· 13 ·
Katherine, ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du dich heute etwas zurückhalten könntest.»
Das Ehepaar Parrish hatte in der Kutsche Platz genommen und wartete auf die Mädchen. Katherine sah ihren Mann an. «Hast du so viel Angst vor der Wahrheit?»
Davids Finger schlossen sich fester um den Elfenbeinknauf seines Spazierstocks. Diesmal würde er sich nicht aus der Fassung bringen lassen. «Du weißt genau, worauf ich hinauswill.» Doch er bekam keine Antwort. Obwohl Katherine ganz genau wusste, dass er sich auf ihre unangebrachten Bemerkungen über die Sklaverei bezog.
«Wenn du es schon nicht für mich tust, dann wenigstens für unsere Töchter.»
«Unsere Töchter? Alles, was ich tue, tue ich für sie, ganz im Gegensatz zu dir, David. Und ich werde auch alles dafür tun, damit sie ihrem Vater nicht zu ähnlich werden. Selbst wenn ich mich dafür mit allen anderen überwerfen muss.»
«Wie du willst», sagte er, entschlossen, Ruhe zu bewahren. «Aber denk daran, dass deine Töchter im Süden leben. Und dass ihre Landsleute so sind wie ich und so denken wie ich.»
«Nein. Nicht wie du.»
Schneidender Hass klang in ihren Worten mit. David wusste, dass er Katherines Sklavin nicht hätte anrühren dürfen. Aber es war längst zu spät für Gewissensbisse. Seit jenem Tag war zwischen ihnen etwas zerbrochen, und seine Frau war viel zu stolz und vielleicht auch zu verletzt, um ihm je zu vergeben.
«Möglicherweise sind die Leute nicht solche Ungeheuer wie ich», sagte er bitter. «Aber die Sklaverei ist Teil ihrer Lebensart. Wie übrigens auch deiner. Oder werden deine Kleider und dein Essen etwa nicht mit dem Schweiß und Blut der Sklaven bezahlt?»
Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, David wusste das. Er hatte sie getroffen, wo es ihr am meisten wehtat. Katherines Augen funkelten, aber sie antwortete nicht.
«Vergiss bitte nicht, dass die Zukunft unserer Töchter von dem Ruf abhängt, den sie bei den Leuten genießen, die du so verachtest und zu denen du für die längste Zeit deines Lebens auch gehört hast, und zwar ohne die geringsten Gewissensbisse.»
Obwohl Katherine am liebsten protestiert hätte, musste sie sich voller Scham eingestehen, dass jedes Wort davon wahr war. Kurz trafen sich ihre Blicke. Noch immer brannte Feuer in ihren Augen, aber das warme Licht der Liebe war schon vor langer Zeit von den bösen und mächtigen Flammen des Hasses verdrängt worden.
Bevor Katherine antworten konnte, kam Hortensia aus dem Haus. Das Mädchen nahm den Arm, den der alte Thomas ihr bot, um auf das hohe Trittbrett der Kutsche zu steigen. «Ich bin so nervös …», gestand sie. Nachdem sie sich ihrem Vater gegenübergesetzt hatte, spannte sie ihren Schirm auf, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen.
Vor kurzem war sie vierzehn geworden, aber erst in ein paar Jahren würde sie offiziell in die Gesellschaft eingeführt werden.
«Du bist wunderhübsch», redete David ihr zu. «Du hast überhaupt keinen Grund, nervös zu sein. Ganz bestimmt sind meine Töchter die hübschesten jungen Damen auf dem ganzen Ball.»
Hortensia dankte ihm seine aufmunternden Worte mit einem Lächeln.
«Und Charlotte?», fragte er. Doch eine Antwort war nicht notwendig, denn in diesem Augenblick kam die junge Frau aus dem Haus gerannt.
«Ich komme schon, Papa!»
Mit Schwung stieß Charlotte sich vom Boden ab, setzte ihren Fuß auf das Trittbrett und sprang beinahe in die Kutsche. Dabei ignorierte sie geflissentlich den Sklaven, der ihr den Arm hinhielt. «Es tut mir leid», entschuldigte sie sich und ließ sich auf den Sitz plumpsen. «Ich konnte mein Haarband nicht finden.»
Geduldig hatte Thomas darauf gewartet, dass Charlotte ihren Platz eingenommen und aufgehört hatte herumzuzappeln. Erst jetzt schloss er die Tür der Kalesche. Sekunden später gab David das Startsignal, und die Räder begannen, sich um ihre Achsen zu drehen.
Gerade waren sie in die Ahornallee eingebogen, als Latoya erschien und mit einem länglichen Gegenstand herumfuchtelte. «Miss Charlotte!», rief sie. «Sie haben Ihren Sonnenschirm vergessen!» Rasch lief die Sklavin dem Wagen hinterher.
Eine Dreiviertelstunde später fuhren sie unter dem von Efeu überwucherten Torbogen hindurch. Hier begann Heaven’s Door, die Plantage von Davids Cousin Quentin. Am heutigen Tag sollte die Hochzeit seiner Tochter Silvia gefeiert werden.
Das Haus aus rotem Backstein wirkte, als hätte man es geradewegs aus einer ländlichen Region Englands hierherversetzt. Es war solide gebaut und groß, aber man hatte auf den sonst üblichen klassischen Säulengang und andere Verzierungen verzichtet, sodass das Haus auf angenehme Art bescheiden wirkte.
Der Kutscher der Parrishs zügelte die Pferde und manövrierte langsam an den Fuhrwerken vorbei, die an beiden Seiten des Weges in langen Reihen parkten.
Am Haupteingang nahmen Quentin und sein Sohn Orante die Gäste in Empfang, die nach und nach aus ihren Kutschen stiegen. Geduldig wartete Davids Familie, bis sie an die Reihe kam. Vor ihnen fuhr in einer grünen Kutsche das Ehepaar Burton in Begleitung ihrer beiden Kinder, Robert William, einem dreizehnjährigen Jungen mit dunklem Haar und rundem Gesicht, der von seinem Vater die Leidenschaft fürs Essen geerbt hatte, und Laura, einem blonden, hochmütigen Mädchen, das hinter ihrem hübschen Gesicht einen egoistischen und launischen Charakter verbarg.
Nach den Parrishs kamen die Carmodys. Drei ihrer Söhne begleiteten die Kutsche zu Pferd, der vierte saß seinen Eltern gegenüber. Keiner der schmucken jungen Männer schien die Anwesenheit von Charlotte und Hortensia bemerkt zu haben. Alle hatten nur Augen für Laura Burton, die ihr Haar trotz ihrer fünfzehn Jahre schon hochsteckte und ein langes und ausgeschnittenes Kleid trug, als wäre sie alt genug, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Jetzt eilte auch Orante heran, um der sinnlichen jungen Dame mit dem üppigen Dekolleté seinen Arm zu bieten.
Charlotte war wütend. Heute Morgen hatte sie sich noch so hübsch gefühlt. Aber als sie jetzt Laura betrachtete, die, obwohl sie nur ein Jahr älter war, schamlos vor allen mit den Hüften wackelte, war sie sich sicher, dass niemand auf sie achten würde. Und das nur, weil sie ein hochgeschlossenes Kleid anhatte, das oberhalb der Knöchel endete und darunter weiße Strümpfe sehen ließ.
Endlich kam Quentin Parrish auf seinen Cousin zu. «David!» Die beiden Männer umarmten sich herzlich. Dann wandte er sich an Katherine. «Katherine, was für eine Freude. Ich danke dir, dass du gekommen bist. Silvia wird überglücklich sein, dich zu sehen.»
«Danke, Quentin. Um nichts in der Welt hätte ich ihre Hochzeit versäumen mögen. Du weißt, wie gern ich sie habe.»
Quentin lächelte. Er wusste, dass das stimmte. Und dass Katherine ihre selbstauferlegte Zurückgezogenheit für diesen Tag unterbrochen hatte, um bei der Hochzeit seiner Tochter zugegen zu sein, war Beweis genug.
«Ah, und da sind ja auch meine Lieblingsnichten!»
Hortensia und Charlotte lächelten. «Hallo, Onkel Quentin», antworteten sie wie aus einem Mund und deuteten ein sehr diskretes Kopfnicken an.
«Und Silvia?», fragte Katherine, nachdem auch ihr Neffe Orante ihr einen Begrüßungskuss gegeben hatte.
«Sie ist in ihrem Zimmer», sagte Quentin.
«Ich werde ihr helfen. Sicher ist sie sehr nervös.»
***
Liebevoll beobachtete Katherine ihre Nichte von der Tür aus. Silvia war sehr schlank und etwas größer als sie selbst. Bis zu diesem Moment hatte Katherine ihrem Aussehen nie viel Beachtung beigemessen. Silvia war einfach ein sanftes und liebevolles Mädchen gewesen. Und obwohl sie eine hübsche Nase und ebenmäßige Züge besaß, fehlte ihr das gewisse Etwas, das sie in den Augen der Männer begehrenswert gemacht hätte.
Selbst jetzt, wie sie da im weißen Kleid vor ihr stand, mit dem Strauß in der Hand und den Blumen im hochgesteckten Haar, kam es Katherine so vor, als betrachte sie ein Kind. Tatsächlich war Silvia gerade erst neunzehn geworden. War denn sonst niemand der Ansicht, dass das Mädchen eigentlich zu jung war zum Heiraten?
«Tante Katherine!», rief die Braut glücklich, als sie Katherine in der Tür entdeckte.
«Meine liebe Silvia!» Gerührt nahm Katherine ihre Nichte in den Arm.
«Du hast mir so gefehlt.»
«Um nichts in der Welt hätte ich diesen Tag versäumt.»
Silvia lächelte. Obwohl ihre Tante oft sehr unkonventionell war, hatte Silvia sie immer geliebt. Als ihre Mutter gestorben war, hatte sie mit ihrem Bruder eine Zeit lang auf New Fortune gelebt. Sie war erst vierzehn Jahre alt gewesen, erinnerte sich aber noch voller Zärtlichkeit daran, wie Katherine sie jeden Abend zugedeckt hatte und in diesen schwierigen Momenten bei ihr gewesen war. Seither hatte Silvia jeden Sommer ein paar Wochen auf New Fortune bei ihrer Tante und ihren Cousinen verbracht.
«Du siehst wundervoll aus.»
«Danke, Tante.»
«Ich kann es noch gar nicht glauben, dass du heute heiratest. Ich sehe noch das kleine Mädchen vor mir, das so sehr an seinem Bruder hing.»
«Es ist viel Zeit vergangen.»
«So viel nun auch wieder nicht», widersprach Katherine ein wenig wehmütig. «Aber erzähl! Wer ist dieser junge Mann, der mir meine Lieblingsnichte wegnehmen will?»
«Er heißt Jonathan Perelman, er kommt aus Norfolk und arbeitet mit seinem Vater in einem Familienunternehmen.»
«Das weiß ich doch schon. Aber wie ist er so?»
Silvias Gesicht erstrahlte, als sie an den Mann dachte, der in weniger als einer Stunde ihr Ehemann werden würde. «Er ist intelligent, galant, umsichtig. Er ist der beste aller Männer.»
«Liebst du ihn?»
«Wie könnte ich ihn nicht lieben, Tante?», sagte sie lächelnd mit vor Rührung feuchten Augen. «Ich liebe ihn, wie ich noch niemals jemanden geliebt habe. Wenn er mir in die Augen sieht und meine Hand nimmt, fühle ich, wie mein ganzer Körper erzittert. Mein Herz stirbt vor Ungeduld, wenn ich nicht bei ihm bin. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Ist das vielleicht keine Liebe?»
Katherine lächelte. «Und er? Liebt er dich?»
Die Veränderung in Silvias Gesichtsausdruck verriet, dass sie nie etwas anderes für möglich gehalten hatte.
Katherine erinnerte sich daran, wie sicher sie selbst gewesen war. David war ein bezaubernder, gebildeter und umsichtiger Mann gewesen. Sie hatte gespürt, wie diese blauen Augen ihre Seele berührten, hatte sich gewünscht, jede Sekunde ihres Lebens an der Seite dieses attraktiven und eleganten Mannes zu verbringen. Dafür hatte sie alles hinter sich gelassen. Sie war weggegangen, um ein Leben mit einem vollkommen Fremden zu beginnen. Ihre Nichte war kurz davor, das Gleiche zu tun. Aber wenigstens ging Silvia nicht so weit fort. Norfolk war nur eine Tagesreise von Heaven’s Door entfernt.
«Glaubst du denn, dass er mich vielleicht gar nicht liebt?», fragte Silvia jetzt voller Zweifel. «Dass ein Mann sich nicht in eine Frau wie mich verlieben kann?» Das Glück ihrer Nichte war kurz davor, sich in Trauer und Verzweiflung zu verwandeln.
Katherine sah sie an. Das Mädchen vor ihr hatte eine so schöne und edle Seele. Ihre Stimme war sanft und liebevoll, und gewiss hatte Silvia nie in ihrem Leben Neid verspürt oder jemandem etwas Schlechtes gewünscht.
«Du bist eine wundervolle Frau, Silvia! Lass dir nie etwas anderes einreden», antwortete Katherine ihr voller Herzlichkeit. «Jeder gute und anständige Mann würde sich in dich verlieben.»
Silvia lächelte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
«Du wirst bestimmt sehr glücklich sein», sagte Katherine und ergriff die Hände ihrer Nichte. «Aber ich möchte, dass du mir etwas versprichst: Wenn etwas nicht so ist, wie du es erwartet hast, vergiss nicht, dass meine Tür immer für dich offen steht.»
Lächelnd nickte Silvia, obgleich Katherines Worte sie etwas zu beunruhigen schienen.
«Meine Liebe», flüsterte Katherine und strich der jungen Frau über das Gesicht, das sich durch den Anflug von Sorge etwas verdüstert hatte. «Alles wird gut. Vergiss nicht: Deine Familie ist für dich da.»
Der junge Jonathan Perelman war genau so, wie Silvia ihn beschrieben hatte. Und er wirkte ebenso jung wie die Braut selbst. Während sich die Brautleute an den Händen gefasst das Eheversprechen gaben, erinnerte Katherine sich an den Tag ihrer eigenen Hochzeit. Sie hatte mit dreiundzwanzig Jahren geheiratet, aber trotzdem war sie noch sehr jung gewesen. Jetzt, mit dem zeitlichen Abstand, kam es ihr fast unglaublich vor, dass niemand Einwände dagegen vorgebracht hatte, dass sie David so rasch geheiratet hatte, um Hunderte Meilen von ihrem Zuhause entfernt eine Familie zu gründen.
Katherine sah kurz zu Charlotte und Hortensia hinüber, die der Zeremonie gebannt folgten. Sie waren noch Kinder, aber Silvia war gerade einmal fünf Jahre älter. Inständig betete Katherine in diesem feierlichen Moment, dass die junge Frau ein glücklicheres Leben führen würde als sie selbst und dass das Schicksal ihre eigenen Töchter davor bewahrte, zu früh Ehefrauen und Mütter zu werden.
Nach der Zeremonie nahmen die Gäste an den Tischen Platz, die im Herrenhaus aufgestellt worden waren. Es gab ein köstliches Festmahl. Quentin Parrish hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, um die Hochzeit seiner einzigen Tochter zu begehen.
***
Während die Frauen nach dem Essen auf der Veranda ihren Tee zu sich nahmen, trafen sich die Männer in der Bibliothek.
David hatte seine Zigarre fast aufgeraucht, und in seinem Glas ging der Cognac zur Neige.
«Dieser Abolitionist Charles Sumner wird uns nichts als Ärger bringen», meinte Edmond Carmody, während sein Sohn Mathew, alt genug, um in die Runde der erwachsenen Männer aufgenommen zu werden, schweigend nickte. «Man hätte nie zulassen dürfen, dass dieser Kerl in den Senat kommt.»
«Ich stimme Ihnen zu», bestätigte ein Mann mittleren Alters, der Garret Bolman hieß und eine kleine Tabakplantage besaß. «Es heißt, dass er letzte Woche eine vierstündige Rede gehalten hat, obwohl es fürchterlich heiß gewesen sein muss.»
«Offensichtlich war es ein direkter Angriff auf das Gesetz über entlaufene Sklaven», warf Quentin ein.
Es hatte die Senatoren der Südstaaten mehrere Jahre harte Arbeit und komplizierte politische Schachzüge gekostet, bis ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Nordstaaten dazu verpflichtete, entlaufene Sklaven wieder ihren Herren zuzuführen. Das gleiche Gesetz legte auch die Vorgehensweisen fest, die seine Ausführung auf nationaler Ebene garantierten.
«Und als wenn das nicht schon genug wäre, hat diese Frau ein paar Tage vor Sumners Rede dieses Machwerk veröffentlicht», fügte Edmond Carmody hinzu, ohne mit seiner Verachtung hinter dem Berg zu halten. «Das Absurdeste daran ist, dass sie anscheinend noch nie den Süden betreten hat, geschweige denn eine Plantage.»
Keiner der Anwesenden hatte das Buch von Harriet Beecher Stowe gelesen, und keiner würde es je tun. Sie sprachen ja nicht einmal den Titel des Romans aus, in dem die Landbesitzer des Südens als mitleidlose Monster geschildert wurden, als sadistische Aufseher, die die schrecklichsten Gräueltaten begingen. In nur wenigen Wochen hatte Onkel Toms Hütte mehr Herzen in den Nordstaaten erreicht als die abolitionistische Propaganda in vielen Jahren.
Ein letztes Mal zog David an seiner Zigarre.
«Das ist bald vorbei, Edmond. In ein paar Wochen ist Sumners Rede vergessen, und auch für das Buch interessiert sich dann niemand mehr.»
David sah, wie sein Cousin die Lippen aufeinanderpresste. «Du stimmst mir nicht zu?»
Quentin schüttelte den Kopf. «Gerne würde ich deinen Optimismus teilen, David. Aber ich glaube, das Gesetz über entlaufene Sklaven bringt uns auf lange Sicht nur Probleme.»
«Warum sollte es Probleme geben? Die Verabschiedung des Gesetzes war ein großer Sieg für den Süden», warf Doktor Steward ein.
«Genau», pflichtete sein Schwager Nicholas Reemick ihm bei. «Endlich musste sich der Norden einmal unseren Forderungen beugen.»
«Ich glaube, genau deswegen hat die Situation eine gefährliche Wendung genommen. Beauftragte der Südstaaten werden jetzt in Gemeinden fahren, in denen es keine Sklaverei gibt. Und sie holen dort schließlich nicht nur die entlaufenen Sklaven ab, sondern sperren deren Helfershelfer ein und verhängen Geldstrafen. Das wird böses Blut geben. In Neuengland wurden sogar schon Bestimmungen verabschiedet, die erlauben, das Gesetz zu umgehen. Vorher war es nur eine Minderheit, die den entlaufenen Sklaven geholfen hatte. Selbst diese Geheimorganisation, die als Underground Railroad bekannt ist und in der sich hauptsächlich Quäker und ein paar Idealisten tummeln, war vollkommen ineffektiv. Sie haben sich darauf beschränkt, den entflohenen Sklaven in Kellern und Ställen Unterschlupf zu gewähren, bis man sie in Karren versteckt über die Grenze bringen konnte. Aber jetzt hat sich die Situation geändert. In den Nordstaaten ist es fast zu einer Frage der Ehre geworden zu verhindern, dass die Sklaven zu ihren Besitzern zurückgebracht werden.»
«Nun, es ist auch für uns eine Frage der Ehre», widersprach Edmond Carmody. «Unsere Art zu leben, unser Wohlstand, alles beruht auf der Sklaverei. Wir können nicht zulassen, dass unsere Sklaven ungestraft fliehen. Sonst stehen wir bald ohne Arbeitskräfte da, und was wird dann aus dem Süden? Wer soll auf den Feldern arbeiten?»
Ein etwa sechzigjähriger, elegant gekleideter Mann, der sich als Ernest Vigeland vorgestellt hatte, ergriff das Wort.
«Ich muss Ihnen zustimmen. Meine Plantage liegt im Norden von Maryland, selbst zu Fuß kaum eine halbe Tagesreise von der Grenze zu Pennsylvania entfernt. Jeden Tag fliehen Sklaven nach Norden, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen könnten. In den letzten Jahren habe ich so einige verloren, genau wie meine Nachbarn. Jetzt wenigstens sind sie nicht mehr automatisch in Sicherheit, wenn sie die Grenze passiert haben. Sie können immer noch zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgebracht werden.»
Obwohl Virginia relativ nah an den Nordstaaten lag, waren New Fortune und die Plantagen der meisten der Anwesenden zu weit von der Grenze entfernt, als dass eine Flucht erfolgversprechend gewesen wäre. Und die Sklaven wussten das.
«Außerdem», fuhr der Gentleman aus Maryland fort, «habe ich es satt, mir anzuhören, wie die Abolitionisten gegen unsere Lebensart hetzen und uns als Unmenschen bezeichnen, obwohl sie nicht einmal Mitleid für die vielen Einwanderer ihrer eigenen Rasse haben, die jedes Jahr in den Fabriken sterben.»
«Sie haben ganz recht, Mr. Vigeland», wagte Mathew Carmody sich vor. «Es ist kein Geheimnis, dass Männer, Frauen und Kinder im Norden unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten, und das für einen Lohn, der nicht einmal für ihren Unterhalt ausreicht. Hier hat wenigstens jeder Sklave ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen.»
Geduldig hatte David abgewartet, bis alle ihre Argumente vorgebracht hatten. «Vielleicht hast du recht, Quentin, aber was sollten wir sonst tun?», sagte er nun.
«Ich weiß es nicht, David. Ich wäre froh, wenn ich eine Antwort darauf hätte. Vielleicht würde es ausreichen, die Fluchtwege besser zu überwachen. Man könnte dann die wenigen Sklaven, die es trotz allem in den Norden schaffen, einfach aufgeben. Letztendlich sind es nicht viele. Und auch wenn ständig das Gegenteil behauptet wird, ich bezweifle, dass die Mehrheit der weißen Bevölkerung der Nordstaaten große Sympathien für die Schwarzen hegt. Wenn das Gesetz über entlaufene Sklaven nur in den Südstaaten Gültigkeit hätte, würden die Spannungen sich vielleicht verringern, und die Dinge könnten ihren gewohnten Gang gehen.»
David dachte nach. Sein Cousin war immer ein vernünftiger und kluger Mann gewesen.
«Das wäre möglich, Quentin. Aber wir müssen auch unsere Rechte verteidigen. Wenn wir jetzt nachgeben, werden wir es auch beim nächsten Mal wieder tun! Und irgendwann bleibt nichts mehr übrig, was wir verteidigen könnten. Wir haben einen Schritt getan und können erst einmal nur abwarten.»
Quentin nickte. Trotzdem war er sich sicher, dass es auf dem Weg, den die feindlichen Parteien eingeschlagen hatten, kein Zurück mehr gab. Die Differenzen zwischen Norden und Süden wurden immer größer, und schon bald wären die beiden Teile des Landes nicht mehr dazu in der Lage, sich miteinander zu versöhnen.
Als die Uhr sechs schlug und den Beginn des Tanzes ankündigte, war das Gespräch ohnehin an einem toten Punkt angelangt. Nachdem die Männer ihre Zigarren ausgedrückt und den restlichen Cognac hinuntergestürzt hatten, holten sie ihre Gehröcke, die sie vor der Bibliothek abgelegt hatten, und zogen sie nun, unberührt vom Geruch nach Rauch, der im Raum herrschte, mit Hilfe einiger zuvorkommender Sklaven wieder an.
***
Auf der Veranda hatte man achtzehn Tische aufstellen müssen, damit alle weiblichen Gäste einen Sitzplatz fanden. Inmitten von kostbaren Leinentischdecken, eleganten Tafelaufsätzen mit Geißblatt und zartem Porzellan plauderten die Damen, während sie, von einer angenehmen Brise erfrischt, Tee und köstliches Gebäck zu sich nahmen.
An Katherines Tisch saßen Gwendolyn Burton, Rose Mary Sebastian und Sarah Timberland.
«Wir haben dich schon so lange nicht mehr gesehen», sagte Gwendolyn zu ihr. «Ich habe gehört, dass deine Gesundheit in den letzten Jahren etwas angegriffen war. Ich hoffe, du bist wieder bei Kräften.»
Seit über sieben Jahren hatte Katherine an keinem einzigen gesellschaftlichen Ereignis im County teilgenommen, und ihr war vollkommen klar, dass die Leute sich keineswegs um ihre Gesundheit sorgten, zumindest nicht um ihre körperliche Gesundheit. Sie wusste, dass es allen möglichen Klatsch über ihre Zurückgezogenheit gegeben hatte. Darunter sogar Stimmen, die behauptet hatten, sie hätte den Verstand verloren. Lächelnd blickte Katherine Gwendolyn an.
«Danke für die Anteilnahme, Gwendolyn. Aber es geht mir wirklich viel besser.»
Missbilligend verzog Gwendolyn das Gesicht. Nur zu gern würde sie herausfinden, aus welchen Gründen sich die eleganteste Frau der Grafschaft auf ihrer Plantage eingeschlossen hatte und ihr stattlicher Ehemann den größten Teil des Jahres weit weg von seiner Familie im Stadthaus der Parrishs in Richmond lebte. Aber es war offensichtlich, dass Katherine von sich aus nichts preisgeben würde.
Rose Mary Sebastian fühlte sich immer ein wenig unbehaglich in Katherines Gegenwart. Katherines Schönheit, die in den letzten Jahren noch strahlender geworden war, und ihr starkes Selbstbewusstsein hemmten sie. Deshalb wandte sie sich jetzt an Sarah Timberland. «Ich habe deinen Sohn gar nicht gesehen, Sarah?»
«Er wurde nach New Mexico abgeordert. Letzte Woche ist er aufgebrochen», antwortete Sarah und bemühte sich, die Besorgnis zu verbergen, die ihr Herz bedrückte. Rose Mary nickte verständnisvoll. «Paul ist zum Glück in Annapolis auf der Marineakademie geblieben. Er hat diesen Sommer seinen Abschluss gemacht, bleibt aber noch als Unterstützungsoffizier dort», erklärte sie.
«Sarah, ich nehme an, dass auch dein Sohn Offizier ist?», mischte Gwendolyn sich jetzt ein.
«Leutnant.»
«Wie alt ist er noch? Zweiundzwanzig?»
«Im Oktober wird er dreiundzwanzig.»
Man musste nicht besonders feinsinnig sein, um Gwendolyns Interesse an Sarahs Sohn zu verstehen. Als Einzelkind war er mit einem anständigen Vermögen ausgestattet und würde den perfekten Ehemann für ihre Tochter Laura abgeben.
«Du bist sicher stolz auf ihn.»
Seufzend nickte Sarah. Offensichtlich war sie eher um ihren Sohn besorgt, der mitten im Indianergebiet allen möglichen Gefahren ausgesetzt war, ja sogar sterben konnte. Aber Gwendolyn Burton war viel zu sehr mit ihren eigenen Überlegungen beschäftigt.
«Ich hoffe, dass Robert William ebenfalls zum Militär geht», fuhr Gwendolyn fort. «Sein Vater und ich wären sehr stolz auf ihn.»
Nicht in einer Million Jahren konnte Katherine sich diesen apathischen Jungen, der ständig Kuchen futterte und im Leben noch keinen Schritt zu Fuß gegangen war, als Anführer einer Gruppe Soldaten vorstellen, die gerade von einer blutdürstigen Horde Indianer umzingelt wurde.
«Jede Mutter ist stolz auf ihre Kinder, Gwendolyn», warf Katherine jetzt ein. «Ich bin auch stolz auf meine Töchter.»
«Natürlich. Aber unseren Männern sind ihre Söhne besonders wichtig. Sie legen all ihre Hoffnungen in sie. Nun, Katherine, du kannst das sicher nicht nachempfinden, schließlich hast du deinem Mann keinen Sohn geschenkt.»
Es war offensichtlich, dass Gwendolyn Katherine verletzen wollte, doch ohne Erfolg. Fast hätte Katherine ihr erwidert, dass es schrecklich dumm war, sich zu wünschen, dass das eigene Kind in einen Krieg zog, in dem es sein Leben verlieren könnte. Das hatte sie von ihrem Vater gelernt. Aber sie schwieg. Außerdem wollte sie Sarah nicht noch mehr beunruhigen.
Nicht weit entfernt von den Frauen saßen Charlotte und Hortensia mit Rose Marys Tochter Rebecca und Laura Burton an einem Tisch. Zu Gwendolyns tiefstem Bedauern hatte man ihre Tochter zu den drei jungen Mädchen gesetzt. Das Protokoll würde ihr erst einen anderen Platz zuweisen, wenn sie offiziell in die Gesellschaft eingeführt war. Bis dahin wurde Laura als Kind betrachtet, auch wenn ihr Körper und ihr Aussehen das Gegenteil behaupteten.
Hortensia ließ die Beine baumeln, und Charlotte verspeiste gerade ein zweites Stück Torte, als ihr Cousin Orante in Begleitung von Adam Carmody auf die Veranda kam.
«Meine Damen», begrüßte er sie.
Hortensia schenkte ihrem Cousin ein reizendes Lächeln. «Hallo, Orante.»
«Ich habe mich gefragt, ob ihr vielleicht Lust habt, mich zu begleiten.»
Hortensia suchte mit den Augen das Einverständnis ihrer Mutter, die nickte. Schnell schob Charlotte sich den letzten Bissen Torte in den Mund und stand auf. Auch Rebecca bekam die Erlaubnis ihrer Mutter mitzugehen.
Laura Burton hingegen wurde vom siebzehnjährigen Adam Carmody gefragt, ob sie ihm den ersten Tanz schenken würde.
«Katherine, deine Töchter sind so wunderhübsch», schwärmte Gwendolyn hinterhältig und sah wie ein aufgeplusterter Pfau dabei zu, wie ihre eigene Tochter alle Blicke auf sich zog. «In ein paar Jahren werden sie sich vor Verehrern kaum retten können.»
«Ja, es ist zwar unglaublich, dass sie Zwillinge sind, aber sie sind wirklich sehr hübsch», bestätigte Rose Mary, deren eigene Tochter keine große Schönheit war. Erst nachdem Gwendolyn ihr einen scharfen Blick zugeworfen hatte, fügte sie schnell hinzu: «Laura hat sich auch sehr verändert. Sie ist eine sehr attraktive junge Frau geworden.»
«Danke», lächelte Gwendolyn. «Sie war immer ein hübsches Mädchen, und anscheinend hat es das Schicksal so gewollt, dass eine schöne Frau aus ihr wird. Bald wird sie heiraten können.»
Katherine tat diese unzufriedene Frau leid, die es nicht erwarten konnte, ihre Tochter auf den Markt zu werfen, und sie in einer für ihr Alter vollkommen unpassenden Weise verkleidete.
«Nun», sagte Katherine, «ich hoffe, sie findet einen Ehemann, der sie verdient.» Katherine war fast überrascht, wie leicht es ihr fiel, so zynisch zu sein.
Gwendolyn heuchelte ein Lächeln. Sie hasste diese Frau. Nie hatte sie verkraftet, dass Katherine sie an Schönheit weit übertraf. Und vor allem konnte sie der hochmütigen Katherine Lacroix nicht verzeihen, dass sie die Gesellschaft einer Sklavin ihrer Freundschaft vorgezogen hatte. Zugegebenermaßen spürte sie jetzt, dass sie für die erlittene Demütigung entschädigt wurde, als sie sah, wie sehr Laura bewundert wurde, während die Parrish-Zwillinge von ihrem Cousin gerettet werden mussten.
«Auch du musst dir keine Sorgen machen, Katherine. Deine Töchter werden gewiss nicht das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Cousine.»
Katherine runzelte die Stirn. «Sprichst du etwa von Silvia?»
Lächelnd ließ Gwendolyn Burton noch ein Stück Zucker in ihre Tasse fallen. «Von wem sonst?»
Plötzlich war die Luft zum Schneiden dick. Selbst Humberta Doran und Angelica Leberman am Nachbartisch hatten ihre Ohren gespitzt, um sich kein Wort entgehen zu lassen. Gwendolyn Burton hatte sich auf ein gefährliches Terrain begeben.
«Mein Gott, Katherine! Ich weiß ja, sie ist deine Nichte, aber du musst zugeben, dass sie nicht gerade eine Schönheit ist.»
«Vielleicht nicht in deinen Augen, Gwendolyn. Aber sie ist gutherzig, sanft, intelligent, liebevoll, gebildet, fein, und in ihrem Herzen haben Neid und böse Gedanken keinen Platz. Und das macht sie wunderschön.»
«Ich verstehe schon, ein Tugendlamm.»
Eine Sekunde lang dachte Katherine daran, ihren Tee über Gwendolyn auszuschütten, aber sie biss sich auf die Lippen und beschwor sich, die Kontrolle zu bewahren.
«Ich finde, sie ist eine schöne junge Frau», bestätigte Rose Mary. «Ich schätze sie sehr, und sie ist wirklich tugendhaft.»
«Und wie sollte sie auch nicht tugendhaft sein, Rose Mary!», rief Gwendolyn aus. «Mit den wenigen Vorzügen, die der Herr ihr gegeben hat. Nun, wenn man daran denkt, wie reizlos deine eigene Tochter ist, musst du natürlich Partei für Silvia ergreifen.»
Rose Marys Wangen liefen rot an, und gedemütigt senkte sie den Blick.
In Katherines Adern kochte das Blut. Wenn diese dumme Frau noch ein Wort über ihre Nichte oder ein anderes wehrloses Mädchen verlor, würde sie ihr die Augen auskratzen.
Gwendolyn Burton machte keine Anstalten, ihren Mund zu halten. «Man muss zugeben, dass sie Glück hatte. Einen Landbesitzer aus der Gegend hätte sie ja nicht bekommen. Dafür ist ihre Mitgift viel zu armselig. Aber für einen Händlersohn aus Norfolk … Man hört, dass der junge Mann aufsteigen wollte.»
Schon bereute Katherine, auf diese Hochzeit gekommen zu sein. Die Vorstellung, jemand hätte ihre Nichte nur ihrer Aussteuer wegen geheiratet, machte sie wahnsinnig.
«Dann werden sie ja sicher glücklich werden», warf sie schnippisch ein. «Schließlich habe ich gehört, dass dein Mann auch nicht mehr besaß als die Kleider, die er am Leib trug, als er dich geheiratet hat, und wie du selbst so gern betonst, ist eure Ehe doch so glücklich.»
Sarah und Rose Mary tauchten die Nasen tief in die Teetassen, um ihr Lachen zu verbergen.
«Du irrst dich, Katherine», verteidigte sich Gwendolyn, bemüht, ihre Fassung zu wahren. «Mein Mann stammt aus einer der besten Familien in Georgia.»
«Gewiss. Die Burtons. Aus Savannah, nicht wahr? Habe ich schon einmal erwähnt, dass dein Schwiegervater Mathias Burton zu verschiedenen Anlässen bei meiner Familie in New Orleans zu Gast war? Soweit ich weiß, hat mein Vater auch das eine oder andere Geschäft mit ihm gemacht.»
Kaum fiel der Name ihres Schwiegervaters, begann die hochnäsige Gwendolyn nervös auf ihrem Stuhl herumzurutschen.
«Wie auch immer, jedenfalls musst du dir keine Sorgen machen. Deine Mädchen werden zu Schönheiten heranwachsen, und es wird ihnen auch an der Mitgift nicht fehlen. Sie werden also einen Ehemann bekommen, der ihrer gesellschaftlichen Position entspricht. Da kannst du ganz beruhigt sein.»
«Das bin ich auch. Aber weil ich davon überzeugt bin, dass unabhängige Frauen aus ihnen werden, die allein zurechtkommen und die für das geschätzt werden, was sie sind, nicht für das, was sie besitzen.»
«Mein Gott, Katherine! Du hörst dich an wie diese Frauen aus dem Norden, die glauben, dass Männer und Frauen gleich sind», warf jetzt Humberta Doran ein, die zusammen mit Angelica Leberman beschlossen hatte, ihren Stuhl herumzudrehen und an der lebhaften Diskussion am Nachbartisch teilzunehmen.
«Nun, Humberta, so denke ich auch, da kannst du dir sicher sein. Und wenn meine Töchter eines Tages heiraten, hoffe ich, dass sie dann nicht noch halbe Kinder sind. Was mich betrifft, können sie gern einen ruinierten Dichter oder einen armen Eisenbahnbauer heiraten. Ich möchte nur, dass sie glücklich sind.»
Entsetzt zog Humberta Doran ihre Augenbrauen in die Höhe. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie ernsthaft überlegte, dem Klatsch über Katherines geistigen Zustand Glauben zu schenken.
Als Katherine weitersprach, blickte sie Gwendolyn direkt ins Gesicht. «Und wie du gerade sehr treffend bemerkt hast, Gwendolyn, haben meine Töchter glücklicherweise genügend Geld und können tun und lassen, was sie wollen.»
«Aber wenn deine Familie nun durch einen Unglücksfall – Gott möge so etwas verhüten – ihr Geld verliert? Wäre es dir dann immer noch egal, wenn sie einen armen Mann heirateten?», fragte Sarah Timberland.
«In diesem Fall sprächen noch mehr Gründe dafür», gab Katherine zurück.
«Aber Katherine! Wie kannst du deine Töchter in die Armut treiben?», beharrte Sarah verständnislos.
«Dann würden zumindest beide mit gleichen Voraussetzungen in die Ehe treten.»
«Ja, mit leeren Händen», bemerkte Gwendolyn mit scharfer Zunge.
«Nicht mit leeren Händen. Mit einem gemeinsamen Projekt. Und mit der absoluten Gewissheit, dass sie nicht des Geldes wegen geheiratet wurden. Außerdem sind meine Töchter nicht dumm. Sie könnten arbeiten.»
Das nun kam in den Ohren der Damen einer Gotteslästerung sehr nah.
«Arbeiten!», wiederholte Gwendolyn entsetzt. «Du bist verrückt geworden! Eine Frau unserer Stellung arbeitet nicht. Das ist etwas für Sklaven und Einwanderer.»
«Ich werde dafür beten, dass deine Töchter das Erwachsenenalter mit ihrer vollen Mitgift erreichen, damit es nicht so weit kommen muss», bekräftigte Humberta.
Aber Katherine gab nicht so schnell nach. «Warum sollte eine Frau nicht arbeiten gehen?»
«Es wäre sehr unpassend», sagte Humberta Doran.
«Brenda Georgensen hat eine Arbeit als Gouvernante gesucht, und ihre Schwester Diana hat im Laden der MacEwans angefangen, als ihre Eltern starben und sie die Plantage aufgeben mussten. Ich habe sie immer für anständige und rechtschaffene Mädchen gehalten», bemerkte Rose Mary.
Auch Sarah Timberland kannte die Georgensen-Schwestern. «Rose Mary hat recht», pflichtete sie ihr nun bei.
«Willst du damit sagen, dass es dir egal ist, wenn aus deinen Töchtern einfache Angestellte würden?» Gwendolyn war keineswegs bereit einzulenken. Wahrscheinlich hätte sie Katherine sogar widersprochen, wenn diese gesagt hätte, dass die Sonne rund sei.
«Wenn sie dabei glücklich sind. Aber warum sollten sie sich damit zufriedengeben, Angestellte oder Lehrerinnen zu sein? Warum nicht Ärzte oder Anwälte?»
«Mein Gott, Katherine!», rief Humberta jetzt sichtlich besorgt aus. «Frauen können keine Ärzte werden.»
«Und was hindert sie daran?»
«Das ist doch klar. Unser Kopf ist nicht dazu fähig, die Wissenschaft geistig zu verarbeiten», erklärte Gwendolyn sehr bestimmt.
«Ich teile deine Meinung nicht, und es macht mich traurig zu hören, dass wir selbst unsere Leistungen so einschränken. Ich würde es begrüßen, wenn meine Töchter wegen ihrer Fähigkeiten begehrt werden, nicht wegen ihrer Schönheit. Es ist doch schrecklich, dass ein tüchtiges und intelligentes Mädchen dazu verurteilt sein soll, einen mittelmäßigen Ehemann zu ertragen, nur weil sie für ihn schön und reich genug ist. Ich habe es satt, dass wir unsere Töchter verkaufen.»
Humberta Doran war sichtlich schockiert. Wenn sie nicht solche Angst gehabt hätte, etwas zu verpassen, wäre sie wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. Aber Sarah und Rose Mary hingen wie hypnotisiert an Katherines Lippen. Es war nicht leicht, sich der Faszination zu entziehen, die von dieser Frau ausging. Das Vertrauen in ihre Prinzipien. Die Leidenschaft in ihrer Stimme. Jede Geste, jede Bewegung, jeder Blick aus ihren durchdringenden, honigfarbenen Augen verlieh ihr eine unbezähmbare Macht.
Besonders Rose Mary wünschte sich voller Sehnsucht, dass sie eine Mutter wie Katherine gehabt hätte. Wie anders wäre ihr Leben verlaufen, wenn man ihr als junges Mädchen gesagt hätte, dass sie schön wäre. Dass das Schicksal mehr für sie bereithielte, als den ersten und einzigen Mann zu akzeptieren, der um ihre Hand anhielt, obwohl er nie auch nur die geringste Zuneigung für sie verspürt hatte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, sich hübsch und geliebt, ja besonders zu fühlen! Vielleicht hätte sie ihrem Mann, ihren Eltern und der Welt dann etwas entgegensetzen und sogar glücklich sein können. Wenn sie auch nur ein Mindestmaß dieser Sicherheit an ihre Tochter weitergeben könnte, wie anders könnte Rebeccas Leben aussehen!
Gwendolyn runzelte die Stirn. Es kam ihr so vor, als hätte Katherine Parrish alle mit ihrer Verrücktheit angesteckt. Diese Frau war gefährlich. Aber Gwendolyn würde sich nicht beeindrucken lassen.
«Sag, Katherine … Wenn Frauen zu diesen Dingen fähig sind, warum gab es noch nie eine Frau in der Geschichte, die Arzt oder Mathematiker war?» Bevor Katherine antworten konnte, ergriff nun die alte Mrs. Leberman das Wort, eine streng in Schwarz gekleidete Witwe, die vor weniger als einem Jahr ihren Ehemann verloren hatte. «Ganz einfach, Gwendolyn Burton, weil Frauen wie du und Humberta sich vorgenommen haben, dumme und unnütze Wesen aus uns zu machen.» Sie wandte sich an Katherine. «Ich bin deiner Meinung, Katherine. Eine Frau muss für sich selbst einstehen können, und wenn die Mütter sich darum bemühen würden, ihren Töchtern Mut zu machen und sie davon zu überzeugen, dass sie genauso viel wert sind wie ihre Brüder, dann lägen die Dinge ganz anders.»
***
Bald wäre es sechs Uhr und der Tanz würde beginnen. Die Musiker stimmten bereits ihre Instrumente.
Orante lief neben Hortensia durch den Garten. Seit er seine Cousinen das letzte Mal gesehen hatte, war ein Jahr vergangen, und Hortensia war ein gutes Stück gewachsen. Fast war sie so groß wie er. Wenn er die beiden betrachtete, musste er feststellen, wie wenig ähnlich sie sich waren. Die große und blonde Hortensia war extrem schüchtern, aber sanft und elegant, während die dunkelhaarige Charlotte, die für ihr Alter eher klein war, temperamentvoll auftrat. Ihre schönen grünen Augen funkelten rebellisch. Ständig fragte er sich, wie zwei so unterschiedliche Menschen Schwestern sein konnten, sogar Zwillinge. Und noch weniger verstand er, dass Hortensia und Charlotte so sehr aneinander hingen.
Nur ein paar Schritte neben Charlotte ging schweigend Rebecca, immer darauf bedacht, nicht über einen der hübschen Steinwälle zu stolpern, die die Blumenbeete umgaben. Laura Burton und Adam Carmody waren ein wenig zurückgefallen und bildeten das Schlusslicht des kleinen Zugs.
Als sie an dem Platz ankamen, wo der Tanz stattfinden sollte, näherte Orante sich einer Gruppe junger Leute, die am Rand der unter freiem Himmel aufgebauten und mit Blumenarrangements und bunten Lampions geschmückten Tanzfläche warteten. Richard Reemick und Gilmore Evans unterhielten sich mit Alexandra Done. Innerlich beklagte Orante sein Schicksal. Während seine Freunde sich in Gesellschaft eines gleichaltrigen Mädchens amüsierten, hatte er die schwierige Aufgabe, Tanzpartner für seine Cousinen und Rebecca zu finden. Richard und Gilmore hatten die achtzehn schon überschritten und waren eigentlich zu alt, um sich noch für kleine Mädchen mit Pferdeschwanz und kurzen Kleidern zu interessieren. Bestimmt würde niemand mit ihnen tanzen wollen. Aber er würde es trotzdem versuchen.
«Alexandra, Richard, Gilmore, ihr kennt meine Cousinen ja schon, Hortensia und Charlotte Parrish, und das ist Rebecca Sebastian.»
Orante hatte in den letzten Tagen unaufhörlich an Alexandra Done gedacht, und seine Freunde wussten das. Ihnen war ebenfalls klar, dass Orante, bevor er die drei jungen Mädchen nicht für mindestens einen Tanz unterbringen konnte, keine Zeit haben würde, um sich der jungen Frau mit den grauen Augen zu widmen, die erstaunlicherweise noch keinen Partner für den ersten Tanz hatte.
«Die Damen», grüßte Richard und zog seinen Hut.
«Sehr erfreut», machte Gilmore Evans es ihm nach.
Die drei Mädchen kicherten nervös. Richard Reemick, der attraktivste junge Mann auf dem ganzen Ball, hatte das Wort an sie gerichtet. Charlotte hatte ihren Vater davon sprechen hören, dass Richard bald auf der Marineakademie studieren würde. In wenigen Wochen würde er nach Annapolis gehen und für die nächsten vier Jahre nicht wiederkommen.
Orante und Richard wechselten einen Blick, und Richard lächelte. Er würde seinen Freund nicht enttäuschen. Als der hochgewachsene junge Mann mit dem hellbraunen, leicht gewellten Haar, den sanften Zügen und dem tiefen Blick Charlotte um den ersten Tanz bat, lächelte sie verzückt. Fast gleichzeitig fragte Gilmore Evans Rebecca, die ihr Glück kaum fassen konnte.
Dankbar nickte Orante seinen Freunden zu. Fehlte nur noch Hortensia, aber das wäre einfach. Sie war sehr hübsch, und durch ihre Körpergröße wirkte sie etwas älter. Ganz in ihrer Nähe standen Edgar Carmody und William Burton, Lauras Bruder, und tranken Limonade. Edgar hatte einen Weg gefunden, dem Getränk einen großzügigen Schluck Whisky beizumischen.
Im Unterschied zu William war Edgar ein gutaussehender junger Mann, genau wie alle seine Brüder. Orante war davon überzeugt, dass seine Cousine gern mit ihm tanzen würde. Außerdem war er nur ein Jahr älter als Hortensia, und so dürfte auch er kein Problem damit haben. Ohne es zu ahnen, war Edgar Orantes nächstes Opfer geworden.
«Edgar», begrüßte er ihn.
Der junge Carmody antwortete nicht. Er war zu sehr darauf konzentriert, die offen zur Schau gestellten Reize von Laura zu betrachten, die gerade allein dastand, weil ihr Begleiter, Edgars Bruder Adam, der jungen Dame eine Limonade holte.
«Edgar, würdest du mit meiner Cousine Hortensia tanzen?», nahm Orante ihn flüsternd beiseite. Der jüngste der Carmody-Brüder sah Hortensia aus den Augenwinkeln an.
Hortensia lächelte. Obwohl sie nicht hören konnte, was gesagt wurde, hatte sie doch bemerkt, dass ihr Cousin und Edgar über sie sprachen.
«Bist du wahnsinnig geworden? Sie ist noch ein Kind», sagte Edgar laut und versuchte, übertrieben gestikulierend Lauras Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der schien Edgars ungezogenes Verhalten zu gefallen.
«Edgar, sprich leiser! Bitte, es ist nur für einen Tanz», flüsterte Orante.
«Ich werde bestimmt nicht mit ihr tanzen», weigerte Edgar sich erneut, wobei er Hortensia direkt ansah und sich vergewisserte, dass sie ihn hören konnte. «Außerdem weiß jeder, dass ihre Mutter ein Negerliebchen ist.»
Diese verletzenden Worte wurden mit solch einer Verachtung ausgespuckt, dass alle, die sie vernahmen, erschrocken verstummten. Hortensias Wangen brannten feuerrot, und sie musste sich sichtlich zusammennehmen, damit ihr keine Tränen in die Augen traten. Charlotte, die in ihrer Nähe stand, hielt wütend den Atem an. Wie konnte dieser arrogante Edgar Carmody es wagen, Hortensia und ihre ganze Familie vor aller Welt zu demütigen.
Es war Orante bewusst, dass er, als nächster männlicher Verwandter, etwas unternehmen musste. Gerade hatte Edgar seine Tante mit der schlimmsten Beschimpfung bedacht, die es für eine Frau in den Südstaaten gab. Aber er war wie gelähmt und wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Da kam ihm sein Freund Richard zu Hilfe. «Edgar, sofort wirst du dich entschuldigen.»
Aber Edgar machte keine Anstalten, klein beizugeben, und schwieg verbissen. Aus irgendwelchen Gründen hatte sein unentschuldbares Verhalten ihm offensichtlich Lauras Bewunderung eingebracht, und er war nicht bereit, diese so schnell wieder aufzugeben.
Richard wiederholte seine Worte. «Ich verlange, dass du dich entschuldigst!», sagte er in einem drohenden Tonfall und trat einen Schritt vor.
Erst jetzt schien Edgar zu begreifen, dass die Situation ernst war. Sein Bruder Adam war leichenblass geworden.
Im Hintergrund kündigten Geigenklänge den beginnenden Tanz an. Nur ein paar Meter weiter bildeten die Gäste anmutig einen Kreis um die Jungverheirateten und begleiteten die Melodie mit Händeklatschen, um das junge Paar dazu zu ermuntern, die ersten Schritte in ihrem gemeinsamen Leben zu tun. Silvia und Jonathan Perelman schienen über die Tanzfläche zu schweben, weit weg von den anderen Paaren, die nach und nach den Kreis verließen und sich den Tanzenden anschlossen.
Trotzdem bemerkten auch einige andere Gäste bald die jungen Leute, die wie erstarrt neben der Tanzfläche standen.
Langsam wurde Edgar bewusst, dass sein Verhalten sich besser nicht herumsprechen sollte. Wenn sein Vater erführe, dass er die Frau und die Tochter eines der mächtigsten Männer von Virginia beleidigt hatte, würde er ihn umbringen. Und die Angst vor dem Zorn seines Vaters war stärker als sein jugendliches Ego. «Mach schon, Edgar …» Sein Bruder Adam ermahnte ihn mit einem diskreten Schubser.
«Hortensia, ich bitte dich um Verzeihung», brachte er schließlich widerstrebend heraus.
Hortensia nickte stumm. Am liebsten wäre sie vom Erdboden verschluckt worden. Sie fühlte sich nicht in der Lage, jemandem in die Augen zu sehen, so sehr schämte sie sich. Zum Glück hatte niemand auf dem Ball bemerkt, was passiert war. Das hätte sie nicht ertragen.
Die Anspannung legte sich etwas, und bald konnte man fast den Eindruck gewinnen, als ob nichts geschehen wäre. Aber es war geschehen, und Hortensia war der lebende Beweis dafür. Charlotte hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Zwar hatte Hortensia ihr beruhigend zugelächelt, aber ihre sanften Augen bewegten sich nervös hin und her und versuchten, den mitleidigen Blicken auszuweichen. Sie litt, und Charlotte konnte nicht ertragen, dass derjenige, der Schuld daran hatte, einfach so davonkommen sollte.
«Und trotzdem bleibt sie ein Negerliebchen», bekräftigte Edgar jetzt noch einmal im Flüsterton für sich, leise genug, damit es Richard, Orante, Gilmore und seinem Bruder Adam entging, die in einer gewissen Entfernung beieinanderstanden, aber doch so laut, dass Laura und William es deutlich hören konnten.
Vielleicht bemerkte er gar nicht, dass noch jemand seine Worte hörte, allerdings wirkte es beinahe so, als hätte er sie mit Absicht wiederholt, um Hortensia erneut zu verletzen. Aber der junge Carmody hatte nicht mit Charlotte gerechnet.
Plötzlich stürzte sich jemand auf ihn, und Sekunden später lag er am Boden. Dieses vierzehnjährige Mädchen, das ihm nicht einmal bis zu den Schultern reichte, hatte ihn umgeworfen. Er konnte nicht glauben, was ihm geschah. Wie eine wilde Bestie schlug Charlotte auf ihn ein und zog ihn an den Haaren, als hätte sie auf einmal den Verstand verloren. Eine so kleine Person konnte unmöglich so viel Kraft entwickeln. Und Edgar konnte nichts tun. Hätte er zurückgeschlagen, wäre sein Ruf für den Rest seines Lebens ruiniert. Er versuchte also, sie abzuschütteln, was ihm jedoch nicht so schnell gelang. Und noch bevor er sich von ihr befreien konnte, war die Musik verstummt.
Jetzt versuchten Richard und Orante, Charlotte von Edgar zu trennen, konnten sie aber kaum halten.
«Charlotte Parrish!»
Beim Klang dieser Stimme ließen Richard und Orante schlagartig von dem Mädchen ab. Charlotte erstarrte, als hätte man sie wie einen Pfosten in die Erde gerammt. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass ihr Vater hinter ihr stand. Edgar nutzte die Gelegenheit, um sich rasch aus dem Staub zu machen, hatte aber das Pech, direkt in seinen Vater zu laufen, der ihn sofort am Kragen packte.
David wandte den Blick nicht von seiner Tochter. «Hast du den Verstand verloren?»
Charlotte brachte keinen Ton heraus.
Jetzt war auch Quentin herangekommen und zerrte seinen Sohn beiseite. «Was zum Teufel ist passiert, Orante?», schalt ihn sein Vater mit beherrscht leiser Stimme. «Habe ich dir nicht gesagt, dass du auf deine Cousinen aufpassen sollst?»
«Es tut mir leid, Vater», antwortete Orante beschämt. «Ich hätte niemals erwartet, dass Charlotte auf Edgar losgeht.»
«Aber was ist denn passiert?», hakte Quentin nach. Vorsichtig sah er sich um und vergewisserte sich, dass sonst niemand sie hören konnte. Dann blickte er seinem Sohn direkt in die Augen.
«Edgar hat Tante Katherine Negerliebchen genannt.»
Sofort hielt Quentin seinem Sohn so heftig den Mund zu, dass dieser befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Quentin, sah sich um. David stand zwar in der Nähe, hatte aber genug damit zu tun, mit seiner Tochter zu schimpfen. Er konnte nicht gehört haben, was Orante gerade gesagt hatte.
«Um nichts in der Welt wirst du dieses Wort wiederholen», befahl Quentin so leise er irgend konnte.
Orante nickte. Er war alt genug, um die Folgen einer solchen Anschuldigung einschätzen zu können. Dicke Tropfen kalten Schweißes liefen Quentin den Rücken hinunter. Wenn seine Nichte etwas verlauten lassen würde, könnte sich die Hochzeit seiner Tochter in eine Tragödie verwandeln.
Inzwischen hatte Katherine sich neben Charlotte auf den Boden gekniet und versuchte ohne großen Erfolg, ihr Kleid wieder etwas herzurichten. Unter dem Dreck und den Knitterfalten konnte man kaum noch die mit Seidenfäden gestickten blauen Blümchen erkennen, die den weiten Faltenwurf des Leinenrockes schmückten. Katherine griff nach der Haarschleife, die Charlotte im Eifer des Gefechts verloren hatte, strich sie ein wenig glatt und band ihrer Tochter einen neuen Zopf.
«Was ist bitte in dich gefahren, Charlotte?»
«Nichts», sagte sie und vermied es, ihre Mutter anzusehen.
Nicht weit davon entfernt hielt Edmond Carmody seinen Sohn noch immer am Kragen gepackt. «Bist du wahnsinnig geworden?», schalt er den Jungen leise. «Was fällt dir ein, dich in der Öffentlichkeit mit einem Mädchen zu prügeln? Mit David Parrishs Tochter! Und du, Adam, warum hast du das zugelassen?»
Adam senkte den Kopf.
«Vater, ich schwöre, dass ich nichts dafür kann», verteidigte sich Edgar. «Wie ein wildes Tier hat sie sich auf mich gestürzt. Sie ist verrückt!»
Edmond zerrte noch etwas kräftiger an der Halsbinde seines Sohnes und ermahnte ihn, die Stimme zu senken.
Als Katherine bemerkte, dass auch Edgar schmutzig und derangiert aussah und vergeblich versuchte, sich vor seinem Vater in Sicherheit zu bringen, lächelte sie insgeheim. Wenigstens hatte der junge Mann genauso viele Federn lassen müssen wie ihre Charlotte.
Da Charlotte sich weigerte, etwas zu sagen, wandte Katherine sich Hortensia zu, um nach Antworten zu suchen. Aber Hortensia war vollkommen verschreckt. Angst lähmte jeden Muskel ihres Körpers. Jetzt wurde Katherine ernst. Sie kannte ihre beiden Töchter viel zu gut. Irgendwie musste der junge Carmody Hortensia verletzt haben. Das war etwas, was Charlotte niemals duldete. Jeder, der Hortensia angriff, würde Charlottes Zorn zu spüren bekommen. Und wenn man Edgar so ansah, hatte er seine Lektion hoffentlich gelernt.
Noch immer stand Charlotte vor ihrem Vater. Sie hatte noch nichts gesagt, und ihr Blick war starr auf Edgar geheftet.
«Entschuldige dich», befahl David seiner Tochter.
Charlotte ballte ihre Hände zu Fäusten.
«Hast du mich nicht gehört?»
Charlotte blickte zur Seite. Sie war zum Mittelpunkt des allgemeinen Interesses geworden.
«Zwing mich nicht dazu, das noch einmal zu sagen, Charlotte!»
Das Mädchen sah seinen Vater an, der dicht vor ihm stand und sich zu ihm heruntergebeugt hatte. Seine blauen Augen blickten sie hart an. So hatte er sie noch nie angesehen, und sie spürte einen Stich in der Brust. Am liebsten wollte sie erzählen, was passiert war, aber niemand sollte erfahren, was der gemeine Edgar Carmody über ihre Mutter gesagt hatte.
«Entschuldige dich jetzt sofort», drängte David erneut.
Charlotte zögerte. Alle starrten sie an. Ihr Vater war böse auf sie, und sie konnte seinen kalten Blick kaum ertragen. Gerade wollte sie nachgeben, als sie Hortensia bemerkte, die noch immer ganz blass und erschrocken aussah.
«Niemals», sagte Charlotte und stampfte kräftig auf dem Boden auf.
David kniff die Augen zusammen. Er atmete tief durch und richtete sich auf. «Holt eure Sachen. Wir fahren nach Hause. Quentin, ich bitte dich im Namen meiner Familie um Entschuldigung. Ich weiß nicht, was in Charlotte gefahren ist. Aber ich verspreche dir, dass ich es herausfinde.»
Sein Cousin knetete nervös seine Hände. «Mach dir keine Gedanken, es sind nur Kindereien. Es hat nicht die geringste Bedeutung.»
«Und ob es die hat, Quentin. Es geht nicht, dass eine meiner Töchter sich wie eine Wilde aufführt. Es tut mir leid. Ich bitte dich noch einmal um Entschuldigung, Quentin, und auch dich, Edmond», sagte David und wandte sich Edmond Carmody zu, der seinen Sohn noch immer am Kragen gepackt hielt.
«Beruhige dich doch», antwortete Edmond eilig. «Es sind nur Kinder.»
Aber Edgar war kein Kind mehr. Er war fünfzehn, ein Alter, in dem man nicht mehr mit einem Mädchen raufen durfte, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit.
Quentin konnte sehen, wie Carmody die Hand hinter seinem Rücken zur Faust ballte, auch wenn seine Stimme fest und unbesorgt klang. Edmond ahnte oder wusste, was vorgefallen war, dachte Quentin, und er versuchte, das Ereignis um jeden Preis herunterzuspielen. Edgar für seinen Teil wagte nicht einmal, David überhaupt anzusehen.
Den Großteil der missbilligenden Blicke bekam Charlotte zu spüren, die ihren Kopf gesenkt hielt.
Gwendolyn Burton und ihre Tochter Laura genossen das Spektakel aus der ersten Reihe und gaben sich nicht die geringste Mühe, ihre spöttischen Mienen zu verbergen. Silvia hingegen klammerte sich erschrocken an die Hand des Mannes, mit dem sie nun verheiratet war.
Besonders ein Blick stach deutlich unter den anderen hervor. Doktor Steward beobachtete die Geschehnisse schweigend aus dem Hintergrund. Seine durchdringenden Augen waren auf Charlotte geheftet, kein Fünkchen Mitleid lag in ihnen. Katherine hatte schon am Nachmittag bemerkt, wie der Arzt ihre Töchter beobachtete. Keiner von beiden hatte vergessen. Entschlossen stellte sie sich zwischen ihn und Charlotte. Wie damals, als sie Mollys Tochter vor ihm beschützt hatte, trat sie ihm auch jetzt entgegen.
«Charlotte!» Ohne Doktor Steward aus den Augen zu lassen, rief Katherine ihre Tochter. «Eine Lacroix trägt den Kopf immer oben», sagte sie zu ihr auf Französisch.
Als Katherine Lacroix sich bei diesen Worten selbstsicher und herausfordernd aufrichtete, verstummte das Gemurmel. Das spöttische Lächeln auf einigen Gesichtern war plötzlich wie weggewischt. Unmöglich konnte man der Macht widerstehen, die von dieser Frau ausging. Auch Charlotte fühlte die Kraft ihrer Mutter und reckte stolz das Kinn nach oben.
«Charlotte, Hortensia», Katherine streckte ihren Töchtern die Hände hin. «Wir fahren nach Hause.»
Angesichts der Entschlossenheit dieses vierzehnjährigen Mädchens verspürte Quentin plötzlich Bewunderung für seine Nichte. Sie war stur und tollkühn, zweifellos hatte sie den Mut von ihrem Vater geerbt. Quentin war sich sicher, dass sie kein einziges Wort sagen würde. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit.
«Mach dir keine Sorgen, Kleine», sagte Quentin liebevoll zu seiner Nichte, während die anderen in der Kutsche Platz nahmen.
«Es tut mir sehr leid», entschuldigte Charlotte sich reumütig. «Ich wollte Silvia nicht das Fest verderben.»
Quentin zwinkerte ihr lächelnd zu. «Bestimmt hatte dieser vorlaute Kerl es verdient. Du und Hortensia könnt zu Besuch kommen, wann immer ihr wollt.»
Bei den freundlichen Worten des Onkels nahmen Hortensias Wangen etwas mehr Farbe an. Ihr Onkel hasste sie nicht. Die beiden Schwestern warfen sich einen überraschten Blick zu.
«Danke, Onkel!», antwortete Charlotte für sie beide.
«Katherine, David, bis bald.»
David runzelte die Stirn und verabschiedete sich mit einer Handbewegung von seinem Cousin.
***
Der Rückweg wurde schweigend zurückgelegt. David war verärgert und sprach während der ganzen Fahrt kein einziges Wort, aber er war gleichzeitig auch stolz auf seine Tochter. Niemand konnte die Parrishs ungestraft beleidigen.
Kaum waren sie auf New Fortune angekommen, wurden Charlotte und Hortensia auf ihr Zimmer geschickt. David und Katherine schlossen sich in der Bibliothek ein.
Es dämmerte bereits, und der Raum war in das zarte Licht getaucht, das das Ende des Tages ankündigte.
«Siehst du jetzt, was du mit deiner liberalen Erziehung erreicht hast?», schimpfte David.
«Dann sag mir mal, was ich erreicht habe. Dass meine Töchter sich verteidigen, wenn sie beleidigt werden? Dass sie keinen Mann brauchen, der ihnen zu Hilfe kommt? Dass sie eigenständige Frauen sind?»
«Nein, Katherine. Du hast nur erreicht, dass deine Tochter sich vor der gesamten Gesellschaft Virginias wie eine Wilde aufgeführt hat. Merkst du denn nicht, was um dich herum vorgeht?»
«Vor allem habe ich bemerkt, dass dieser dumme Junge Hortensia verletzt hat.»
«Ich verstehe. Du willst also, dass deine Töchter sich mit allen duellieren, die sie beleidigen?»
«Machen das die Männer etwa nicht auch?»
«Werd jetzt bitte nicht zynisch.»
«Dann stell mir nicht solch alberne Fragen! Du weißt genau, dass ich das nicht will. Ich möchte einfach, dass sie eigene Meinungen und Gedanken haben und auch mal anderer Ansicht sind als ihr Vater, ihr Cousin oder die Leute.»
David war kurz davor, die Fassung zu verlieren.
Eine Frau, auch wenn sie noch so viel Charakter und Temperament hatte, war nur eine Frau und brauchte einen Mann. Selbst Katherine brauchte ihn, auch wenn sie es sich nicht eingestand.
«Du bist das Problem, Katherine. Glaubst du, ich weiß nicht, was die Leute über dich reden? Glaubst du, ich weiß nicht, warum die Kinder aneinandergeraten sind? Ich habe gehört, was Orante Quentin erzählt hat. Du warst der Grund für den Streit, Katherine … Negerliebchen haben sie dich genannt.»
«Das war es also», sagte Katherine ruhig.
«Wenn mir das jeder, der so denkt, ins Gesicht sagen würde, müsste ich mich mit dem halben Staat Virginia schlagen», ereiferte sich David.
«Sollen sie doch reden! Es ist mir egal, was sie von mir denken oder über mich sagen.»
«Mir aber nicht!» David schrie zum ersten Mal. «Und deinen Töchtern auch nicht! Aber du wirst Ausgestoßene aus ihnen machen! Ist dir das denn egal?»
Katherine ließ sich nicht erschüttern. Sie drehte ihm den Rücken zu. Sie konnte nicht ertragen, wenn er sie anschrie.
«Nur zu, beachte mich einfach nicht. Das kannst du am besten.»
«Du hast es nicht anders verdient, David. Wir hätten glücklich werden können. Du könntest noch immer der junge Mann sein, in den ich glaubte, mich verliebt zu haben, aber du hast mich betrogen. Du hast mir sehr wehgetan.»
«Es war ein einziges Mal. Es tut mir leid. Ich bereue es seit jenem Tag. Werde ich denn mein ganzes Leben lang für diesen Fehler bezahlen müssen? Haben wir uns nicht genug bestraft? Ich liebe dich noch immer, Katherine. Ich will bei dir sein.»
David streckte seine Hand nach Katherine aus.
Katherine spürte, wie die Mauer um sie herum zu bröckeln begann. David war noch immer ein attraktiver Mann. Und vorher hatte er sich nie entschuldigt. Wenn sie ihm verzieh, könnte alles so sein wie vorher. Sie wäre nicht mehr allein.
«Ich …», sie zögerte. Es war, als würde sie in ihm den Menschen wiedererkennen, in den sie sich damals verliebt hatte. Er war immer dort gewesen.
«Du hast dich so verändert …»
«Vielleicht bist du diejenige, die sich verändert hat. Vergiss nicht, dass du so warst wie ich.»
«Ja, das war ich. Und du wirst nie verstehen, wie sehr ich mich dafür schäme», sagte sie, und bevor er sie berühren und ihre Wut unter der Wärme der Liebkosung verrauchen konnte, zog sie schnell ihre Hand zurück.
«Wirst du mir denn niemals verzeihen?»
«Ich kann es nicht, David. Dein Verrat hat mein Herz kalt gemacht.» Eilig verließ Katherine die Bibliothek.
David ging ihr nicht nach.
Am Tag darauf brach er beim ersten Licht der Morgendämmerung nach Richmond auf. Dort wenigstens konnte ihm das Gefühl von Trauer und Ohnmacht nichts anhaben, das er in Katherines Nähe verspürte, mit ihrem perfekt unter einem Mantel von Gleichgültigkeit versteckten Hass.
***
Latoya war mit einem Tablett mit Pfirsichkonfitüre, Toast und dünn geschnittenem Käse ins Zimmer der Mädchen hinaufgegangen. Aber Hortensia hatte keinen Appetit, und selbst Charlotte, die nichts mehr zu sich genommen hatte, seit sie das Tortenstück am Nachmittag hinuntergeschlungen hatte, rührte nichts an. Als Hortensia sich die Schlafhaube aufsetzte, drehte sie sich zu ihrer Schwester um, die schon unter die Decke geschlüpft war und deren verlorener Blick auf dem Schatten der Zypresse ruhte, der sich auf dem Fenster abzeichnete.
«Geht es dir gut?»
Charlotte antwortete nicht. Sie war mit den Gedanken weit weg.
«Als ich gesehen habe, wie du auf Edgar losgegangen bist, hatte ich schon Angst, er würde dich schlagen. Ich bin furchtbar erschrocken», sprach Hortensia weiter.
«Niemand beleidigt meine Familie!»
«Was wollte Edgar wohl damit sagen?»
«Vergiss ihn einfach. Edgar war schon immer ein Idiot. Er weiß nicht, was er sagt.»
«Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als du dich auf ihn gestürzt hast.»
Als Charlotte sich an Edgars ungläubigen Gesichtsausdruck erinnerte, musste sie grinsen. «Hortensia, hast du gesehen, wie sein Vater ihn am Kragen festhielt?»
Die Schwester nickte.
«Er sah aus wie ein begossener Pudel. Im Leben habe ich noch nie jemanden gesehen, der so lächerlich aussah.»
Die beiden Mädchen lachten.
«Charlotte?»
«Ja?»
«Du warst großartig.»
Charlotte schwieg einen Moment lang. Sie wollte den jüngsten Spross der Carmodys so schnell wie möglich aus ihren Gedanken verbannen. In ihrem Kopf war nur noch Raum für einen anderen Menschen.
«Hast du gesehen, wie Richard diesen Idioten gezwungen hat, sich zu entschuldigen?»
«Das stimmt. Das war sehr aufmerksam.»
«Er sieht so gut aus …», seufzte Charlotte.
Die beiden Schwestern hingen ihren Gedanken nach.
«Weißt du was, Hortensia?»
«Was?»
«Eines Tages werde ich Richard Reemick heiraten.»
Zwei Mal noch hatte Charlotte die Gelegenheit, Richard zu sehen, bevor er nach Annapolis aufbrach, wo er die nächsten vier Jahre verbringen würde. Zwar sprach er nicht mit ihr, aber Charlotte sah, wie er sie immer wieder anlächelte.