm mit einem Blick, dass alle anderen bereits Platz genommen hatten. Sofort setzte er sich.

Lacroix machte es sich in aller Ruhe auf seinem Stuhl bequem. Schließlich lächelte er sichtlich zufrieden.

«Monsieur Parrish. Ich möchte Ihnen unseren Ehrengast vorstellen, Harry Roy Osborn.»

Als der Genannte die singende Aussprache seines Namens hörte, in dem kein R so klang, wie es sollte, zog er missbilligend die Augenbrauen hoch.

«Mr. Osborn», brachte David heraus.

«Monsieur Osborn wohnt ebenfalls auf Deux Chemins, aber nachdem er zwei Wochen bei uns verbracht hat, muss er uns leider morgen schon verlassen.»

David hörte kaum zu. Er war mit seinen Gedanken bei Katherine. Sie hatte ihn noch nicht einmal angesehen. Als er bemerkte, dass Lacroix noch einmal das Wort an ihn gerichtet hatte, fragte er verwirrt nach. «… Bitte?»

«Ich sagte, dass Monsieur Osborn uns morgen verlässt.»

«Das … das tut mir leid.» Nur mit Mühe konnte David sich auf diesen Mann konzentrieren. Zum Glück kam Marie Languelot ihm zu Hilfe. «Mein lieber Gaston, ich glaube, du hast uns noch gar nicht vorgestellt.»

«Mon Dieu!», rief dieser und griff sich an die Stirn. «Monsieur Osborn, ich möchte Ihnen Marie Languelot vorstellen, die Tante meiner verstorbenen Gattin, eine gute Freundin und die Patin meiner Tochter. Und die schöne Frau an Ihrer Seite ist Mrs. De Blois. Leider befindet ihr Mann sich gerade auf Reisen.»

Osborn murmelte zwar ein paar Worte, die nach einer Begrüßung klangen, würdigte sie aber ansonsten kaum eines Blickes. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, überging Marie Languelot sein rüdes Benehmen und wandte sich an Lacroix. «Gaston, diesmal hast du dich selbst übertroffen», schmeichelte sie dem Gastgeber, während sie bewundernd über das Porzellan und das italienische Kristallglas mit Goldrand strich.

«Merci, ma chère. Aber du weißt doch, dass Katherine sich um diese Details kümmert.»

Schon bei der Erwähnung dieses Namens wurde David wieder von Unruhe gepackt. Der lange Tisch, der ihn von dieser wunderschönen Frau trennte, war für ihn zu einem unüberwindlichen Hindernis geworden. Sie befand sich nicht nur außerhalb seiner Reichweite, anscheinend war sie auch dem Charme des aufgetakelten Dandys neben ihr völlig erlegen … Unwillkürlich schloss Davids Faust sich um den perlmuttbesetzten Griff des Messers.

«Er heißt Jean-Baptiste Vichy», flüsterte Marie Languelot ihm zu. Offensichtlich hatte sie seine Blicke bemerkt. «Seine Familie besitzt eine große Plantage flussaufwärts. Aber alle Welt weiß, dass der junge Vichy die Tage verschläft und die Nächte damit verbringt, das Vermögen der Familie zu verprassen.» Ihre Perlenohrringe schwankten vor Empörung hin und her. Dann legte sie David freundlich die Hand auf den Arm und sah ihn aus ihren warmen, dunklen Augen an. «Seien Sie beruhigt», sprach sie mit dem gleichen vertrauensvollen Tonfall weiter, «ich versichere Ihnen, dieser Stutzer ist absolut nicht der Typ eines Gentleman, in den meine Patentochter sich verlieben würde.»

Trotzdem wanderte Davids Blick immer wieder zu Katherine hin, und selbst wenn er diesen Impuls unterdrücken konnte und vor sich auf den Teller starrte, machte sein Gehör sich selbständig und suchte den süßen Klang ihres warmen und ansteckenden Lachens im Durcheinander der Stimmen.

Das Essen rührte er kaum an. Die Enttäuschung war ihm auf den Magen geschlagen. Als er beobachtete, wie der attraktive und nicht sehr vertrauenswürdige Jean-Baptiste Vichy Katherine etwas ins Ohr flüsterte, spürte er Eifersucht in sich aufsteigen.

War er etwa dabei, den Verstand zu verlieren? Auf keinen Fall konnte er zulassen, dass die Gegenwart dieser Frau eine solche Wirkung auf ihn hatte.


Von seinem etwas höheren Stuhl aus und mit Parrish und Osborn an je einer Seite überblickte Gaston Lacroix den Tisch, als würde er vom Turm einer Burg aus über ein kleines Königreich wachen. Ihm würde nicht einmal der winzigste Gesprächsfetzen entgehen. Keineswegs war er einfach nur gastfreundlich gewesen, als er David so beharrlich gedrängt hatte, in seinem eigenen Haus unterzukommen. Er wollte ihn genau beobachten und herausfinden, ob man diesem Mann vertrauen konnte. Als er vor einiger Zeit Davids erstes Schreiben erhalten hatte, war ihm nämlich sofort klar gewesen, dass dieser ihm ein illegales Geschäft vorschlagen würde.

Gewiss kümmerte sich kein Mensch besonders um die Schiffe, die trotz des internationalen Verbots noch an afrikanischen Küsten anlandeten und Sklaven erbeuteten. Andererseits versuchte die Regierung in Washington mit Feuereifer, den Schmuggel von europäischen Gütern zu unterbinden. Auch wenn Lacroix’ ältester Sohn Julien Mitglied des Regierungskabinetts war und der jüngere, Jean Pierre, der sich gerade anlässlich der letzten Verhandlungen über den Kauf einer Textilfabrik in Europa aufhielt, bald zum Richter ernannt werden würde, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Aber als typischer Südstaatengentleman würde David ihn auf keinen Fall wegen seiner illegalen Geschäfte anzeigen, wenn er einmal Gast seines Hauses war. Das würde die Etikette nicht zulassen.

Was Mr. Osborn anging, lag der Fall anders. Den Bundesbeamten, der mit der Überwachung der Zollbestimmungen betraut war, hatte er ebenfalls nicht aus übermäßiger Zuneigung in seinem Haus aufgenommen. Lacroix fand ihn einfältig und viel zu arrogant. Aber dieser einfache Mann aus dem Volke hatte einen Schwachpunkt, seinen Stolz. Und das wusste Lacroix.

Als Mitglied der Regierung von Louisiana war Julien Lacroix benachrichtigt worden, als ein Zollinspektor damit beauftragt wurde, dem illegalen Handel ein Ende zu bereiten. Kaum dass der arglose Osborn an Land gegangen war, hatte Lacroix ihn mit aller Freundlichkeit empfangen und sich in seinen ergebensten Diener verwandelt. Er lud ihn in sein Haus ein, bewirtete ihn wie einen König und sorgte dafür, dass der Inspektor in den zwei Wochen, die er auf Deux Chemins verbrachte, nicht eine Sekunde lang allein war.

Lacroix und sein Sohn wurden zu Osborns persönlichen Fremdenführern. Sie hatten ihm sogar ein paar Hinweise gegeben, die ihn flussaufwärts auf ein angebliches Warenlager der Schmuggler stoßen ließen. Diese List, die dem Inspektor zu einem schönen Triumph verhalf, den er seinen Vorgesetzten bei seiner Heimkehr präsentieren konnte, hatte Lacroix ein hübsches Sümmchen gekostet. Aber das war es wert.

Am nächsten Tag würde er die Stadt mit dem zufriedenen Gefühl verlassen, seine Aufgabe erfüllt zu haben, und Lacroix würde seine Aktivitäten einfach wieder aufnehmen, ohne dass der Tölpel von einem Inspektor etwas gesehen hätte, was er nicht hätte sehen sollen.

Inzwischen wurde das Dessert serviert, aber Katherine hatte David noch kein einziges Mal angesehen.

Der größte Teil der Konversation wurde von Mrs. Languelot bestritten. Zu Lacroix’ großem Vergnügen gab sie einige Familienanekdoten zum Besten, dem abgelenkten David stellte sie die eine oder andere einfache Frage, und sogar den unfreundlichen Mr. Osborn hatte sie nicht vollkommen aufgegeben.

«Sie sind aus dem Norden, nicht wahr?»

«Aus Gettysburg.»

«Get … Gettys … burg.»

Osborns knappe Antwort und Mrs. Languelots völlige Unkenntnis dieses Ortes schienen ein Gespräch unmöglich zu machen.

«Gettysburg liegt in Pennsylvania», erklärte David.

«Ah, Pennsylvania!», rief Marie zufrieden aus. «Stammt Ihre Familie von dort?»

«Nein.»

«Aber gewiss stammt Ihre Familie aus dem Norden?»

«Iren.»

«Wirklich! Dann sind Sie also Ire?»

«Nein», antwortete er brüsk. «Ich wurde in den Vereinigten Staaten geboren.»

«Natürlich. Sagen Sie, Mr. Osborn, was hat einen Mann des Nordens in unser geliebtes New Orleans verschlagen? Sind Sie vielleicht zum Vergnügen hier?»

«Ich fürchte, nein, gnädige Frau», antwortete Osborn, ohne seine Unlust zu verbergen. «Ich bin hier als Repräsentant der Regierung dieser Nation, mit dem Auftrag, eine Aufgabe zu erfüllen, die für die Zukunft unseres Landes von essenzieller Bedeutung ist.»

Die feierliche Antwort ließ die gute Frau verstummen.

«Unser Freund Mr. Osborn ist ein Regierungsbeamter, genauer gesagt ist er Zollinspektor, Marie», klärte Gaston Lacroix sie auf. Augenblicklich wurde es still im Raum.

Geschmuggelte Luxusgüter zu erwerben war gang und gäbe in der guten Gesellschaft von New Orleans, und auch in dieser Runde gab es niemanden, der nicht schon einmal Schmuggelware gekauft hatte. Sämtliche Gäste schienen plötzlich großes Interesse an der Mousse au Chocolat zu entwickeln, die vor ihnen stand. Nur David war aufmerksam geworden.

«Ich fürchte, Mr. Osborn, dass Ihre Mission nicht sehr erfreulich ist.»

Das Klirren der silbernen Löffel am feinen Porzellangeschirr, das zusammen mit der Tischwäsche illegal aus England eingeführt worden war, verstummte.

«Bitte?»

«Ich meine, es ist sicher nicht so einfach, dafür zu sorgen, dass ein so ungerechtes Gesetz Beachtung findet. Ein Gesetz, das ja praktisch gegen den Begriff von Freiheit verstößt, auf dem dieses Land gegründet wurde.»

Mr. Osborn richtete sich noch gerader auf, seine Wangen waren blass geworden.

«Die Bundesgesetze garantieren, dass die leistungsfähige Wirtschaft unseres Landes prosperiert, und sie sorgen daher auch für das Wohlergehen seiner Bürger», erklärte er, als hätte er es auswendig gelernt.

«Sie sprechen von den Interessen des Nordens.»

Jemand räusperte sich.

Osborns Gesicht war ein offenes Buch. Weder seine aufrechte Haltung noch sein selbstgefälliges Gebaren konnte seine Verärgerung verbergen. «Es tut mir außerordentlich leid, wenn das Ihr Eindruck ist, aber ich kann nur wiederholen, dass die Maßnahmen der Regierung auf lange Sicht jedem Bewohner dieses Landes Vorteile einbringen werden, auch wenn sie im ersten Moment etwas hart erscheinen.»

Auch wenn die Regierung genau diese Maxime in den letzten Jahren ständig wiederholt hatte, glaubte doch keiner der Anwesenden daran. Durch die hohen Zölle wurden die Preise der importierten Gegenstände in unermessliche Höhen getrieben. Auf diese Weise versuchte man, den Verkauf von Produkten der jungen Industrie der Nordstaaten zu unterstützen, ja zu erzwingen, obwohl diese Produkte noch von deutlich geringerer Qualität waren. Höchstens Lacroix selbst hatte vielleicht einen Vorteil durch das neue Gesetz, da er sein ohnehin schon beträchtliches Vermögen durch illegalen Handel weiter vermehren konnte.

«Ich verstehe nicht, welchen Nutzen die hohen Zölle für die Südstaaten haben sollen. Wenn Sie so freundlich wären, mich aufzuklären?», fuhr David ironisch fort.

Mrs. De Blois rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Der auffällige Rubinschmuck, den ihr Mann ihr von seiner letzten Europareise zum Hochzeitstag mitgebracht hatte und der natürlich nicht verzollt worden war, fühlte sich plötzlich unangenehm an.

Julien warf seinem Vater einen beunruhigten Blick zu. Aber Gaston Lacroix schien die neue Wendung des Gesprächs beinahe zu genießen.

«Es ist doch ganz einfach», erklärte Osborn nun. «Wir sind eine Nation und müssen einander unterstützen. Für die Größe eines Landes muss man Opfer bringen. Es handelt sich um eine Strategie, die auf lange Sicht angelegt ist, auch wenn die Erhebung von Zöllen auf einige Produkte im ersten Moment keine direkten Vorteile für den Süden mit sich zu bringen scheint. Über kurz oder lang wird dieses Gesetz dem Wohle aller dienen, denn sobald die Industrie des Nordens leistungsfähiger geworden ist, wird es auch dem Süden besser gehen.»

Es war nicht das erste Mal, dass David mit einem dieser Mr. Osborns sprach. Wenn man ihnen zuhörte, bekam man den Eindruck, als wohnten im Süden nur launische Kinder, die die eiserne Kontrolle der nördlichen Nachbarn brauchten, um das Richtige zu tun.

«Verstehen Sie jetzt?»

Fast hätte David diesem Kerl ins Gesicht gelacht. Für wen hielt er sich eigentlich. Er war schließlich David Parrish. Seine Familie hatte geholfen, dieses Land zu gründen. Niemals würde er sich von einem Emporkömmling vorschreiben lassen, was richtig oder falsch war. Natürlich durfte er nicht vergessen, dass sein Gastgeber dieses Dinner aus irgendeinem Grund zu Ehren dieses Idioten gegeben hatte.

«So leid es mir tut, aber ich kann Ihre Meinung nicht teilen. Ich glaube, dass sich der Norden an uns und den Zöllen immer mehr bereichert. Und wenn er dann reich genug ist, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als allen seinen Launen nachzugeben. Aber ich denke, wir sollten dieses Gespräch besser ein andermal fortsetzen», sagte David abschließend. Er wollte nicht zu weit gehen.

Wäre Osborn klug gewesen, hätte er Davids Friedensangebot akzeptiert und geschwiegen. Aber anscheinend fühlte er sich den anderen Gästen moralisch und intellektuell überlegen und wollte ihnen zeigen, wo ihr Platz war.

«Dieses großartige Land», antwortete er und hob die Stimme, damit ihn auch alle hören konnten, «hat die Freiheit von den Briten zu einem hohen Preis gekauft. Wir können nicht zulassen, dass England, das uns so lange unterdrückt hat, uns mit seiner Industrie aufs Neue zerschlägt, nur weil ein paar Landbesitzer, die von der Ausbeutung anderer Menschen leben, nicht zugunsten des Gemeinwohls auf überflüssigen Luxus verzichten können.»

Das war eine Beleidigung. Möglicherweise fühlten die meisten der Anwesenden anders. Als der Krieg um die Unabhängigkeit ausbrach, hatten ihre Familien zu Frankreich gehört, und selbst heute, nachdem sie vor über dreißig Jahren die Souveränität der Vereinigten Staaten akzeptieren mussten, sahen sie keine Notwendigkeit darin, einem diffusen Gemeinwohl zuliebe ihren Lebensstil zu opfern. Aber für David war es etwas anderes. Wie schon sein Vater und sein Großvater war er in den Vereinigten Staaten geboren. Dieser Hochmut und der Mangel an Respekt, mit dem Osborn wagte, über seinen Lebensstil zu urteilen, brachte ihn dazu, die elementarsten Regeln seiner guten Erziehung zu vergessen. Außerdem hatte die Gleichgültigkeit, mit der Katherine ihn behandelt hatte, ihn aufgewühlt.

«Von Freiheit und Opfern sprechen Sie? Als Ihr Großvater noch irischen Boden pflügte, hat meiner auf seinen Adelstitel verzichtet, um für die Unabhängigkeit dieses Landes zu kämpfen. Nur zu Ihrer Kenntnis, dieser Kampf begann mit Protesten gegen die überhöhten Zölle, mit denen die Engländer die Produkte aus dem Mutterland belegten. Mein Großvater war dabei, als die Unabhängigkeitserklärung entworfen wurde. Er hat für die Freiheit gekämpft, die Freiheit und Unabhängigkeit eines jeden Staates. Dafür, dass jeder Staat selbst über seine Zukunft bestimmen kann», sagte er aufgebracht. «Ich selbst habe Narben, die mich für den Rest meines Lebens zeichnen werden und die ich im Kampf für die Würde dieses Landes und für die Freiheit davongetragen habe. Ihre hingegen kann ich nicht sehen, Mr. Osborn. Wo sind Ihre Narben?»

Osborns Gesicht war rot angelaufen. Um die Männer herum herrschte zähes Schweigen. Die Luft war so dick, dass man sie mit einem der vielen geschmuggelten Messer, die auf dem Tisch glänzten, hätte schneiden können.

«Gentlemen», sagte Gaston Lacroix beschwichtigend. «Ich darf Sie daran erinnern, dass Damen zugegen sind! Wir sollten diese Diskussion doch lieber auf einen passenderen Moment verschieben.» Lächelnd stand er auf. «Was halten Sie davon, wenn wir jetzt den Tanz eröffnen?»

Die Gäste erhoben sich erleichtert.

Gaston Lacroix wollte um jeden Preis verhindern, dass der kleine Disput in einen offenen Kampf ausartete. Typen wie Osborn waren komplexbeladen und nachtragend. Nach dieser Auseinandersetzung versuchte der Inspektor zwar, absolute Gleichgültigkeit an den Tag zu legen, die scharlachrote Farbe seines Gesichts verriet jedoch das Gegenteil. Die Situation musste entschärft werden, und Lacroix wusste auch schon, wie.

«Mr. Osborn, ich möchte Ihre Freundlichkeit keineswegs ausnutzen», flüsterte er ihm vertraulich zu, während er ihn am Arm in den Salon zog. Misstrauisch hörte Osborn ihm zu. «Ich fürchte, eine alte Rückenverletzung gestattet mir nicht, zu tanzen.» Mit schmerzlich verzogenem Gesicht legte Lacroix sich die freie Hand auf den unteren Rücken. «Wenn Sie vielleicht den Tanz mit meiner Tochter eröffnen könnten …»

Osborn war sichtlich überrascht. «Es wäre mir eine Ehre», sagte er würdevoll. Mit einem eindeutigen Blick gab Lacroix seiner Tochter zu verstehen, was sie zu tun hatte.

Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte Osborn. Nachdem das Paar sich die ersten Takte lang allein gedreht hatte, reihten sich allmählich die anderen ein. Osborn schien vor Glück zu leuchten.

Katherine lächelte ihm unermüdlich zu und pflichtete mit scheinbarem Interesse jeder seiner langweiligen Bemerkungen bei.

Nachdem er seinen anstrengenden Gast kurzzeitig losgeworden war, seufzte Lacroix erleichtert auf. Er nahm sich ein Glas Champagner und gesellte sich zu seinem ältesten Sohn, der abseits der Tanzfläche stand. Julien war kaum größer als sein Vater, jedoch schlank, und seine blauen Augen und das angenehme Gesicht wirkten vertrauenerweckend.

«Julien, bereite alles vor. In zwei Tagen geht es los», teilte Lacroix seinem Sohn auf Französisch mit.

«Ist das nicht zu riskant? Nach dem Vorfall heute Abend sollten wir die Sache vielleicht abblasen.»

Lacroix’ Augen funkelten listig, als sie David in der Menge entdeckten. «Wir können ihm vertrauen.»

«Wie du meinst, Vater.»

Gaston Lacroix blickte seinem Sohn nach, der unauffällig den Salon verließ. Gerade wollte er einen großen Schluck Champagner nehmen, als neben ihm Davids besorgte Stimme erklang. «Mr. Lacroix, kann ich Sie einen Moment sprechen?»

«Aber natürlich, junger Mann.»

David wirkte verstört. «Mein Verhalten heute Abend war unverzeihlich.»

Bevor Lacroix darauf antworten konnte, sprach David weiter.

«Ich bin mir vollauf bewusst, dass es keine Rechtfertigung geben kann. Sie werden verstehen, dass ich Ihre Gastfreundschaft nach diesem Vorfall nicht länger in Anspruch nehmen möchte. Noch heute werde ich in mein Hotel zurückkehren.»

In diesem Moment wurde die Musik kurz unterbrochen, dann setzte ein neues Stück ein. Ein kurzer Blickkontakt mit seiner Tochter genügte, und bevor Osborn sich von der Tanzfläche zurückziehen konnte, hatte Katherine ihm schnell eine neue Partnerin besorgt, ihre hübsche Cousine Chantal.

Jetzt wandte Gaston Lacroix sich David zu. «Aber Leutnant Parrish, wenn Sie diesen besserwisserischen Yankee nicht in seine Schranken verwiesen hätten, ich selbst hätte mich gezwungen gesehen, ihn aus meinem Haus zu werfen», gestand er künstlich empört. «Ich bin es also, der Ihnen zutiefst dankbar ist und in Ihrer Schuld steht. Ich werde daher auf keinen Fall billigen, dass Sie uns verlassen.»

«Aber …»

«Ich bitte Sie, drängen Sie nicht weiter.»


Etwas besserer Stimmung mischte David sich unter die Gäste. Katherine tanzte inzwischen mit Vichy. Fast schien sie in der Luft zu schweben. Während seines Streits mit Osborn hatte er bemerkt, dass sie ihn angesehen, ihm zugehört hatte. Was würde sie nur von ihm denken? Ob sie verärgert war?

Als die Geigen verstummten, beobachtete David, wie Vichy seine Tanzpartnerin in einen Winkel des Salons führte und ihr einen Stuhl anbot. Nachdem sie Platz genommen hatte, entfernte sich ihr Begleiter. Das konnte Davids letzte Möglichkeit sein, Katherine näherzukommen.

«Miss Lacroix?»

«Guten Abend, Mr. Parrish. Ich freue mich, Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie genießen den Abend.»

Fast hatte er das Gefühl, seine Knie würden nachgeben, als er ihren glühenden Blick auf sich spürte. Er konnte nur hoffen, dass man ihm die Nervosität nicht anmerkte.

«Ich frage mich, ob Sie mir wohl den nächsten Tanz schenken würden.»

Sie lächelte. Aber als sie auf die Tanzkarte blickte, die an ihrem Handgelenk hing, runzelte sie bedauernd die Stirn. «Es tut mir schrecklich leid, Mr. Parrish, aber ich fürchte, ich habe ihn schon Jean-Baptiste versprochen.» Sie nannte ihren Begleiter beim Vornamen, was nach enger Vertrautheit klang.

«Dann vielleicht danach?»

Ein Kopfschütteln machte einen Strich durch Davids Hoffnungen. «Ich verstehe.»

«Es tut mir wirklich leid. Vielleicht ein andermal?»

«Ja, vielleicht.» Mit einer brüsken Verbeugung zog David sich zurück, als Vichy gerade mit einem Glas Bowle zurückkam.

David zog sich in eine etwas abgelegene Ecke des Salons zurück, wo er sich diskret aufstützen und sein Bein entlasten konnte. Von dort aus beobachtete er, wie Katherine ein ums andere Mal mit Vichy tanzte und auch alle anderen Aufforderungen annahm. Sogar mit diesem Osborn tanzte sie ein zweites Mal! Es war offensichtlich, dass sie sich über ihn geärgert hatte. Da er wusste, dass Katherine ihm keine weitere Gelegenheit geben würde, ließ David sich bald entschuldigen und begab sich in sein Zimmer.

Etwa um drei Uhr morgens hatte auch der letzte Gast Deux Chemins verlassen.

***

Erschöpft lächelnd ließ Katherine sich auf ihr Bett fallen. «Molly?»

«Ja, Katty.» Die Sklavin hatte im Dämmerlicht auf ihre Herrin gewartet.

«Ich kann nicht mehr. Mein Gott! Ich dachte, mir würden die Füße explodieren. Diese Schuhe sind wirklich eine Qual. Ich kann mir nicht erklären, wie ich die ganze Nacht lächeln konnte. Hätten die Musiker auch nur ein Stück mehr gespielt, wäre ich mitten im Salon zusammengebrochen.»

Molly bückte sich und zog Katherine die Schuhe aus.

Sobald die Füße von ihrer Pein befreit waren, massierte Katherine sich die Zehen. «Hast du ihn gesehen?»

Molly nickte. Sie hatte das ganze Fest heimlich von der Galerie im ersten Stock aus beobachtet. «Die ganze Nacht hat er dich angesehen.»

«Wirklich?»

«Du hast ihn vollkommen verrückt gemacht.»

Auf Katherines sinnlichen Lippen zeigte sich ein Lächeln. «Du hättest sein Gesicht sehen müssen, als ich ihm sagte, dass ich nicht mit ihm tanzen könnte. Er tat mir so leid, dass ich beinahe doch ja gesagt hätte. Und hast du mitbekommen, wie er sich mit diesem Idioten Osborn angelegt hat?» Sie stand auf und hielt ihr Haar hoch, damit Molly das Kleid aufhaken konnte. «Einen Moment lang hatte ich Angst, ein Unglück könnte geschehen», gestand sie besorgt, während das Kleid zu Boden fiel und Molly das Korsett löste. «Zum Glück ist Papa irgendwann dazwischengegangen.»

«Es war wirklich eine schreckliche Situation.»

«Nun, Leutnant Parrish hat diesen eingebildeten Kerl in seine Schranken verwiesen. Was glaubt dieser Yankee, wer er ist?»

Jemand, dem nicht klar war, wo er sich befand, dachte Molly im Stillen, während sie Katherine dabei half, das Nachthemd anzuziehen. Dann schlüpfte Katherine ins Bett und ließ sich von Molly zudecken.

«Ach, er sieht so gut aus!», seufzte sie. «Findest du nicht auch?»

«Sehr gut sogar. Und jetzt schlaf. Sonst wirst du morgen hässliche Augenringe haben.»

«Oh nein, bloß nicht.» Schnell legte sie ihren Kopf auf das Kissen. «Bis morgen, Molly.»

Bevor die Sklavin das Zimmer verließ, löschte sie die Kerzen.

Lächelnd schloss Katherine die Augen, während ihr Körper sich zu einem Knäuel zusammenrollte. Die Nacht war lang gewesen, aber alles hatte sich genauso entwickelt, wie sie es sich erhofft hatte. Der stattliche Leutnant hatte die ganze Zeit ihren Blick gesucht. Auch sie sehnte sich danach, noch einmal in diese blauen Augen sehen zu können, die ihre Seele berührt hatten. Aber sie hatte einen Plan, und wenn sie erreichen wollte, dass David Parrish sich bis über beide Ohren in sie verliebte, musste sie ihn aufs Genaueste befolgen.

Natürlich war es hart gewesen, über Vichys Scherze zu lachen und so zu tun, als würde sie seine Gesellschaft genießen. Immer schon hatte sie ihn für oberflächlich und eitel gehalten. Aber das war es wert. Sie hatte ihr Ziel erreicht, David Parrish war eifersüchtig.

Einfach war es nicht gewesen, das alles einzufädeln. Zuerst hatte Katherine ihm einen Sitzplatz zugewiesen, von dem aus er ständig mit ansehen musste, wie hingebungsvoll sie Vichys Worten lauschte. Außerdem hatte sie die anderen jungen Frauen im heiratsfähigen Alter klug am Tisch verteilt. Die Hässlichsten saßen dort, wo David sie deutlich sehen konnte, die, die Katherine in irgendeiner Weise in den Schatten stellen konnten, waren außer Sichtweite. Am kompliziertesten war es gewesen, ihre rotgelockte Cousine Chantal aus Davids Blickfeld zu entfernen.

Katherine seufzte glücklich. Der Abend war perfekt gelaufen, aber es lag noch viel Arbeit vor ihr. Mit David vor ihrem inneren Auge, der sich wie ein fahrender Ritter mit schimmernder Rüstung dem dummen Osborn entgegenstellte, versank sie in den süßesten aller Träume.

Fesseln des Schicksals
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