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Die Räder der Kalesche wollten sich einfach nicht mehr drehen. Der Kutscher versuchte noch ein weiteres Mal, die Steigung anzugehen, aber es war zwecklos. Es hatte gefroren, und die Straße war zu einer Eisbahn geworden.
«Lassen Sie es gut sein. Ich gehe zu Fuß weiter», sagte Brian dem Kutscher.
«Es tut mir leid, Sir.»
Brian wartete, dass der Mann ihm die Tür öffnete, und stieg aus dem Wagen.
Zwar hatte er nicht gewusst, in welcher Ecke von Fort Hill die Adresse lag, die er suchte, aber er hätte doch niemals erwartet, dass sie sich in diesem guten Wohnviertel befand. Er hätte eher angenommen, dass er auf der anderen Seite des Hügels suchen musste, wo sich Immigranten und entlaufene Sklaven eine Bleibe suchten.
«Sind Sie sicher, dass es hier ist?», fragte Brian noch einmal nach, als er die soliden roten Backsteinhäuser in der gepflegten Straße betrachtete.
«Ganz sicher, Sir.»
Zweifellos hatte sein Informant sich geirrt, dachte Brian entmutigt.
Nun, die Adresse, die er von dem Polier bekommen hatte, der sich um die Arbeiten in der Back Bay kümmerte, war die einzige Spur, die er hatte. Wenigstens gab es die Straße überhaupt, sagte er sich und ging los.
Schon nach zwanzig Schritten hatte er gefunden, was er suchte. Brian stand vor dem Haus mit der Nummer vier. Das Haus war zwar keine Villa, aber doch ein solides Backsteingebäude mit zwei Etagen, das wahrscheinlich vor nicht allzu langer Zeit erbaut worden war. Die Fensterläden waren kürzlich gestrichen worden, und in den Fenstern zu beiden Seiten der Tür standen hübsche grüne Blumentöpfe mit rosaroten Geranien.
Noch einmal überprüfte Brian die Hausnummer und betätigte dann den glänzenden Türklopfer.
Charlotte saß im Salon und trank eine Tasse Schokolade, während Hortensia und Noah in der Küche den Abwasch erledigten. Sie vernahm ein Klopfen an der Tür.
«Wahrscheinlich ist es Mrs. Towers», rief Charlotte, machte aber keine Anstalten aufzustehen.
Sekunden später klopfte es erneut.
«Sie bleibt einfach sitzen!», schimpfte Hortensia und warf das Küchenhandtuch auf den Tisch.
«Ich gehe», bot Noah sich an.
«Nein, ich gehe schon. Du hast ganz nasse Hände.»
Schnell zog Hortensia sich die Schürze aus, überprüfte im Spiegel den Sitz ihrer Frisur und ging zur Tür. Als sie in die Diele kam, stellte sie fest, dass Charlotte nur zwei Meter von der Tür entfernt in einem Sessel saß.
«Es wäre wohl zu viel von dir verlangt, die Tür zu öffnen, Charlotte?»
Charlotte verzog das Gesicht.
«Du weißt doch, wie anstrengend Mrs. Towers ist, Hortensia. Wenn ich selbst gehe, wird die Schokolade kalt.»
Inzwischen klopfte es zum dritten Mal. Seufzend ging Hortensia zur Tür und öffnete.
Als Brian sich dem samtweichen Gesicht einer blonden Frau gegenübersah, mit Augen so blau wie der Ozean, war er endgültig davon überzeugt, sich in der Tür geirrt zu haben.
«Verzeihen Sie», sagte Brian und konnte den Blick nicht von der engelsgleichen Gestalt abwenden. «Ich glaube, ich habe mich geirrt. Ich suche Arch Street 4.»
«Dann sind Sie richtig», antwortete Hortensia mit einem bezaubernden Lächeln. Sobald sie die unbekannte Stimme vernommen hatte, war auch Charlotte in die Diele gekommen.
«Wer ist denn da?», fragte sie und streckte ihre Nase zur Tür heraus.
«Pardon», entschuldigte Brian sich aufs Neue. «Mein Name ist Brian O’Flanagan.»
«Guten Tag, Mr. O’Flanagan», begrüßte Hortensia ihn. «Das ist meine Schwester Charlotte, ich bin Hortensia.»
«Es freut mich, Miss …»
«Lacroix.»
Brian lüpfte leicht seinen Hut.
«Können wir Ihnen irgendwie helfen?», fragte Hortensia.
«Ich suche einen Mann, der Noah heißt, aber ich denke, ich bin hier wohl falsch.»
«Sie suchen Noah?», fragte Charlotte neugierig.
«Kennen Sie ihn denn, Madam?»
«Natürlich kennen wir ihn. Er wohnt hier.»
Brian lächelte.
«Vielleicht könnte ich mit ihm sprechen?»
Charlotte und Hortensia sahen sich kurz an.
«Kommen Sie herein», sagte Hortensia und machte die Tür weit auf.
Bevor er über die Schwelle trat, klopfte der Unbekannte sich sorgfältig den Schnee von den Schuhen und nahm seinen Hut ab.
«Bitte», sagte Hortensia, nahm den Hut in Empfang und legte ihn auf die Anrichte. «Geben Sie mir doch Ihren Mantel.»
«Gern, vielen Dank», nickte Brian. Darunter kam ein eleganter schwarzer Anzug zum Vorschein.
Hortensia geleitete den Herrn in den kleinen Salon.
«Möchten Sie einen Tee oder Schokolade?»
«Nein, danke. Ich werde nur einen Moment bleiben», sagte Brian.
«Warten Sie doch bitte, ich werde Noah Bescheid sagen, dass Sie da sind», entschuldigte sich Hortensia. Der geheimnisvolle Besucher blieb in Charlottes Begleitung zurück.
Der Salon war lang und schmal und in hellem Blau tapeziert. Auf dem Boden lag der gleiche Teppich mit Fliedermuster wie auf dem Parkett in der Diele. Es gab nicht viele Möbel. Ein schwarzer Lacksekretär, eine cremefarbene Sofagarnitur und die beiden Armsessel, in denen er und Charlotte Platz genommen hatten. Daneben stand nur noch ein Beistelltischchen mit einer Tasse mit Schokoladenresten darauf. Bis auf ein Bild von einer Seelandschaft in einem vergoldeten Rahmen und den indigoblauen Gardinen vor dem einzigen Fenster waren die Wände fast nackt. Aber obwohl der Raum so schmucklos war, kam er Brian gemütlich vor.
«Wir wohnen hier noch nicht sehr lange», entschuldigte Charlotte sich, die die Gedanken ihres Gastes erraten konnte.
«Kommen Sie von weit her?»
«Aus dem Süden», antwortete Charlotte ausweichend, aber ihr Akzent hatte das ohnehin schon verraten. «Und Sie, Mr. Flanagan? Sind Sie von hier?»
«Ja, Madam, ich wohne in der Beacon Street», antwortete Brian und blickte in die faszinierenden grünen Augen.
Brian O’Flanagan musste etwas über dreißig sein, dachte Charlotte. Aber abgesehen von ein paar beginnenden Stirnfalten wirkte seine perfekt rasierte Gesichtshaut wie die eines Zwanzigjährigen, und Charlotte war überrascht, dass jemand mit so hellen Haaren so dunkle Augen haben konnte.
«Kennen Sie die Straße?»
«Dem Namen nach, Mr. O’Flanagan», antwortete Charlotte und dachte bei sich, dass dieser attraktive Mann reich sein musste, wenn er in einer so guten Lage wohnte.
Gerade wollte Brian die junge Dame einladen, einmal sein Haus zu besuchen, als ihre Schwester in Begleitung eines farbigen Mannes erschien.
«Noah?», fragte Brian und stand sofort auf.
Noah nickte.
«Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich bin Brian O’Flanagan.»
«Es freut mich, Mr. O’Flanagan», antwortete Noah und schüttelte misstrauisch die Hand des Fremden.
«Sie können sich nicht vorstellen, wie lange ich gebraucht habe, um Sie zu finden. Schon seit Wochen bin ich auf der Suche nach Ihnen.»
Diskret zog Hortensia ihre Schwester am Arm, aber Charlotte war viel zu neugierig, um Noah mit Mr. O’Flanagan allein zu lassen.
«Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Ihnen ewig dankbar bin.»
Obwohl man es Noah kaum ansah, merkte Charlotte doch, dass er genauso neugierig war wie sie selbst.
«Entschuldigen Sie, Mr. O’Flanagan, aber ich glaube, Sie irren sich», sagte er etwas verwirrt. «Ich habe gewiss nichts getan, was diese Dankbarkeit verdient.»
«Oh, es tut mir leid, ich glaube, ich habe mich nicht angemessen vorgestellt», sagte Brian jetzt lächelnd. «Ich bin der Vater von Peter, dem kleinen Jungen, dem Sie vor zwei Wochen das Leben gerettet haben.»
Charlotte drehte sich zu Noah um. Das war also der Grund für die Verletzungen gewesen.
«Wie geht es dem Jungen?», fragte Noah. «Ich konnte gerade einmal feststellen, dass er unverletzt war.»
«Er hat noch manchmal Albträume, aber sonst hat er nur ein paar blaue Flecken davongetragen. Und das verdanke ich Ihnen. Mir wurde berichtet, dass Sie sich vor die Kutsche geworfen haben. Und dass Sie sogar verletzt wurden», sagte er und blickte auf die Narbe auf Noahs Stirn.
«Mir ist nichts passiert, Sir. Aber ich freue mich zu hören, dass es dem Jungen gutgeht.»
«Noch einmal danke. Ich weiß, dass ich niemals wiedergutmachen kann, was Sie für meine Familie getan haben, aber ich möchte Ihnen wenigstens auf diese Art meine Dankbarkeit zeigen», sagte er, zog einen dicken Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und streckte ihn Noah hin.
«Das kann ich auf keinen Fall annehmen», sagte Noah, als er begriff, dass es sich um Geld handelte.
«Bitte», drängte O’Flanagan.
Aber Noah schüttelte den Kopf.
Gerade wollte Charlotte den Umschlag für Noah annehmen, als Hortensia ihre Hand festhielt.
Niemals hätte Brian es für möglich gehalten, dass ein Mann, der in der Back Bay Erde und Kies schaufelte, ohne mit der Wimper zu zucken einen Jahreslohn ablehnte.
«Ich wollte Sie nicht verletzen. Ich weiß, dass ich mit keinem Geld der Welt bezahlen kann, was Sie getan haben. Ich werde immer in Ihrer Schuld stehen. Bitte nehmen Sie es an.»
«Es tut mir leid, aber das kann ich nicht. Aber ich freue mich, dass Sie persönlich gekommen sind, um mir Ihren Dank auszusprechen.»
«Wie Sie meinen», gab Brian auf und steckte den Umschlag wieder weg. «Vielleicht … In drei Tagen werden ein paar Freunde und Verwandte bei mir zu Gast sein, um das neue Jahr zu begrüßen. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie meine Einladung für diesen Abend annehmen. Natürlich hoffe ich, dass Sie ebenfalls kommen», sagte er zu Charlotte und Hortensia gewandt.
Gerade wollte Noah die Einladung höflich ablehnen, als Charlotte ihm zuvorkam.
«Wir kommen sehr gerne», sagte sie und wich Noahs Blick aus.
«Das freut mich sehr. Dann sehen wir uns in drei Tagen. Mein Kutscher wird Sie um sieben abholen.»
«Du hättest diese Einladung nicht annehmen dürfen», warf Noah Charlotte vor, kaum dass Mr. O’Flanagan aus dem Haus war.
«Warum nicht?»
«Ich fühle mich unbehaglich dabei.»
«Habe ich mich vielleicht nicht unbehaglich gefühlt, als du all dieses Geld abgelehnt hast?»
«Mir erschien es richtig», unterstützte Hortensia ihn.
«Ihr seid dumm und stolz. Mr. O’Flanagan bedeutet dieses Geld rein gar nichts, er ist reich. Hättest du das Geld genommen, wäre er noch genauso reich und noch dazu glücklich. Es ist Weihnachten! Wir hätten ihm die Freude machen sollen, das Geld anzunehmen.»
«Es ging eben nicht», sagte Noah.
«Du bist ein Sturkopf.»
«Das musst gerade du mir sagen!»
«Vielleicht bin ich ein kleines bisschen dickköpfig und vielleicht auch stolz. Aber zum Glück bin ich etwas praktischer veranlagt als ihr beiden. Du willst das Geld nicht, in Ordnung. Wie du willst. Aber nimm wenigstens die Einladung an. Hortensia und ich sind kein einziges Mal ausgegangen, seit wir vor über einem Jahr in Boston angekommen sind. Wir kennen niemanden, und diese Einladung ist die perfekte Gelegenheit, einmal unter Leute zu kommen», sagte sie bittend.
«Meinetwegen brauchst du das nicht, Noah», warf Hortensia ein. Aber Charlotte ließ nicht locker.
«Schlag die Einladung nicht aus, Noah. Ich gebe ja zu, dass ich so gern auf ein Fest gehen möchte. Ich vermisse die Musik, die Leute … Ich liebe Feste. Ist das etwa eine Sünde?»
Noah fühlte sich fast etwas egoistisch. Er war sich bewusst, dass Charlotte freiwillig auf viele Dinge verzichtet hatte, seitdem sie ihr Elternhaus verlassen mussten.
«Meinetwegen», gab er seufzend nach. «Aber ich werde es bestimmt bereuen.»
«Wir werden ja sehen.»