· 18 ·
Nach Richards Urlaub bemerkte Scott eine kaum wahrnehmbare Veränderung an seinem Freund. Er war gesprächiger. Ständig lächelte er und erlaubte sich sogar manchmal einen Scherz. Zwar machte Richard selbst keine Andeutung in dieser Richtung, aber das war auch nicht nötig. Jeder Idiot hätte gemerkt, dass Richard Reemick sich verliebt hatte.
Es war Samstagnachmittag, und die meisten Studenten des letzten Studienjahrs waren in die Stadt gefahren. Richard hatte darauf verzichtet, sie zu begleiten, und schrieb einen Brief, während Scott, den niemand gebeten hatte mitzukommen, die Zeit für einen ausgedehnten Mittagsschlaf nutzte.
Gerade las Richard noch einmal durch, was er geschrieben hatte, als ein junger Kadett seinen Kopf zur Tür hineinstreckte.
«Richard Reemick?»
«Ja?»
«Du hast Besuch.»
«Ich?»
Der junge Mann nickte. «Er wartet unten.»
Nachdem Richard sich vergewissert hatte, dass die Tinte trocken war, legte er das Geschriebene unter einen Buchdeckel.
«Erwartest du jemanden?», fragte Scott aus seiner Ecke.
«Nein», antwortete Richard, während er seine Uniformjacke zuknöpfte.
«Du weißt nicht vielleicht seinen Namen?», fragte er den Kadetten.
«Ein Steward. Doktor Steward.»
Als Richard den Namen seines Onkels vernahm, beeilte er sich, aus dem Zimmer zu kommen.
Sobald Richard gegangen war, stand Scott auf und warf einen neugierigen Blick auf die Bücher, die auf dem Tisch seines Freundes gestapelt waren. In aller Ruhe klappte er den Deckel des obersten Buches auf und nahm das Blatt heraus, das Richard gerade versteckt hatte.
***
Doktor Steward ging im Treppenhaus auf und ab, als Richard ihm aufgeregt entgegenkam.
«Onkel! Ist etwas mit meinem Vater?»
«Deinem Vater geht es ausgezeichnet.»
«Verzeihen Sie bitte», entschuldigte Richard sich für seine kurzangebundene Begrüßung, «aber als ich erfahren habe, dass Sie gekommen sind, habe ich gedacht, dass …»
«Dein Vater erholt sich gut, wie ich dir schon zu Hause gesagt habe. Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber ich muss dringend mit dir sprechen. Können wir vielleicht irgendwohin gehen, wo es etwas ruhiger ist?», sagte Steward und blickte auf die Studenten, die zahlreich ein- und ausgingen.
«Wir können zum Schießplatz gehen. Dort wird uns niemand stören.»
Obwohl ihn die Neugierde plagte, ging Richard schweigend neben seinem Onkel her und versuchte, den Grund zu erraten, der ihn zu ihm geführt hatte.
Sie kamen an einigen Kanonen vorbei, die an der gesamten Küste aufgestellt waren, gingen um den Geschützturm herum, der am Ufer der Bucht stand, und liefen weiter am Severn River entlang.
Als sie das bebaute Gelände der Akademie hinter sich gelassen hatten, setzte Doktor Steward sich auf eine Bank am Uferweg und forderte seinen Neffen auf, neben ihm Platz zu nehmen.
Er schien müde zu sein. Einen Moment lang betrachtete er das Wasser, das unaufhörlich in Richtung Meer floss, und rieb sich die Hände. Eigentlich war sein Onkel immer sehr direkt gewesen, aber jetzt fiel es ihm offensichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden.
«Dein Vater hat mir erzählt, dass du ihn um Erlaubnis gebeten hast, Charlotte Parrish den Hof zu machen.»
«Ich verstehe nicht …»
«Es stimmt also?»
«Ja, Onkel. Gerade heute habe ich die Erlaubnis meines Vaters erhalten.»
Doktor Steward wurde blass. Dann packte er Richard am Arm. «Du hast doch wohl hoffentlich mit niemandem darüber gesprochen?»
«Aber natürlich nicht!»
«Bist du sicher? Vielleicht irgendein Freund?», hakte Steward nach.
«Ich sage doch, dass ich das nicht getan habe. Sie wissen, dass das nicht korrekt wäre, bevor Charlottes Vater nicht sein Einverständnis gibt.» Die Beharrlichkeit seines Onkels irritierte ihn. Zweifelte sein Onkel etwa daran, dass er ein Ehrenmann war?
«Gerade eben habe ich Mr. Parrish einen Brief geschrieben, in dem ich ihm meine Absichten mitteile.»
Entsetzt sah sein Onkel ihn an. «Hast du ihn etwa abgeschickt?»
Langsam wurden Richard die vielen Fragen lästig. «Noch nicht. Das wollte ich heute Abend tun.»
«Gott sei Dank. Dann bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen.»
«Ich verstehe nicht.»
«Es tut mir leid, Richard, aber du kannst diesen Brief nicht abschicken.»
«Aber …»
«Vertrau mir. Sie ist keine Frau für dich. Für keinen Gentleman.»
Verärgert stand Richard auf.
«Was wollen Sie damit andeuten?»
«Sie ist nicht die Frau, für die du sie hältst.»
Richard wurde ungeduldig. Sein Onkel war Arzt. Vielleicht wusste er über irgendeinen Fehltritt Bescheid, den Charlotte begangen hatte. Irgendein Geheimnis, von dem Richard lieber gar nichts wissen wollte. «Denken Sie, ich lasse es zu, dass Sie ohne jeden Beweis solche Andeutungen machen? Dass Sie ihrem Ruf schaden?», warnte Richard seinen Onkel. «Passen Sie auf, was Sie sagen, oder ich werde vergessen, dass ich Ihnen Respekt schulde.»
«Du kannst sie nicht heiraten.»
«Aber warum nicht?»
Wenn Steward bis jetzt geschwiegen hatte, dann keinesfalls um Charlotte zu schützen, sondern weil er sich in gewisser Weise David verpflichtet fühlte. Aber jetzt hatte sich die Situation verändert. Sein Neffe konnte unmöglich die Tochter dieser Sklavin heiraten.
«Warum?», fragte Richard erneut. Langsam verlor er die Geduld.
«Weil sie eine Schwarze ist.»
Richard wich zurück. «Um Himmels willen! Haben Sie den Verstand verloren?»
«Hör mir zu», bat Steward seinen Neffen und lief hinter ihm her. «Ich war dort, als sie geboren wurde. In jener Nacht hat nicht nur Mrs. Parrish ihr Kind zur Welt gebracht, sondern auch ihre Sklavin, eine Frau mit sehr heller Haut. Die Sklavin starb. Und als Mrs. Parrish Stunden später ihre eigene Tochter bekam, ließ sie alle in dem Glauben, sie hätte Zwillinge zur Welt gebracht.»
«Das ist nicht wahr!», rief Richard, blieb aber stehen.
«Diese Sklavin hatte grüne Augen, Richard.»
«Sie lügen!»
«Warum sollte ich lügen? Welche Gründe könnte ich haben zu verhindern, dass du die Tochter eines meiner besten Freunde heiratest? Denk nach, Richard. Du weißt, dass das die Wahrheit ist.»
Richard ging zurück und ließ sich auf die Bank fallen. Verzweifelt bedeckte er sein Gesicht mit den Händen. «Nein! Charlotte hätte es mir gesagt.»
«Sie weiß es doch gar nicht! Sie hat nicht den geringsten Verdacht, dass ihre Mutter eine Sklavin war. Ach, es gehört sich einfach nicht. Immer wenn ich sie unter uns sehe, wenn sie sich aufführt wie eine Dame … dabei ist sie nichts als eine Wilde!»
«Das reicht jetzt!»
«Muss ich dich etwa daran erinnern, wie sie sich auf den jungen Carmody gestürzt hat?»
«Sie war noch ein Kind», versuchte Richard, sie zu verteidigen. «Und dieser Idiot hatte ihre Mutter beleidigt.»
«Denk darüber nach, Richard. Welche andere Frau hätte sich so verhalten?»
Richard musste in Ruhe nachdenken. Er wollte jetzt nichts mehr hören. Konnte Charlotte wirklich eine Sklavin sein?
«Weder Katherine noch David Parrish hat grüne Augen.» Und Richard erinnerte sich perfekt an jede Nuance jener grünen Augen. Und er liebte sie … «Wer weiß noch davon?»
«David, der Aufseher und die Sklaven, die bei der Geburt geholfen haben. Aber ich glaube, dass sie fast alle gestorben sind.»
«Sklaven?»
«Die Sklaven werden nichts sagen. David hat sie bedroht.»
«Dann weiß es also sonst niemand?»
«So ist es.»
Richard ballte seine Hand zur Faust und presste sie sich gegen die Lippen. «Niemand?»
«Nein.»
Er ließ die Hand sinken und blickte seinen Onkel an. «Dann gibt es kein Problem. Ich kann sie trotzdem heiraten.»
«Das kannst du nicht ernst meinen! Trotz all dem, was ich dir gerade erklärt habe, bist du bereit, sie zur Frau zu nehmen?»
«Ja.»
«Hast du den Verstand verloren?»
«Sie haben es doch gesagt. Niemand weiß es. Und niemand muss es je erfahren.»
«Nein», sagte sein Onkel mit lauter Stimme.
«Warum?»
«Glaubst du, ich würde zulassen, dass der Sohn meiner Schwester eine Sklavin heiratet?»
«Sie ist keine Sklavin!»
«Und ob sie das ist! Auch wenn sie die große Dame markiert und ihre Haut weiß ist. Sie ist eine Sklavin und wird es immer bleiben. Hast du einmal an deine Familie gedacht? Deine Mutter, deine Schwestern», fuhr Steward fort. «Geheimnisse können nicht ewig bewahrt werden. Was würde passieren, wenn es nach der Hochzeit herauskommt? Wer würde die Schwägerinnen einer Sklavin heiraten? Du bist deiner Familie gegenüber verpflichtet. Auch ihre Ehre steht auf dem Spiel! Wärst du etwa dazu fähig, deine Familie einer solchen Schande auszusetzen? Und was ist mit deinem Vater? Glaubst du, er würde das in seinem Zustand verkraften? Wenn dein Vater es erfahren würde …»
«Tun Sie mir das nicht an, Onkel. Stellen Sie mich nicht vor die Wahl.»
«Täusch dich nicht, Richard. Du hast gar keine Wahl. Du wirst diese Frau nicht heiraten. Wenn du mir keine andere Möglichkeit lässt, werde ich die Wahrheit öffentlich machen.»
«Das dürfen Sie nicht!»
«Glaubst du etwa, ich lasse zu, dass du deine Zukunft ruinierst? Dass du Schimpf und Schande über deine Familie bringst? Ich werde niemals erlauben, dass der Stammhalter unserer Familie eine Schwarze zur Frau nimmt!»
«Sie können das nicht ernst meinen. Wenn die Wahrheit über ihre Herkunft ans Licht kommt, wird Charlotte ein schreckliches Schicksal erleiden.»
«Es hängt von dir ab. Die Zukunft dieser Frau liegt in deinen Händen.»
Richard dachte nach. Sollte sein Onkel wirklich die Wahrheit über Charlottes Geburt enthüllen, würde er nichts tun können, um sie zu beschützen. Und Richard spürte so viel Hass in diesem Menschen, zweifellos war er fähig, seine Drohung wahr zu machen.
Richard stand auf.
«Gut, Onkel. Aber Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie niemals Charlottes wahre Herkunft preisgeben.»
«Das verspreche ich, Richard. Wenn du dein Wort hältst, gilt auch das meine.»
***
Als Richard ins Zimmer zurückkam, war sein Gesichtsausdruck vollkommen verändert.
«Alles in Ordnung?», fragte Scott von seinem Bett aus.
Anstatt zu antworten, nahm Richard den Brief, den er an Charlottes Vater geschrieben hatte, steckte ihn sich in die Jackentasche und ging.
Scott stand auf und lief seinem Freund hinterher. «Hey, geht es dir gut?», rief er. Ohne auf Scott zu achten, ging Richard einfach stur weiter.
Scott holte seinen Freund trotz dessen entschlossenen Tempos ein und bestürmte ihn weiter mit Fragen. Doch es war nichts aus ihm herauszubekommen. Schließlich kamen sie zum Benny’s, dem Lokal, in dem die Studenten sich in ihrer Freizeit trafen. Kaum war Richard eingetreten, bahnte er sich einen Weg bis zur Theke und griff sich ein Bier. Dann setzte er sich an einen freien Tisch in der Mitte des Raums.
«Bringen Sie mir auch eins», bat Scott die Kellnerin und setzte sich zu seinem Freund, der sein Bier schon in einem Zug hinuntergestürzt hatte.
Jetzt holte Richard den Brief aus der Jackentasche und hielt eine Ecke in die Flamme der Kerze, die auf dem Tisch stand.
Schwarzer Rauch stieg auf, als die Flammen die Worte verschlangen. Erst als das Papier fast vollständig verbrannt war, ließ Richard es los und sah zu, wie das Feuer auch den Rest vernichtete.
Er hatte schon zwei Bier getrunken, als Pauline mit einem neuen Krug vorbeikam, eine Kellnerin, die Richard seit dem ersten Jahr vergeblich schöne Augen gemacht hatte. Als sie das Bier vor ihn hinstellte, packte Richard die junge Frau am Arm und zog sie auf seinen Schoß. «Danke, Charlotte», flüsterte er.
«Ich heiße Pauline», verbesserte sie ihn, hörte aber nicht auf zu lächeln und ließ sich von ihm umarmen.
«Charlotte», murmelte Richard wieder, und gedankenverloren wickelte er eine Strähne ihres dunklen Haars um seinen Finger.
«Ich heiße Pauline», sagte die junge Frau noch einmal und wand sich aus Richards Umarmung. Dann verschwand sie hinter der Theke.
«Wer ist Charlotte?», fragte Scott seinen Freund. Richards Augen leuchteten auf. Der Alkohol zeigte bereits seine Wirkung. «Charlotte ist die schönste und zauberhafteste Frau, die du dir vorstellen kannst», verkündete er mit etwas schleppender Stimme.
«Ich verstehe. Du bist verliebt.»
Langsam nickte Richard und stützte den Kopf schwer in die Hände. Er schloss die Augen, als wollte er vollkommen in die Erinnerung an diese Frau eintauchen. «Ich bin verrückt nach ihr. Wenn sie mich mit ihren grünen Augen ansieht, fühle ich, wie meine Seele zu brennen anfängt.»
«Und wo ist das Problem?»
Trotz der enormen Menge Alkohol, die schon durch seine Adern floss, war Richard noch nicht bereit, die Ängste zu verraten, die seinen Geist quälten. Als Scott bemerkte, dass sein Freund statt einer Antwort nur nach dem Krug griff, versuchte er, ihm das Bier wegzunehmen.
«Du hast genug getrunken.»
«Nein», protestierte Richard und hielt es fest. «Ich will mich betrinken!»
«Wenn das deine Absicht ist, kann ich dir versichern, dass du nicht noch mehr zu trinken brauchst.»
Richard schob die Hand seines Freundes energisch zur Seite und setzte den Krug noch einmal an die Lippen.
«Wir müssen gehen», drängte Scott, als er feststellte, dass außer ihnen kein anderes Mitglied der Akademie mehr in der Kneipe saß. «Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir zu spät kommen, und wenn herauskommt, dass du betrunken bist, können sie dich rauswerfen.»
«Dann werfen sie mich eben raus!», schrie Richard und setzte den Krug laut auf dem Tisch ab. Dabei schwappte ein guter Teil seines Inhalts über.
Scott war beunruhigt. Er hatte noch nie gesehen, dass Richard so viel getrunken hatte. Eigentlich verlor er nie die Kontrolle. Es gefiel ihm nicht, seinen Freund in einer so jämmerlichen Verfassung zu sehen. Kurz fühlte er sich an seinen Onkel Lead in der Nacht vor seinem Tod erinnert.
Freundschaftlich packte Scott Richard an der Schulter. «Was ist mit dir los? Hat dein Zustand etwas mit dem Besuch deines Onkels zu tun? Was ist passiert?»
Die Erwähnung seines Onkels konnte den dichten, vom Alkohol verursachten Nebel durchdringen und hatte die Wirkung eines Alarmsignals. Sofort verschloss Richard sich misstrauisch. «Gar nichts ist los. Mir geht es gut», stritt er ab. Dann versuchte er aufzustehen.
Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Scott seufzte. In diesem Zustand würde er es niemals schaffen, die Akademie vor dem Zapfenstreich zu erreichen.
Ein Mann erklärte sich freundlicherweise bereit, sie für ein paar Münzen in seinem Wagen bis vor das Tor zu bringen. Aber Scott musste um jeden Preis verhindern, dass Richard derartig betrunken entdeckt wurde. Also stiegen sie nicht direkt vor dem Haupttor aus, sondern an der letzten Wegbiegung davor. Sie würden eine Abkürzung durch den Wald nehmen müssen, wenn sie die Wachen am Tor umgehen wollten.
Im Alkoholrausch murmelte Richard unzusammenhängende Sätze und Worte. Und da er sogar zum Gehen zu betrunken war, blieb Scott nichts anderes übrig, als sich seinen Freund quer über die Schultern zu legen und ihn zu tragen. Obwohl Scott in den letzten Jahren an Kraft gewonnen hatte, war Richard doch größer und kräftiger. Aber Scott gab nicht auf. Er würde rechtzeitig zurück sein, und wenn er sich noch so sehr anstrengen müsste.
Nur ein paar Minuten nachdem Scott den Freund in sein Bett gelegt und zugedeckt hatte, machten die Verantwortlichen die Runde durch das Stockwerk.
***
Beim Aufwachen plagten Richard sofort fürchterliche Kopfschmerzen. Zwar erinnerte er sich nicht mehr an alle Einzelheiten, aber das ununterbrochene Hämmern in den Schläfen und das sich wie ein Kreisel um ihn drehende Zimmer machten ihm klar, dass er zu viel getrunken hatte. Ungeduldig wartete Richard darauf, dass Klaus und Arnold den Raum verließen, um endlich mit Scott reden zu können. Er musste unbedingt die Lücken in seinem Gedächtnis füllen, oder er würde verrückt werden.
«Ich glaube, ich habe gestern zu viel getrunken …»
«Uff», schnaubte Scott. «Wenn ich dich gelassen hätte, wärst du im Alkohol ertrunken. Diese Charlotte muss ja eine einzigartige Frau sein, wenn ein Mann wie du wegen ihr dermaßen den Kopf verliert.»
Richard presste die Kiefer aufeinander. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie überhaupt erwähnt zu haben. «Was habe ich über sie erzählt?»
«Eigentlich nichts. Vielleicht hast du fallengelassen, dass …»
«Was?» Mit ein paar Schritten war Richard bei Scott, packte ihn und drückte ihn gegen die Wand. Scott versuchte nicht einmal, Gegenwehr zu leisten.
Ein Schweißtropfen rann Richard die Stirn hinunter. Er stand kurz davor, die Nerven zu verlieren.
«Nichts, mein Freund, mach dir keine Sorgen», beschwichtigte Scott ihn schnell. «Du hast keine schrecklichen Geheimnisse ausgeplaudert. Nur die typischen unzusammenhängenden Sätze eines Verliebten, der zu viel getrunken hat.»
Scotts Worte hörten sich ehrlich an. Vielleicht war er ein bisschen paranoid. Aber die Vorstellung, dass er das Geheimnis, das ihm anvertraut worden war, weitererzählt hatte, zehrte an seinen Nerven. Er schwor sich, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren. Das Risiko war zu groß. Dann spürte er, wie die Anspannung nachließ.
Langsam ließ er Scott los und sah beschämt zu Boden. «Es tut mir leid. Verzeih mir. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.»
«Wahrscheinlich ist es die Liebe. Sie kann einen Mann ganz verrückt machen. So sagt man zumindest …»
Nach diesem Zwischenfall erwähnte Richard nie wieder den Namen Charlotte, und Scott wollte es ihm leichter machen und tat so, als hätte die Nacht, in der sein Freund sich in Bennys Kneipe betrunken hatte, nie stattgefunden.
Die Monate schritten schnell voran. Plötzlich hatte schon die Zeit der Abschlussprüfungen begonnen, und Richard lernte ohne Unterlass. Bei allen Kommilitonen war Aufregung spürbar. Bald schon wäre das letzte Studienjahr vorüber und damit ihre Zeit auf der Akademie. Eine Etappe ihres Lebens würde zu Ende gehen.
***
Eines Abends bemerkte Richard, dass Klaus’ Bett noch unberührt war, obwohl schon in wenigen Minuten das Licht gelöscht werden musste. «Hast du Klaus gesehen?», fragte er Arnold, der rasch den Kopf schüttelte.
«Wo kann er nur stecken?», murmelte Richard.
Scott warf sich auf sein Bett. Er war müde und wollte schlafen. «Mach dir um ihn keine Sorgen. Eine Woche vor dem Abschluss wird selbst dieser Idiot nichts anstellen, was sein Offizierspatent gefährden könnte.»
Arnold stand vor dem Fenster. Während der letzten halben Stunde hatte er unaufhörlich in die Dunkelheit gestarrt. Er wirkte nervös. Richard wandte sich erneut an ihn. «Du weißt doch etwas!»
Arnolds Miene ließ keinen Zweifel darüber aufkommen.
«Sag mir, wenn du etwas weißt», drängte ihn Richard. «Es ist wichtig.»
Arnold zögerte. «Er trifft sich mit einer Frau.»
«Sieh einer an!», rief Scott überrascht aus.
«Wo?», fragte Richard, der Scotts Ausruf überhörte.
«Ich glaube, im alten Schuppen.»
«Ist er verrückt geworden? Wie konntest du ihm das durchgehen lassen? Wenn sie ihn auf dem Gelände mit einer Frau erwischen, werden sie ihn sofort hinauswerfen.»
«Ich habe versucht, es ihm auszureden», rechtfertigte sich Arnold. «Aber ihr wisst ja, was für ein Dickkopf er ist.» Im Unterschied zu seinen Mitstudenten hatte Arnold noch das gleiche bartlose und kindliche Gesicht wie vor vier Jahren. Er senkte den Kopf.
Das stimmte natürlich, dachte Richard bei sich. Klaus würde sich niemals von Arnold vorschreiben lassen, was er zu tun oder zu lassen hatte.
«Nicht einmal mir wäre es eingefallen, eine Frau auf das Gelände mitzubringen», lachte Scott, der sich prächtig zu amüsieren schien. «Sein Gehirn ist kleiner als das einer Ratte.»
«Scott, es ist jetzt genug», rief Richard. «Es ist jetzt keine Zeit für Scherze. Wenn sie ihn finden, fliegt er.»
«Nun, das hätte er sich überlegen sollen, bevor er dieser Frau ins Netz gegangen ist.»
Richard griff nach seiner Jacke und ging zur Tür.
«Darf man erfahren, was du vorhast?», fragte Scott.
«Ich werde ihn suchen.»
«Hast du den Verstand verloren?», schimpfte Scott. «Wenn sie uns erwischen, werden wir ebenfalls hinausgeworfen.»
«Irgendjemand muss ihm helfen.»
«Er verdient das nicht», antwortete Scott sehr ernst.
«Und du, Arnold, kommst du?» Aber der junge Mann aus Pennsylvania machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen.
«Ich dachte, du wärst sein Freund?»
«Es tut mir leid. Ich kann nicht riskieren, von der Schule zu fliegen.»
«Verstehe.» Richard verschwand allein aus dem Zimmer. Eine Sekunde später hatte Scott ihn eingeholt.
Klaus lag halbnackt mit einer Frau im Stroh. Scott erkannte Pauline, die sich blitzschnell den Oberkörper bedeckte und ihre Sachen zusammenraffte, als sie merkte, dass man sie entdeckt hatte. Dann rannte sie so eilig aus dem Schuppen, dass ihr ein paar Kleidungsstücke herunterfielen. Niemand versuchte, sie aufzuhalten. Klaus stand sofort auf und nahm Haltung an. Im ersten Moment war ihm vor Schreck der Atem weggeblieben. Jetzt, da er sah, dass die Eindringlinge nur seine Zimmergenossen waren, bückte er sich und zog wütend sein Hemd wieder an.
«Was wollt ihr hier?», fragte er und starrte Scott drohend an.
Richard ließ sich von seinem Tonfall nicht aus der Ruhe bringen. «Was glaubst du denn, was wir hier wollen? Wir versuchen zu verhindern, dass du deine Zukunft ruinierst.»
Klaus klopfte sich das Stroh von den Kleidern und knöpfte die Hosenträger an.
«Ich brauche weder deine Hilfe noch die deines feigen Freundes.»
«Gut. Wir gehen schon», mischte Scott sich ein.
«Genau. Hau ab, verdammter Feigling.»
«Es reicht, Klaus», warnte Richard ihn ernst. «Scott ist gekommen, um dir zu helfen.»
«Lass ihn in Frieden, Richard. Er wird schon wissen, was er tut, schlau, wie er ist.»
«Misch du dich da nicht ein, verfluchter Yankee.»
«Lass uns gehen, Richard. Sollen sie ihn doch erwischen», sagte Scott und zog seinen Freund am Arm. «Du hast getan, was du konntest. Wegen dieses Dummkopfs willst du doch wohl nicht deinen Abschluss riskieren.»
«Ja, hau schon ab, du Feigling», beschimpfte Klaus ihn wieder.
Langsam tat es Richard leid, Scott mitgeschleppt zu haben. Noch immer legte Klaus ihm gegenüber einen offenkundigen Hass an den Tag, und die Tatsache, dass gerade der Mensch, den er so verachtete, ihn in dieser peinlichen Situation erwischt hatte, machte die Sache nicht einfacher.
«Es kümmert mich nicht im Geringsten, was du von mir denkst», antwortete Scott. «Aber glaub nicht, dass ich die Chance, nach Harvard zurückzukehren, aufs Spiel setze, um einem undankbaren Idioten zu helfen, der seine Hosen nicht oben lassen kann. Richard, ich gehe. Du kannst tun, was du willst.»
Mit diesen Worten drehte er sich um und steuerte auf die Tür zu.
Klaus wurde rot im Gesicht. «Hey, verdammter Yankee! Dreh mir gefälligst nicht den Rücken zu!» Aber Scott kümmerte sich nicht mehr um ihn.
Da Scott sich außerhalb der Reichweite seiner Fäuste befand, packte Klaus eine Öllampe und machte Anstalten, sie zu werfen.
Richard stürzte auf ihn zu. «Bist du verrückt geworden?», schrie er und versuchte, ihm die Lampe zu entreißen. Aber Klaus war außer sich. Nichts konnte ihn mehr aufhalten. Wütend schubste er Richard zur Seite, der sich im Fallen den Kopf an einem Balken stieß und benommen liegen blieb. Dann holte er Schwung und warf die Lampe nach Scott, der sich, durch die Schreie gewarnt, umgedreht hatte und dem Geschoss gerade noch ausweichen konnte.
Scheppernd fiel die Lampe auf den Boden und zerbrach in tausend Teile. Das auslaufende Öl fing sofort Feuer, und im trockenen Stroh breiteten sich die Flammen rasch aus.
Nur wenige Meter vom Brandherd entfernt lag Richard halb bewusstlos am Boden.
In Windeseile kletterten die Flammen an den Holzplanken der Wände hoch, und der Rauch machte das Atmen fast unmöglich. Schnell rannte Scott zu Richard, um ihm aufzuhelfen, während Klaus verzweifelt versuchte, das Feuer mit seiner Jacke zu ersticken. Aber es war sinnlos.
«Wir müssen hier raus», rief Scott und schleifte Richard in Richtung Tür.
Inzwischen hatte das Feuer einen alten Holzkarren erfasst. Der Rauch wurde immer dichter.
Scott hielt sich Nase und Mund mit seinem Halstuch zu und zog Richard das letzte Stück nach draußen. Sobald sie in Sicherheit waren, ließ er seinen Freund fallen.
Noch immer benommen und von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, blieb Richard auf dem Boden liegen.
«Und Klaus?», rief er, als er sah, dass jede Spur von ihrem Zimmergenossen fehlte.
Scott sah sich um, konnte ihn aber nicht entdecken. «Verdammter Idiot. Er muss noch da drin sein.»
Inzwischen hatten die Flammen das Dach erreicht.
«Scott, wir müssen ihn da rausholen, sonst wird er noch ersticken», brachte Richard trotz eines neuerlichen Hustenanfalls heraus. Vergeblich versuchte er aufzustehen.
Er hatte den Satz kaum beendet, als man einen Dachbalken hörte, der donnernd zu Boden fiel. Eine Sekunde später hatte der Schuppen sich in eine einzige Feuerkugel verwandelt. Richard wandte den Blick ab. Es war zu spät.
Aber Scott war noch nicht bereit aufzugeben. Rasch zog er seine Jacke aus und tauchte sie in eine Regentonne, die in der Nähe stand. Das Gleiche tat er mit seinem gesamten Oberkörper. Dann band er sich das Halstuch vor Mund und Nase, holte tief Luft, und bevor Richard noch richtig begriff, was er vorhatte, war er schon wieder im Schuppen verschwunden.
Richard war zu schwach, um ihm zu folgen, und musste ohnmächtig zusehen, wie sein Freund von den Flammen verschluckt wurde.
Die Hitze war unerträglich. Jeder Atemzug schmerzte in der Kehle, und es fühlte sich an, als würde ihm die glühende Luft die Lungen verbrennen. Mit der nassen Jacke schützte Scott seinen Kopf. Das Feuer war überall. Angestrengt suchte er den Raum nach Klaus ab, aber der Vorhang aus Rauch war so dicht, dass er kaum seine eigenen Gliedmaßen sehen konnte. Entschlossen bahnte er sich einen Weg durch die brennenden Balken hin zu der Stelle, wo er Klaus zuletzt gesehen hatte.
Als er endlich vor ihm stand, sah Klaus ihn ungläubig an. «Du bist verrückt!», brachte er heraus und fing sofort heftig an zu husten. «Was tust du hier?»
«Was glaubst du denn? Ich versuche, dein dämliches Leben zu retten!»
Ganz in der Nähe zerplatzte eine Fensterscheibe, die der Hitze nicht mehr standhalten konnte.
Ein Teil des Daches war eingestürzt. Klaus war anscheinend nicht verletzt, aber ein schwerer Balken, an dessen Ende die Flammen blaurot züngelten, hatte sein Bein eingeklemmt. Allein würde er sich nicht befreien können.
«Du kannst nichts tun! Verschwinde von hier! Hier wird gleich alles zusammenkrachen!»
Aber Scott achtete nicht auf Klaus’ Worte. Er trat einen Schritt zurück, um die Situation mit ein wenig Abstand betrachten zu können. Auf jeden Fall müsste er schnell handeln. Schon bald könnte ein weiterer Balken über ihren Köpfen hinabstürzen.
«Hau ab!», drängte Klaus. «Du kannst nichts tun!»
Scott sah Klaus in die Augen. «Wenn du hierbleibst, bleibe ich auch hier.»
Dann wickelte er sich die Jacke um die Hände und packte den Balken, der Klaus’ Fuß eingeklemmt hatte, kurz entschlossen an seinem rotglühenden Ende. Mit aller Kraft versuchte er, ihn anzuheben. Dabei überfiel ihn ein so heftiger Schmerz, dass er beinahe das Bewusstsein verlor. Gleich danach nahm er den durchdringenden Geruch nach verbranntem Fleisch wahr.
Als Klaus und Scott sich außerhalb des Schuppens in Sicherheit gebracht hatten, ließen sie sich neben Richard auf den Boden fallen. Inzwischen wimmelte es auf der Wiese von Kadetten und Offizieren. Der Superintendent warf den drei erschöpften jungen Männern einen durchdringenden Blick zu, verschaffte sich dann einen Überblick über die Situation und übernahm das Kommando. Im Nu hatten alle, die beim Feueralarm herbeigerannt waren, geordnete Reihen gebildet und gaben Wassereimer durch.
Als das Feuer unter Kontrolle war, wandte der Superintendent sich wieder Klaus, Scott und Richard zu.
Anscheinend hatte Kadett Fritz bis auf ein paar blaue Flecke keine schlimmeren Verletzungen davongetragen. Richard Reemick wirkte hingegen noch immer etwas benommen, und Kadett O’Flanagan schien einer Ohnmacht nah. Sein Gesicht hatte sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen, und seine Hände waren in einem furchtbaren Zustand.
«Bringen Sie die drei auf die Krankenstation», befahl der Superintendent in dem Moment, als Scott das Bewusstsein verlor.
***
Als Scott wieder aufwachte, waren seine Hände verbunden. Er hatte schwere Verbrennungen erlitten, und obwohl die Beweglichkeit der Finger nicht in Mitleidenschaft gezogen war, würde die Haut niemals wieder ganz verheilen. Im Gegensatz dazu waren Klaus’ Verletzungen nur oberflächlich, auch wenn er noch ein paar Tage brauchen würde, um seine Lunge von den Rauchpartikeln zu befreien, die er eingeatmet hatte. Und auch Richard würde sich bald von seiner Gehirnerschütterung erholen.
Scott verließ erst am Tag der Abschlussfeier die Krankenstation und wurde zusammen mit Klaus und Richard sofort zum Superintendenten bestellt.
«Der Schuppen ist vollkommen abgebrannt», teilte der ihnen mit, als hätte es noch irgendeinen Zweifel daran gegeben. «Außerdem wurden Überreste weiblicher Kleidungsstücke in der Asche gefunden», fuhr er mit strenger Miene fort. «Sie wissen, dass eine solche Übertretung der Regeln den sofortigen Ausschluss zur Folge hat. Nur eine Woche vor dem Abschluss! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mich das überrascht, Mr. O’Flanagan. Ich hatte angenommen, dass Sie in den letzten Jahren etwas gelernt hätten. Aber anscheinend sind Sie ein hoffnungsloser Fall.»
Klaus wollte protestieren, aber der Superintendent befahl ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
«Machen Sie sich nicht die Mühe, Mr. Fritz. Zumindest hat Kadett O’Flanagan genügend Ehrgefühl bewiesen, mich über das Vorgefallene in Kenntnis zu setzen. Ich weiß, dass Sie beide ihm nur zu Hilfe gekommen sind. Und wenn Sie ihn nicht gerettet hätten, wäre er jetzt tot. Ich werde Sie nicht dafür bestrafen. Zwar haben Sie die Ausgangssperre verletzt, aber Sie haben schließlich Ihr Leben für einen Kameraden aufs Spiel gesetzt, und das ehrt Sie.»
Verwirrt senkte Klaus seinen Blick zu Boden. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so geschämt.
«Sie können zu Ihren Kameraden gehen. Die Paraden werden bald anfangen.» Einen Moment lang zögerten Richard und Klaus.
«Worauf warten Sie noch? Gehen Sie!»
Die beiden jungen Männer salutierten und verschwanden wie der Blitz.
«Und was Sie angeht, O’Flanagan, muss ich Ihnen sagen, dass ich in der langen Zeit, die ich für diese Institution verantwortlich bin, noch nie auf einen Mann getroffen bin, der in einem solchen Maße Ehrgefühl und Mut vermissen lässt. Sie sind eine Schande für die Akademie. Es tut mir wirklich leid für Ihren Großvater und Ihren Onkel, beides Männer von untadeligem Verhalten. Wir hätten Sie gleich beim ersten Mal hinauswerfen müssen, als Sie die Regeln verletzt haben. Nun, diesmal wird Ihr Vater Sie nicht retten können. Mr. O’Flanagan, hiermit schließe ich Sie aus der Akademie aus.» Scott versuchte nicht einmal, sich jetzt noch zu verteidigen.
Während seiner Genesungszeit war ihm bewusst geworden, was Klaus geopfert hatte, um den Abschluss auf der Marineakademie machen zu können, und er wusste auch, dass es jenseits einer militärischen Laufbahn keine Zukunft für ihn gäbe. Ihm selbst hatte die Marine hingegen nie etwas bedeutet, und so hatte er, kurz nachdem die beiden anderen die Krankenstation verlassen hatten, den Beschluss gefasst, die Schuld allein auf sich zu nehmen. Vor ein paar Tagen hatte er dem Superintendenten bestellen lassen, dass er unter vier Augen mit ihm reden wolle. Es war nicht einmal schwer gewesen, den Offizier davon zu überzeugen, dass er allein für die Geschehnisse verantwortlich war. Er musste nur seinen Namen gegen den von Klaus austauschen, damit die Geschichte glaubwürdig blieb. Sein Ruf erledigte den Rest.
Es gab kein Zurück mehr. Richard und Klaus würden in ein paar Stunden ihr Leutnantspatent verliehen bekommen, und nach ein paar Tagen Urlaub würden sie wieder an Bord gehen, um die nächsten drei Jahre auf See zu verbringen und zurückzuzahlen, was sie ihrem Land schuldeten.
Scott dagegen musste nur noch seinen Koffer unter dem Bett hervorziehen und verschwinden.
Von seinem Zimmerfenster aus betrachtete er zum letzten Mal den Hauptplatz der Akademie. Heute waren Tribünen für die Angehörigen der Offiziersanwärter aufgestellt worden, mit Kokarden und Flaggen geschmückt.
Zum Glück hatte sich kein Mitglied der Familie O’Flanagan die Mühe gemacht zu kommen. Scott stellte sich vor, wie enttäuscht und verärgert sein Vater gewesen wäre, wenn er noch dazu vor Ort erfahren hätte, dass man seinen Sohn nur wenige Stunden vor der Abschlusszeremonie von der Schule geworfen hatte.
Auf dem Platz marschierten die Offiziersanwärter in perfekter Formation in ihren Galauniformen auf. Scott spürte einen Kloß im Hals, als er sie aus der Entfernung beobachtete.
Nachdem er seine Uniform gegen die Zivilkleidung eingetauscht hatte, fühlte er sich unbehaglich. Die ganzen Jahre lang hatte er diesen Moment herbeigesehnt, und jetzt spürte er nur einen tiefen Schmerz in seiner Brust.
Vom Fenster aus verfolgte er die Zeremonie, und als er sich davon überzeugt hatte, dass Klaus und Richard ihre Offizierspatente überreicht bekommen hatten, griff er nach seinem Koffer und ging auf dem gleichen Weg fort, auf dem er vor vier Jahren gekommen war.
Niemand würde ihn vermissen, dachte Scott, als er im Begriff war, in Annapolis in die Postkutsche zu steigen. Nun, er hatte sich auch nicht besonders darum bemüht, Freunde zu gewinnen. Dennoch musste Scott sich eingestehen, dass der Aufenthalt an diesem Ort und die Monate auf dem Meer eine tiefe, bleibende Spur in ihm hinterlassen hatten.
Im Rückblick erkannte er sich in dem jungen Mann kaum wieder, der in jener kalten und dunklen Novembernacht aus der gleichen Postkutsche gestiegen war.
Er setzte gerade seinen Fuß auf die Stufe, als ihm jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legte. «Du willst doch nicht etwa gehen, ohne dich zu verabschieden?»
Lächelnd drehte Scott sich um. Unter Millionen von Stimmen hätte er Richards immer wiedererkannt.
«Na so was, da haben wir ja die frischgebackenen Leutnants Reemick und Fritz!»
Klaus stand ein Stück hinter Richard und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Die Gesichtsfarbe und der keuchende Atem der beiden Männer verrieten, dass sie gerannt waren, obwohl ihre Lungen sich noch nicht vollständig vom Brand erholt hatten.
Als der Kutscher zur Abfahrt mahnte, wurden ihre Gesichter ernst.
«Was wirst du jetzt tun?», fragte Richard sichtlich besorgt.
«Ich weiß es nicht. Es wird mir schon etwas einfallen.»
«Wirst du nach Hause fahren?»
Scott zuckte mit den Schultern.
«Glaubst du, dass dein Vater seine Drohung wahr macht?»
«Ganz bestimmt», sagte Scott und verzog den Mund zu einer Art Grinsen.
«Es tut mir leid, Scott. Ich weiß, dass Harvard sehr wichtig für dich war. Wenn du einmal etwas brauchen solltest, vergiss nicht, dass du in meinem Haus immer willkommen bist.»
«Danke, Richard. Aber wir beide wissen doch, dass deine Nachbarn mich früher oder später lynchen würden.»
Richard lächelte. Aber zu seinem größten Bedauern war ihm bewusst, dass Scott recht hatte. «Versprich mir wenigstens, dass du mich einmal besuchen wirst.»
«Das verspreche ich», sagte er und umarmte den Mann, der sein einziger Freund geworden war.
Jetzt trat auch Klaus vor. Er hatte viel zu spät gemerkt, dass er sich in Scott getäuscht hatte. Scott hatte sein Leben für ihn riskiert und, ohne zu zögern, auf das verzichtet, was er sich am meisten gewünscht hatte. Neben vielen anderen Dingen verstand Klaus nun auch, warum Richard sich nie von Scott abgewandt hatte. Im Gegensatz zu ihm selbst hatte Richard hinter der zynischen Fassade den Ehrenmann sehen können. Sein eigener Geist war von Vorurteilen und Komplexen getrübt worden. Klaus schwor bei sich, dass das nicht noch einmal geschehen würde.
Der Moment des Abschieds war gekommen. Klaus kam näher und streckte Scott die Hand hin. «Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Scott.»
Scott gab ihm eine seiner verbundenen Hände und lächelte. «Geht mir auch so, Klaus.»