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Etwa um fünf Uhr früh hörte man die Schreie des zweiten Kindes.

Doktor Steward und Owen warteten noch immer im Dachgeschoss, als Katherine kurz nach Sonnenaufgang mit zwei Neugeborenen auf dem Arm aus Mollys Zimmer kam.

«Owen, kümmern Sie sich darum, dass Molly gewaschen wird. Ich möchte sie noch heute an der Flussbiegung begraben. Geben Sie mir Bescheid, wenn alles bereit ist. Ich warte in meinem Zimmer.»

Doktor Steward trat einen Schritt näher, und Katherine drehte sich zu ihm.

Mrs. Parrish war vorsichtig genug gewesen, nach der Geburt genügend Zeit vergehen zu lassen. Weil sie die Mädchen schon gewaschen und in ihre Decken gewickelt hatte, war es unmöglich, auf einen Blick zu erkennen, welche zuerst geboren war. Wenn er sie doch untersuchen könnte …

«Mrs. Parrish, erlauben Sie mir sicherzugehen, dass es Ihnen und den Kindern gutgeht.»

«Danke, Doktor, aber das wird nicht nötig sein. Meinen Töchtern und mir geht es ganz wunderbar. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich muss mich jetzt von einer Freundin verabschieden.»

Katherine stieg die Treppe hinunter in ihr Zimmer, und so blieb Doktor Steward nichts anderes übrig, als seinen Koffer zu nehmen und zu gehen. Wenigstens konnte er David benachrichtigen. Von jetzt an würde der sich um diese Sache kümmern müssen.

***

Latoya, Olivia, Nana Lo und Thomas waren noch immer in der Küche versammelt, als Owen eintrat und den Frauen befahl, Molly für die Beerdigung vorzubereiten.

Zwar hatte Doktor Steward sich persönlich angeboten, David in Richmond aufzusuchen, aber selbst bei höchster Eile würde seine Kalesche vier Stunden brauchen. David käme nicht vor dem Abend an.

Als der Arzt das Haus verlassen hatte, war Owen wieder verantwortlich für die Situation. Das Wichtigste war nun, die Geschehnisse geheim zu halten, bis der Herr entschied, was zu tun sei. Steward würde das Geheimnis bewahren. Er war ein guter Freund von David, außerdem würde ihm seine Berufsethik verbieten, Informationen über seine Patienten enthüllen.

Es war schon schwieriger, dafür zu sorgen, dass die Sklaven nichts ausplauderten. Zwar konnte er ihnen drohen, aber auf lange Sicht würde irgendetwas durchsickern. Für den Moment war es das Beste, jeden Kontakt mit den anderen zu verbieten.

***

In strengem Schwarz, das Gesicht von einem Schleier verhüllt, folgte Katherine mit ihren Töchtern im Arm dem Karren, auf dem Mollys Sarg stand. Latoyas und Olivias Hausarrest war für einen Moment aufgehoben. Aber es war trotzdem ein kleines Begräbnis.

Als Katherine ihrer Freundin zu Ehren einen Psalm rezitierte, nahm Owen respektvoll den Hut ab.

Nachdem sie noch ein paar frischgeschnittene Margeriten auf das Grab gelegt hatte, ging sie schließlich zum Haus zurück. Im sehnlichen Wunsch, Mollys Gegenwart noch einmal zu spüren, stieg Katherine ein letztes Mal zur Dachkammer hinauf. Sie setzte sich in den alten Schaukelstuhl und spürte, wie die behaglich warmen Sonnenstrahlen ihren Körper umhüllten. Mit dieser tröstlichen Empfindung gedachte sie ihrer Freundin und schlief irgendwann vor Erschöpfung ein.

***

Latoya zwirbelte nervös an einem Zipfel ihrer Schürze herum. «Was wird nur mit uns geschehen?»

David war noch immer oben in der Mansarde.

«Ich habe Angst.»

Gern hätte Thomas das Mädchen beruhigt, aber ihm war bewusst, dass sie sich in einer schwierigen Lage befanden. Mit etwas Glück würde man sie verkaufen, sonst …

Olivia wiegte sich nervös von einer Seite zur anderen. Nur Nana Lo wartete reglos und gefasst.

Dann erschien David mit Owen in der Küche. Die Sklaven standen auf.

Unaufhörlich hatte David sich das Gehirn zermartert. Es gab viel zu viele Zeugen für das, was geschehen war, und Sklaven hatten zudem die schlechte Angewohnheit, Dinge, die ihre Herrschaft lieber unter Verschluss hielten, auszuplaudern. Natürlich konnte er damit drohen, sie zu verkaufen, aber dann wäre das Risiko fast noch größer. Waren sie erst einmal außerhalb seiner Reichweite, könnte er überhaupt nicht mehr kontrollieren, was sie erzählten.

«Ich will es kurz machen. Bis ich etwas Gegenteiliges sage, hat eure Herrin Zwillinge zur Welt gebracht. Die Sklavin und ihre Tochter sind bei der Geburt gestorben, und beide», betonte er, «sind unten am Fluss begraben.»

Die Sklaven rührten sich nicht.

«Ich rate euch, das niemals zu vergessen. Wenn mir auch nur die geringste Bemerkung zu Ohren kommt, die mich daran zweifeln lässt, ich schwöre euch, ich ziehe eure Haut in Streifen ab, und wenn ihr dann noch lebt, lasse ich euch alle aufhängen. Jetzt macht euch an die Arbeit.»

In der Überzeugung, dass die Angst schon dafür sorgen würde, dass die Sklaven ihre Zunge im Zaum hielten, verließ David die Küche. Owen folgte seinem Arbeitgeber.Sobald sie wieder allein waren, setzten Latoya, Olivia und Thomas sich in Bewegung, als hätten sie es eilig, endlich diesen Raum zu verlassen.

«Keiner von uns wird reden», ertönte da die Stimme der alten Hebamme, und alle drei drehten sich zu ihr um. Latoya zitterte noch immer.

«Wir müssen absolut sicher sein, dass niemand jemals über diese Sache spricht.»

«Ich … ich wollte sowieso nichts sagen», stammelte Latoya und mied Nana Los stechenden Blick. Auch Thomas und Olivia bestätigten Latoyas Worte mit einem Kopfnicken.

Eindringlich sah ihnen die alte Sklavin in die Augen, bevor sie weitersprach. «Doch, das würdet ihr tun. Vielleicht nicht dieses Jahr, auch nicht in zwei Jahren, aber irgendwann kommt der Moment, in dem ihr die Angst verliert. Ihr werdet glauben, dass das Geheimnis gut aufgehoben ist bei der Person, der ihr euch anvertrauen wollt. Dass niemand etwas merken wird. Und dann …»

«Das werden wir nicht», protestierte Olivia.

«Du, Olivia, hast deinen Mund noch nie halten können. Dir macht es viel zu viel Spaß, fremde Geheimnisse auszuplaudern. Früher oder später wirst du es jemandem erzählen.» Nana Lo ließ Olivia keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. «Aber dieses eine Mal wird niemand reden. Nicht jetzt, nicht wenn wir verkauft werden, nicht wenn der Herr stirbt oder zu alt und krank ist, um seine Drohungen wahr zu machen», sprach sie und wandte sich bei den letzten Worten Latoya zu, die noch sehr jung war. «Wir werden es nicht tun, weil wir eine Schuld zu begleichen haben.»

Verlegen senkte Olivia den Kopf, als sie daran dachte, wie sie Molly behandelt hatte. Auch Thomas fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.

«Keiner von uns hat dieser Unglücklichen geholfen, als sie uns brauchte. Sie war eine von uns, und wir haben ihr den Rücken zugekehrt. Wir haben sie alleingelassen.»

Olivia erinnerte sich an die unzähligen Male, die Molly ihr zugelächelt hatte, um ihre Freundschaft zu suchen. Sie hatte das Lächeln nie erwidert. Als sie jetzt an Mollys schrecklichen Tod dachte, hätte sie sich gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können.

Nana Lo sprach weiter. Ihr Wort war unter den Sklaven immer respektiert worden. «Wir schweigen für dieses Mädchen. Die Frau des Herrn, auch wenn ich das niemals erwartet hätte, wird sie mit Zähnen und Klauen beschützen. Solange wir ihr Geheimnis bewahren, ist das Mädchen sicher. Sie wird frei sein. Denkt daran. Wir können einer von uns die Freiheit schenken. Denkt nur für einen Moment daran, was für ein Leben das Mädchen erwartet, wenn man hinter ihr Geheimnis kommt … Wir schulden es ihrer Mutter. Und wir schulden es Herrin Katherine.»

«Der Herrin …»

«Ja, Olivia. Dank ihr kann Velvet den kleinen Noah behalten. Hätte der Herr vielleicht zugelassen, dass das Kind hierbleibt? Habt ihr auch nur einen Moment darüber nachgedacht, was diese Frau getan hat?»

Alle hatten das Bild vor Augen, wie Katherine den Aufseher entwaffnete und Doktor Steward entgegentrat, um zu verhindern, dass sie das Kind der Sklavin wegbringen würden.

«Obwohl sie eine weiße Frau ist, hat sie viel riskiert, um dieses Mädchen zu beschützen. Eine von uns. Wollt ihr etwa zurückstehen?»

Die alte Frau ergriff nun ein Messer und brachte sich in der Handfläche einen schnellen Schnitt bei. Sie ballte die Hand zur Faust und ließ das Blut in einen leeren Behälter tropfen, der auf dem Küchentisch stand. «Ich schwöre, dass ich das Geheimnis von Mollys Tochter bis an mein Lebensende bewahren werde.»

Nana Lo gab das Messer an Thomas weiter, der es nur zögernd an sich nahm.

Wenn man einen vor Zeugen abgelegten Blutschwur brach, würde man einen qualvollen Tod sterben und seine Familie dem gleichen Schicksal aussetzen. Dem Herrn würden sie vielleicht entfliehen können, aber niemals dem Zorn der Götter.

Als sich das Blut aller vier Zeugen gemischt hatte, war der Schwur besiegelt. Das Geheimnis der kleinen Sklavin war für immer sicher.

Fesseln des Schicksals
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