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Nachdem sie die Nacht in einem alten Lagerhaus im Bahnhof von Baltimore verbracht hatten, wurden Noah und Charlotte von den übrigen Sklaven getrennt und in Richtung Norden gebracht. Ihr endgültiges Ziel lag eine halbe Tagesreise von der Stadt entfernt.

Als sie auf Sarton ankamen, erschien Charlotte dieses Haus mit den beigegetünchten Wänden und den großen Fenstern zunächst wie ein heimeliger Ort, an dem sie vielleicht gern eine Familie gegründet hätte. Aber ihr neuer Stand als Sklavin vermittelte ihr eine ganz andere Sicht auf die Dinge. Die Plantage war ihr Gefängnis und ihre Chance zugleich. Es war ungewöhnlich, dass so hoch im Norden überhaupt Baumwolle angebaut wurde. Sie hatten Glück gehabt, hierhergebracht worden zu sein. Denn die Grenze zwischen Maryland und Pennsylvania war höchstens zwei Tagesreisen zu Fuß von hier entfernt. Ja, sagte sie sich und machte sich Mut. Sie würde ein paar Tage brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen, aber dann würde sie nach Norden fliehen und wäre wieder frei.

Der Karren hielt vor einem gepflegt wirkenden etwa sechzigjährigen Mann in Arbeitskleidung.

«Vorwärts, ihr Faulpelze!», befahl der Mann, der sie auf dem letzten Teil des Weges bewacht hatte, als er vom Kutschbock sprang.

Müde gehorchte Charlotte. Mit beinahe automatischen Bewegungen kletterte sie vom Wagen. Dann stellte sie sich neben Noah und wartete.

«Hier sind sie, Mr. Boromat.»

Der Mann kam auf Charlotte zu, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit von ihrem entfernt war. Er sah ihr in die Augen, trat dann einen Schritt zurück und betrachtete sie eingehend von oben bis unten.

Charlotte sah erbärmlich aus. Ihr feines schwarzes Kleid war zerknittert, fleckig und stank. Je näher dieser Mann kam, umso deutlicher wurde sich Charlotte ihres eigenen Körpergeruchs bewusst. Noch nie hatte sie sich so unbehaglich gefühlt. Sie kam sich vor wie ein Ackergaul, den man auf dem Markt verkaufen wollte.

«So was, ich hätte nicht gedacht, dass sie so weiß ist», sagte der Mann etwas ärgerlich.

«Ja, es ist unglaublich», nickte der Sklavenhändler. «Wenn man nicht aufpasst, könnte sie fast für eine von uns durchgehen. Aber mir machen sie nichts vor, auch wenn sie noch so gut gekleidet sind und sich zu benehmen wissen. Ich muss sie nur riechen.»

Der Mann schwieg dazu und holte aus einer seiner Jackentaschen ein kleines Beutelchen hervor. «Hier, die vereinbarte Summe.»

Der Händler nahm den Beutel und wog ihn in der Hand. «Ich werde sie dann mal losmachen», sagte er und fing an, die Handeisen aufzuschließen.

«Ich bin Boromat, der Aufseher», stellte der Mann sich vor. «Wie heißt du?», fragte er zu Noah gewandt.

«Noah, Master Boromat», antwortete der und rieb sich die Handgelenke, die endlich von den Fesseln befreit waren.

«Du siehst kräftig aus.»

Noah sagte nichts. Seine Körpergröße, die breiten Schultern und die Armmuskulatur waren Antwort genug. Jetzt drehte der Aufseher sich mit einem missbilligenden Blick zu Charlotte um. Ihre Handgelenke waren vollkommen wundgescheuert.

«Das ist meine Schwester Charlotte, Master Boromat», sagte Noah schnell und warf Charlotte einen warnenden Blick zu. Die ballte wütend die Fäuste, sagte aber nichts.

Was für eine sonderbare Laune der Natur, dachte der Aufseher und betrachtete noch einmal die weißhäutige Sklavin, die aus irgendeinem Grund wütend zu sein schien. Diese Frau hatte in ihrem ganzen Leben noch nicht gearbeitet. Zumindest nicht auf einem Baumwollfeld. Was sollte er nur mit ihr anstellen?, fragte er sich. Auf den Feldern würde sie nicht viel nützen und im Haus noch weniger. Den Plantagenbesitzern war es unangenehm, sich mit Sklaven zu umgeben, die so weiß waren wie sie. Das führte nur zu peinlichen Missverständnissen. Vielleicht sollte er seinem Herrn raten, sie loszuwerden. In den Bordellen wurden gute Preise für so weiße Frauen gezahlt, und diese hier war noch dazu eine Schönheit. Aber der Herr und seine Frau waren auf Reisen und würden vor Ende des Sommers nicht auf die Plantage zurückkehren.

«Heute könnt ihr euch ausruhen», sagte er jetzt zu den beiden. «Morgen werdet ihr anfangen zu arbeiten. Sie dort wird euch zeigen, wo ihr euch einrichten könnt.» Er deutete mit dem Kinn auf eine Sklavin, die ein Stück hinter ihnen stand und die keiner der beiden vorher bemerkt hatte.

Der Aufseher ging, und die Frau, die etwa zwanzig Jahre alt war, bedeutete ihnen, ihr zu folgen.

Obwohl man es vom Herrenhaus nicht hatte sehen können, war das Sklavendorf nicht weit entfernt. «Hier ist euer Quartier», sagte die Sklavin und öffnete die Tür einer der Hütten. «Ich gehe saubere Kleidung und etwas zu essen holen. Ich bin gleich zurück.»

Noah bedankte sich und trat ein. Charlotte wartete, bis das Mädchen gegangen war, und folgte ihm dann.

Im Inneren der vier Wände erblickten sie zwei Strohsäcke mit Decken darüber, einen Tisch mit zwei Hockern, ein paar Kochutensilien und einen kleinen Herd.

«Wie schrecklich es hier ist!», protestierte Charlotte, kaum dass sie die Schwelle überschritten hatte. «An einem solchen Ort werde ich unmöglich wohnen können!»

«Ich finde es eigentlich ganz gemütlich», widersprach Noah. «Es sieht aus, als hätte es ein gutes Dach, und der Boden ist aus Holz», sagte er zufrieden nach einer ersten Begutachtung.

«Aus Holz …», wiederholte Charlotte sarkastisch, als sie merkte, dass die Bohlen auf dem Boden der Hütte unter jedem ihrer Schritte etwas nachgaben.

«Sicher ist es kein Eichenparkett, aber wenigstens ist der Boden nicht aus Erde. Insgesamt ist es wirklich viel besser als die Hütte, die ich mir mit meiner Mutter geteilt habe.»

«Das ist nicht wahr!», schimpfte Charlotte. Auf keinen Fall würde sie sich davon überzeugen lassen, dass die Hütten auf New Fortune noch schlechter waren als dieses Loch, das eher für Tiere gebaut schien.

«Wie Sie meinen», seufzte Noah und sah sich nun den Herd genauer an. Er wollte sich nicht streiten.

Aber Charlotte konnte das Thema nicht einfach fallen lassen. «Wie kannst du es wagen zu behaupten, dass dieser Ort besser ist als unser Zuhause! Wie kannst du nur so treulos sein!»

Gerade wollte Noah Charlotte einmal gründlich die Meinung sagen, als die junge Sklavin mit einem großen Bündel auf dem Kopf wiederauftauchte.

«Entschuldigt», sagte sie. Die Atmosphäre war merklich spannungsgeladen. «Ich kann auch später wiederkommen.»

«Nein, es ist schon gut. Bitte, komm herein», sagte Noah.

Trotzig verschränkte Charlotte die Arme und drehte sich zur Wand. Aber Noah kümmerte sich nicht weiter um sie und half der Sklavin, das Bündel auf den Tisch zu legen.

«Ich habe euch ein paar Kleider mitgebracht. Sie müssten eigentlich passen. Hier ist auch etwas Brot und Maismehl.»

Charlotte war es leid, die Wand anzustarren, und lief zum Tisch. Schnell griff sie sich ein paar Kleider und Tücher. Sie waren nicht neu, aber wenigstens schienen sie sauber zu sein.

«Ich will mich waschen», sagte Charlotte brüsk.

Verärgert starrte die Sklavin sie an.

«Ich danke dir für alles», sagte Noah schnell, bevor Charlotte mit ihren Allüren noch den Hass der anderen Sklaven auf sich zog. «Das ist Charlotte, meine Schwester. Kümmere dich nicht um ihre Umgangsformen. Wie du siehst, lassen sie wirklich zu wünschen übrig.»

Charlotte sprühte Feuer aus ihren Augen.

Aber die Sklavin bemerkte es nicht. Sie lächelte nachgiebig.

«Macht nichts. Ich bin Melody. Ich lebe mit meinen Eltern und Geschwistern in der übernächsten Hütte. Und du?»

«Noah.»

«Noah …», wiederholte Melody langsam und ließ sich den Klang des Namens auf der Zunge zergehen. «Ein schöner Name», sagte sie, immer noch lächelnd.

Als Melody sie zu der Stelle führte, wo sie sich waschen konnte, starrte Charlotte entsetzt auf den kleinen Fluss, der nahe am Sklavendorf verlief. Es war sogar eher ein Bach, denn der Wasserlauf war keinen Meter breit und nur knietief.

«Hier?»

Melody nickte.

Obwohl die Sklavin ihr mehrmals versichert hatte, dass die Männer sich an einer anderen Stelle wuschen, musste Charlotte selbst nachsehen, ob auch niemand in der Nähe war. Erst dann entkleidete sie sich und tauchte ins kühle Wasser ein.

Die kräftige Strömung hatte die Wirkung einer belebenden Massage. Was hätte sie in diesem Moment nicht für ein Stück von der Lavendelseife gegeben, mit der Latoya ihr immer den Rücken eingeseift hatte. Aber das klare Wasser des Baches musste diesmal ausreichen. Sie blieb im Wasser, bis ihre Finger blau anliefen. Danach trocknete sie sich ab und zog endlich ein sauberes Kleid an.

Als sie in die Hütte zurückkam, hatte Noah schon aufgedeckt. Auch er hatte sich gewaschen und etwas Frisches angezogen. Und trotzdem hatte er noch die Zeit gefunden, einen weißlichen Brei zuzubereiten, der in einem Topf auf dem Herd blubberte.

«Was ist das?», fragte Charlotte, ließ ihre dreckige Wäsche auf den Boden fallen und setzte sich an den Tisch.

«Maisbrei», antwortete Noah und füllte ihr auf.

Sofort verzog sie den Mund zu einer Grimasse. «Gibt es nichts anderes?»

«Nein», sagte Noah und goss den Rest des Breis in seinen eigenen Teller.

Charlotte schnupperte an dem Brei, probierte dann aber doch einen Löffel voll und spuckte ihn sofort wieder aus. «Mein Gott, das schmeckt ja fürchterlich. Auf keinen Fall werde ich das essen», sagte sie und schob den Teller weg.

«Wie Sie wollen. Aber wenn Sie nichts essen, sind Sie morgen zu schwach für die Arbeit.»

«Arbeit! Wo wir uns noch nicht einmal von der Reise erholt haben. Wollen die uns umbringen?»

Darauf gab es nichts zu erwidern. Schweigend beugte Noah sich über seinen Teller und aß. Er musste wieder zu Kräften kommen.

Ungeduldig sprang Charlotte auf und stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. «Und als ob diese Demütigungen und Entbehrungen nicht schon genügen würden, muss ich auch noch mit dir eine Hütte teilen. Was bildest du dir eigentlich ein, einfach zu behaupten, dass ich deine Schwester bin?», schrie sie Noah an.

Jetzt verlor auch Noah die Geduld. «Ich habe sehr wohl verstanden, dass uns die Tatsache, dass wir vom gleichen Vater abstammen, keineswegs zu Gleichen macht. Und noch weniger zu Geschwistern. Aber auch wenn Sie es nicht glauben können, ich habe Sie nicht aus Stolz als meine Schwester vorgestellt, sondern zu Ihrem Schutz. Für Sie ist es in diesem Moment sehr viel sicherer, bei mir zu leben. Und selbst Sie sollten begreifen, dass es für mich nicht sehr angenehm ist, mit einer launischen und egoistischen Frau wie Ihnen zusammenzuwohnen. Wenn Sie nicht bleiben wollen, steht es Ihnen frei, in einer anderen Hütte unterzukommen. Sie wissen, wo die Tür ist. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich jetzt gern schlafen. Morgen müssen wir früh aufstehen, und ich bin müde.»

Noah stellte die beiden Teller in eine Schüssel, zog sich die Schuhe aus und legte sich auf die Pritsche neben der Tür.

«Schlafen Sie gut, Miss Charlotte.»

***

Die Sonne brannte unerbittlich. Charlotte hatte nicht erwartet, stundenlang in der Sonne arbeiten zu müssen, und hatte keine Kopfbedeckung. Sie war durstig, und ihr tat der Kopf weh. Langsam richtete sie sich auf und ging zum Wassereimer.

«Was machst du da?», fragte der Aufseher und hielt sein Pferd genau vor ihr an.

«Ich habe Durst.»

«Schon das fünfte Mal an diesem Morgen willst du etwas trinken», sagte er und versperrte ihr mit der Peitsche den Weg. «Das Wasser ist nicht nur für dich. Du hast es ja nicht einmal verdient. Das bisschen Baumwolle hast du heute gepflückt», rügte er sie und deutete auf Charlottes Korb, der nicht einmal halb voll war. «Du hast dich genug ausgeruht», sagte er. «Zurück an die Arbeit!»

Flehend sah Charlotte ihn an, aber der Aufseher hatte kein Erbarmen. Mit einer Bewegung der Peitsche bedeutete er ihr weiterzuarbeiten.

Als sie jetzt nach einer Baumwollkapsel griff, verletzte sie sich erneut an den scharfen Kanten. Ihre Hände waren schon ganz zerschunden, und der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Warum behauptete dieser gefühllose Mensch, dass sie nicht hart arbeiten würde? Sah er vielleicht nicht, wie ihre Hände bluteten?

Am Ende des Tages hatte Charlotte zwei Körbe gefüllt. Diese Menge pflückten sonst Kinder an einem Vormittag. Kopfschüttelnd warf der Aufseher einen Blick auf Charlottes Arbeit. Dann gab er seinem Pferd einen Peitschenhieb und ritt davon.

Gemeinsam mit den anderen Sklaven ging Charlotte zum Hüttendorf zurück. Obwohl der Weg nicht weit war, schleppte Charlotte sich so langsam voran, dass sie den Rest der Gruppe aus den Augen verlor. Sie war vollkommen erschöpft, ihre Finger waren wund, und der Rücken tat ihr so weh, dass sie sich nicht aufrichten konnte.

Als sie endlich in die Hütte trat, saß Noah schon am Tisch und aß seinen Maisbrei.

Ohne ein Wort schleppte Charlotte sich zum anderen Hocker und ließ sich darauffallen. Dann legte sie ihren Kopf auf den Tisch. Sie fühlte sich krank.

Noah aß weiter. Er hatte nicht die Absicht, als Erster das Schweigen zu brechen, das seit dem Streit am Vortag zwischen ihnen herrschte. Aber als er das Blut an Charlottes Händen sah, tat sie ihm leid. Die Schnitte waren sehr tief, die Finger waren geschwollen, und auf großen Teilen der Handflächen sah man das offene Fleisch.

«Das muss sehr wehtun», sagte Noah mitfühlend.

Charlotte drehte den Kopf auf dem Tisch und sah ihn an. Ihre Wangen waren stark gerötet. «Es geht mir nicht gut.»

Noah fühlte ihre Stirn. Sie war glühend heiß. «Sie haben Fieber. Sie haben zu viel Sonne abbekommen. Wir müssen das Fieber irgendwie senken.»

«Und wie willst du das anstellen, Doktor?»

«Mir fällt schon etwas ein, vertrauen Sie mir.»

Ungläubig lächelnd schloss Charlotte die Augen. «Fast hätte ich vergessen, wie gern du deine große hässliche Nase in die Medizinbücher gesteckt hast, die meine Mutter dir geschenkt hat», murmelte sie, bevor sie einschlief.

Als sie die Augen wieder öffnete, stand eine Schüssel mit Wasser vor ihr auf dem Tisch.

«Legen Sie die Hände hinein», befahl Noah.

In dem Trog war eine gelbliche Flüssigkeit.

«Was ist das?»

«Johanniskraut. Als Sie eingeschlafen sind, habe ich draußen ein paar Pflanzen gesammelt. Es wird ein wenig brennen, aber die Wunden werden schneller verheilen.»

Sie zögerte.

«Wenn Sie nicht wollen, dass die Hände sich entzünden, sollten Sie tun, was ich sage.»

Charlotte gehorchte. Das Wasser war lauwarm. Zuerst brannte es wirklich, aber dann ließ der Schmerz langsam nach, und die Wunden hörten auf zu bluten.

«Morgen werde ich nicht arbeiten können.»

«Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben.»

«Aber meine Hände … Und ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Ich habe Fieber.»

«Den Herren ist der Zustand Ihrer Hände egal, und der Ihrer Seele noch mehr. Wenn Sie nicht arbeiten, sind Sie zu nichts nütze, und wenn Sie zu nichts nütze sind, hat es keinen Zweck, Sie durchzufüttern. Man wird Sie verkaufen.»

«Großartig. Ich will sowieso hier weg.»

«Ich glaube nicht, dass Sie das wollen», sagte er und sah ihr direkt in die Augen, überrascht, dass sie so wenig von der Welt wusste.

«Warum sollte ich das nicht wollen? Es kann nichts Schlimmeres geben als das hier.»

«Es gibt neben dem Baumwollpflücken nur eines, was eine so schöne Sklavin wie Sie tun kann.»

«Willst du damit sagen, dass …?»

«Sklavinnen mit heller Haut sind begehrte Ware in den Bordellen der Stadt. Dort landen sie irgendwann alle.»

«Das ist nicht wahr!»

«Wie viele Sklavinnen mit heller Haut haben Sie gekannt? Ich meine keine Mulattinnen. Ich meine Sklavinnen, die auch Weiße sein könnten.»

Charlotte senkte den Kopf.

«Jetzt wissen Sie, warum Sie morgen arbeiten müssen, bis Sie umfallen. Nach allem, was ich gehört habe, ist der Aufseher ein fairer Mann. Wenn Sie sich Mühe geben, wird er vielleicht erlauben, dass Sie hierbleiben.»

Als das Wasser abgekühlt war, wies Noah Charlotte an, die Hände aus der Schüssel zu nehmen. Vorsichtig trocknete er die wunde Haut ab und bedeckte sie mit dünnen Stoffstreifen, die er zuvor abgekocht und getrocknet hatte. Danach machte er Charlotte einen Kräutertee mit einer Prise Salz.

«Trinken Sie. Das wird Ihnen guttun.»

Charlotte nahm die Tasse und führte sie an die Lippen. Der Tee war heiß, und sie trank nur in langsamen, kleinen Schlucken.

«Sie müssen Flüssigkeit aufnehmen. Es war unklug, ohne Kopfbedeckung in der Sonne zu arbeiten. Sie sind nicht daran gewöhnt.»

Erst nachdem sie noch drei weitere Tassen Tee getrunken hatte, erlaubte Noah ihr, sich hinzulegen.

«Warum hilfst du mir, Noah? Nachdem ich dich all die Jahre lang schlecht behandelt habe … Ich verstehe nicht, wie du mich ertragen kannst», sagte Charlotte beschämt.

Bevor er ihr antwortete, vergewisserte er sich, dass sie auch gut zugedeckt war.

«Jemand, der fähig ist, für seine Schwester ein solches Schicksal auf sich zu nehmen, hat meinen Respekt verdient.»

«Du weißt es also», sagte Charlotte mit Tränen in den Augen.

Noah nickte.

«Hat meine Mutter …?»

«Nein, Miss Charlotte. Sie hat mir nie etwas gesagt und auch nicht geahnt, dass ich es wusste.»

«Wie hast du es dann erfahren?»

«Ich habe es aus Zufall entdeckt, als ich noch ein Junge war.»

«Erzähl mir davon.»

«Es ist schon so lange her.»

«Bitte …»

«Na gut, ich erzähle es Ihnen», willigte Noah ein und stellte seinen Hocker neben Charlottes Bett. «Es ist sonderbar, obwohl ich schon lange nicht mehr daran gedacht habe, ist die Erinnerung noch ganz deutlich. Ich war noch ein Kind. An diesem Tag gab es nicht so viel auf den Feldern zu tun, und als die Schulstunden um waren, hat Mr. Owen mir frei gegeben. Ich weiß noch, wie ich mich gefreut habe. Ich beschloss, den freien Nachmittag zu nutzen, um ein bisschen Fleisch zu besorgen, und wollte am Fluss Frösche fangen.»

Charlotte verzog angeekelt das Gesicht.

«Ja, ich weiß, es hört sich nicht sehr appetitlich an, aber auch wenn Sie es nicht glauben, Frösche sind viel leckerer als Maisbrei», sagte Noah belustigt. «Da war ich jedenfalls und verfolgte gerade einen riesigen Frosch, als ich Herrin Katherine neben Mollys Grab entdeckte. Alle auf der Plantage kannten die Geschichte von der weißen Sklavin und ihrem toten Baby. Ihre Mutter sollte mich nicht sehen, und so versteckte ich mich hinter dem großen Felsen am Fluss. Sie legte frische Blumen auf das Grab und fing an zu reden. Ich wollte nicht lauschen, aber ich konnte es nicht verhindern. Ich hörte, wie Ihre Mutter Molly erzählte, dass sie beruhigt sein solle, dass es ihrer Tochter Hortensia gutgehe.»

«Und du hast es niemandem gesagt?»

Noah schüttelte mit dem Kopf.

«Nicht einmal deiner Mutter?»

«Nein.»

«Aber warum? Mein Vater hätte alles für diese Information gegeben.»

«Alles außer dem, was ich haben wollte», gestand Noah mit einem Anflug von Trauer. «Was hätte ich davon gehabt, es ihm zu erzählen? Es hätte nur Hortensia und Ihrer Mutter geschadet. Und ich habe Miss Hortensia immer sehr gemocht.»

Charlotte dachte daran, dass sie ihn nur einen Tag zuvor als treulos beschimpft hatte. Wie falsch hatte sie ihn beurteilt! Sie war hochmütig und gefühllos gewesen.

«Ich wusste das nicht», sagte sie. «Es tut mir leid.»

«Schon in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen. Es gibt nichts zu verzeihen. Schlafen Sie jetzt, Miss Charlotte. Morgen müssen Sie hart arbeiten.»

Als Noah aufstehen wollte, hielt Charlotte ihn am Handgelenk fest.

«Sag Charlotte zu mir.»

Lächelnd sah er ihr in die Augen.

«Gute Nacht, Charlotte.»

«Gute Nacht, Noah.»

***

Der Tee, den Noah gebraut hatte, hatte dafür gesorgt, dass Charlotte die ganze Nacht durchschlief. Am nächsten Morgen war das Fieber gesunken, und auch ihren Händen ging es besser. Zwar war Charlotte noch etwas schwach auf den Beinen, aber als sie den Maisbrei aufgegessen hatte, den Noah ihr brachte, fühlte sie sich viel besser. Bevor sie auf das Feld gingen, behandelte Noah noch einmal ihre Wunden und verband ihr die Hände. Er fand sogar die Zeit, ihr aus ein paar Bananenblättern einen Hut zu fertigen.

An diesem Tag arbeitete Charlotte ohne Pause. Immer wenn sie merkte, dass der Aufseher sie ansah, arbeitete sie noch schneller. Zwar spürte sie ihre Hände wieder, aber Noahs Verband hielt. Sie pflückte acht Körbe und hörte erst auf, als sie sicher war, dass sie die Letzte auf dem Feld war. Der Aufseher hatte sie aus der Ferne beobachtet, und als die Sklaven sich auf den Rückweg ins Hüttendorf machten, bemerkte Charlotte, dass er sie mit einem veränderten Blick ansah.

Charlottes Körper gewöhnte sich überraschend schnell an die harte Arbeit. Aber wenn Noah sich nicht so gut um sie gekümmert hätte, wäre sie irgendwann zusammengebrochen. Eigentlich war es der Gedanke an Flucht, der ihr jeden Morgen die Kraft zum Aufstehen gab. Im Geiste war sie ununterbrochen damit beschäftigt, diese Flucht zu planen, und hatte schon Hunderte von Möglichkeiten durchgespielt. Aber nach dem vierten Arbeitstag war sie so erschöpft, dass sie beschloss, sich eine Woche Ruhe zu gönnen. Vorher würde sie nicht ernsthaft daran denken können zu fliehen. Und so vergingen die Tage, und Charlotte fühlte sich immer schwächer. Jeden Abend, wenn sie von den Feldern zurückkam, wollte sie nur noch ins Bett fallen und sagte sich: «Morgen werde ich fliehen. Heute muss ich schlafen.»

Fesseln des Schicksals
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