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Erst Mitte Mai konnte der Frühling den Winter vertreiben. Am ersten wärmeren Sonntag, an dem man die dicken Wintercapes im Schrank lassen konnte, zogen Hortensia und Charlotte ihre hübschen neuen Kleider an und tauschten die dicken Filzhüte gegen elegante Florentinerhüte. Nach der Kirche ging Noah zurück nach Hause, um zu lernen, während Charlotte und Hortensia einen Spaziergang durch den Boston Common machten.

Der Park war wunderschön. Die Bäume hingen wieder voller Blätter, und die Blumen waren aus dem langen Winterschlaf erwacht und ließen die Beete im Glanz ihrer Farben erstrahlen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen, die die gleiche Idee gehabt hatten, schlenderten Charlotte und ihre Schwester über die Sandwege.

Schließlich verließen sie den breiten Weg, auf dem anscheinend ganz Boston unterwegs war, und setzten sich nahe am Ufer des Teiches ins Gras. Ein paar Schwäne bewegten sich elegant über das blaue Wasser und schnappten nach den Brotbrocken, die eine Gruppe Kinder ihnen zuwarf.

«Wie schön es ist», rief Hortensia aus und hielt ihr Gesicht in die Sonne.

«Ich hatte schon Angst, dass ich diese Wärme nie wieder auf meiner Haut spüren würde», nickte Charlotte und legte ihren Hut ab.

«Weißt du, Charlotte, ich hätte nie gedacht, dass mir die Sonne so sehr fehlt.» Einer der Schwäne richtete sich flügelschlagend auf und brachte die Kinder zum Lachen.

«Ich auch nicht», sagte Charlotte und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

Die Zeit schien stillzustehen. Die Stimmen der Passanten rückten in den Hintergrund, bis man nur noch das Singen der Vögel hörte. Die Schwestern schwiegen, in ihre eigenen Gedanken versunken.

Auf einmal spürte Charlotte einen Schatten zwischen sich und der Sonne und schlug die Augen auf.

«Scott!», rief sie überrascht aus. Sie hatten gar nicht gehört, wie er herangekommen war.

«Guten Tag, die Damen», sagte er und trat nur so weit zurück, dass Charlotte wieder in der Sonne saß. Ihr Blick fiel auf Brian, der noch auf dem Gehweg stand. «Wir sind mit Peter hier. Er wollte die Schwäne füttern.»

Scott zeigte auf einen kleinen Jungen, der am Ufer stand und ein großes Stück Brot ins Wasser warf.

Brian winkte ihnen zu und kam näher.

«Die Damen Lacroix», grüßte er und hob höflich die Hand an den Hut. «Es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.»

«Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite», antwortete Hortensia.

«Wir wollten einen Spaziergang machen. Vielleicht haben Sie Lust, uns zu begleiten?», fragte er und hielt Hortensia seine Hand hin.

«Miss Lacroix», ahmte Scott ihn nach und bot Charlotte seine Hand mit einer komischen Verbeugung.

«Mit Vergnügen», antwortete sie und sprang auf.

Dann gingen die beiden ein paar Meter hinter Hortensia und Brian her zu Peter.

«Onkel, die Schwäne haben alles gefressen, was ich ihnen gebracht habe», erklärte der Junge und kippte die Papiertüte aus, um zu zeigen, dass sie leer war.

«Sie haben nach dem harten Winter wohl großen Hunger gehabt. Zum Glück hast du an sie gedacht.»

«Es sind ja auch noch andere Leute gekommen», sagte das Kind bescheiden.

«Stimmt, Peter. Ihr habt das alle sehr gut gemacht.» Bei diesen Worten breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Kleinen aus.

«Ich sehe, du hast ein Händchen für Kinder», flüsterte Charlotte ihm zu.

«Wahrscheinlich bin ich selbst noch ein bisschen ein Kind.»

Langsam schlenderten sie zur Brücke, die über den Teich führte. Von der Mitte hatte man einen wundervollen Blick. Hortensia und Brian waren einfach weitergegangen, aber Charlotte blieb stehen und sah über den Park. Sie atmete tief ein.

«Was für ein wunderschöner Anblick.»

Scott stand neben ihr und betrachtete sie aufmerksam. Die Sonne hatte ein wenig Farbe auf die Wangen der jungen Frau gezaubert. Weil sie auf dem Rasen gelegen hatte, war ihr Haar etwas in Unordnung geraten, und im Sonnenlicht schienen ihre Augen noch grüner zu strahlen als sonst.

«Wunderschön», sagte er und konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Sie lächelte ihn an.

Als sie ihren Weg fortsetzten, bemerkten sie zwei junge Damen, die sich nach Brian und Hortensia umgedreht hatten und im Weitergehen auch Charlotte von oben bis unten taxierten.

«Guten Tag», grüßte Scott sie freundlich.

Die beiden Frauen antworteten mit einem höflichen Nicken.

«Anscheinend weckt ihr die Neugierde der Passanten», flüsterte Scott Charlotte ins Ohr. Und tatsächlich: Nur ein paar Schritte weiter kamen wieder zwei junge Frauen an ihnen vorbei.

«Guten Tag, Scott», grüßte ihn die größere der beiden und musterte eingehend seine grünäugige Begleiterin.

«Guten Tag, Susan. Lauren.»

Auch Charlotte ließ sich nichts entgehen. Die beiden waren vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als sie selbst – in einem Monat würde sie dreiundzwanzig werden. Man sah an den studierten Bewegungen und den Kleidern, dass sie zur besten Gesellschaft gehörten. Und sie waren beide hübsch und blond. Nach der Gesichtsform zu urteilen, waren es Schwestern, und der feindselige Blick, den Lauren ihr zuwarf, verriet allzu deutlich, dass sie an Scott interessiert war.

«Du bist also ein Herzensbrecher», sagte Charlotte, als sie an ihnen vorbei waren. «Mein Gott, kennst du eigentlich alle Frauen in Boston?»

«Nur die heiratsfähigen jungen Damen aus den besten Familien.»

Charlotte lächelte.

Gegen Mittag verabschiedeten sie sich, und Brian lud sie zu einem Picknick am nächsten Wochenende ein. Eine wunderbare Gelegenheit, die gute Bostoner Gesellschaft besser kennenzulernen.

Auch Noah war eingeladen, aber sie entschuldigten ihren Bruder damit, dass er lernen müsste. In Wirklichkeit würde er sich unter Brians Gästen unbehaglich fühlen, genauso wie Brians Gäste in seiner Gegenwart.

***

Noch ehe sie sichs versahen, war der Tag von Noahs Prüfung gekommen. Charlotte, Hortensia, Scott und Brian begleiteten ihn zur medizinischen Fakultät.

«Du wirst es gut machen», munterte Scott ihn auf, bevor er in den Hörsaal gerufen wurde.

«Ich weiß nicht, Scott. Ich habe das Gefühl, als könnte ich mich an nichts mehr erinnern.»

«Hab Vertrauen. Alles wird gut.»

Brian drückte ihm die Hand, Hortensia gab ihm einen Kuss auf die Wange, und Charlotte lächelte ihm ermutigend zu.

«Glaubst du wirklich, dass er besteht?», fragte Charlotte Scott, als Noah hinter der Tür verschwunden war.

«Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran.»

«Er muss bestehen, Scott. Es ist wichtig für ihn.»

«Er wird es schaffen.»

«Versprich es mir», sagte sie und sah ihm in die Augen.

Ihr Blick war wie Feuer in seiner Seele. Sie vertraute ihm. Er hätte ihr alles versprochen.

«Ich verspreche es dir, Charlotte.»

Sie lächelte.

Zwei Stunden später kam Noah zurück. Charlotte lief ihm eilends entgegen.

«Wie war es?»

«Ich glaube, gut.»

«Du glaubst? Haben sie denn nichts gesagt?»

Noah schüttelte den Kopf und sah zu Boden. «Wir müssen warten.»

«Wie lange?»

Er zuckte mit den Schultern.

«Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll», gestand Charlotte seufzend.

«Mach dir keine Sorgen, Noah», sagte Hortensia beruhigend. «Du hast bestimmt bestanden.»

Noah versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. All die Mühen. All die Hoffnungen. Und jetzt hing alles von diesen fünf Männern ab, die ihn unentwegt befragt hatten. Wieder lag sein Schicksal in den Händen weißer Männer. Im Geiste ging Noah seine Antworten noch einmal durch. Sie waren klar und eindeutig gewesen. Er hatte kein einziges Mal gezögert und war davon überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Aber sicher konnte er trotzdem nicht sein. Während der Prüfung hatte er die Gesichter der Professoren beobachtet. Keiner hatte ihm zugelächelt. Ihre Mienen waren ernst gewesen.

«Wie es auch immer ausgeht, ich möchte euch danken.»

Charlotte wollte protestieren, aber Noah ließ sie nicht zu Wort kommen. «Doch, ich möchte euch danken. Euch, liebe Schwestern, weil ihr mir diese Chance verschafft habt, und dir, mein Freund, weil du so viel Vertrauen in mich gesetzt hast.» Er ergriff Scotts Hand und drückte sie. «Ich danke euch.»

Eine halbe Stunde später kam ein Diener heraus und bat Noah zurück in den Saal. Charlotte wollte ihn unbedingt begleiten, musste aber mit den anderen im Gang warten.

«Ich kriege gleich einen Herzanfall», gestand sie nach fünf Minuten. «Warum brauchen die so lange, um das Resultat bekannt zu geben?»

«Quäl dich nicht», sagte Scott, in Wirklichkeit kaum weniger nervös unter der gelassenen Oberfläche. «Wir können nichts tun als warten.»

Erst nach fünf unerträglich langsam vergehenden Minuten kam Noah zurück.

«Und?», fragte Charlotte sofort.

Als sie sah, dass Noah Tränen in den Augen hatte, spürte sie, wie sich ihr Herz zusammenzog.

«Ich habe bestanden!», brachte Noah heraus, der seinen eigenen Worten kaum glauben konnte. «Ich werde Arzt!»

«Ich habe es gewusst!», rief Charlotte und fiel ihm um den Hals. Auch Hortensia umarmte ihren Bruder.

«Herzliche Glückwünsche!»

Brian wollte sie unbedingt zum Abendessen einladen, aber Noah lehnte ab. Er war müde. Nach den aufwühlenden letzten Stunden musste er allein sein. Er wollte sich nur hinlegen und bis zum Morgen schlafen. Brian drängte ihn nicht. Aber Noah überzeugte seine Schwestern davon, die Einladung trotzdem anzunehmen.

Noahs Glück war nicht vollkommen. Auf New Fortune wäre er zu Herrin Katherine gelaufen und hätte ihr die freudige Nachricht überbracht. Sie war es, die dieses Wunder möglich gemacht hatte. Und dann war da noch seine Mutter. Seine Mutter, dachte Noah und fühlte Schuldgefühle in sich aufsteigen. Sie war noch immer im Süden. Weit weg. Bestimmt machte sie sich Sorgen um ihn. Sie war zur Sklaverei verdammt, während sich ihm eine neue Welt voller Möglichkeiten eröffnet hatte. Aber das würde anders werden, schwor er sich. So bald wie möglich würde er sie holen.

***

Nachdem sie im besten Restaurant der Stadt gegessen hatten, brachten Brian und Scott die beiden Schwestern nach Hause. Wie immer hatte Brians Kutsche an der Ecke zur Arch Street gehalten, und die vier liefen das letzte Stück zu Fuß.

«Wo bleiben sie nur?», fragte Charlotte und drehte sich um.

Brian und Hortensia waren vor der Kutsche stehen geblieben.

«Sie sind ein schönes Paar», sagte Scott.

«Wer?»

«Mein Bruder und Hortensia. Ich denke, sie werden zusammen sehr glücklich werden.»

Plötzlich wurde Charlotte ernst.

«Was willst du damit sagen?»

«Das liegt doch auf der Hand, Charlotte. Mein Bruder will Hortensia heiraten.»

Charlotte hatte das Gefühl, als ob ihr jemand eine Ohrfeige versetzt hätte. Wie hatte sie das nicht sehen können. Sogar ein Blinder hätte es bemerkt. Hortensias Lächeln, wenn sie Brian erblickte. Seine ständigen Einladungen. Scott hatte recht.

«Glaubst du, dass sie seinen Antrag annehmen wird?»

«Das glaube ich nicht», sagte sie, drehte sich um und machte die Haustür auf. Scott folgte ihr.

«Du musst sie gehen lassen, Charlotte.»

«Ich weiß nicht, was du meinst.»

«Doch, du weißt es sehr wohl. Sie liebt ihn. Aber Hortensia betet dich an. Sie wird ihn nicht heiraten, wenn sie glaubt, dass du dann enttäuscht bist.»

«Das ist doch Unsinn.»

In diesem Moment kam Hortensia angerannt und fiel ihrer Schwester weinend um den Hals. Scott verabschiedete sich schnell und ging zu seinem Bruder, der mitten auf der Straße stehen geblieben war.

Charlotte hielt ihre Schwester fest im Arm und zog sie ins Haus. «Was ist los?»

«Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte.»

Charlottes Herzschlag beschleunigte sich.

«Und, willst du?»

Hortensia antwortete nicht.

«Sag schon», drängte Charlotte sie.

«Ich habe nein gesagt!», sagte sie und schluchzte verzweifelt.

«Beruhige dich, Hortensia. Es war sicher nicht leicht, aber wenn du ihn nicht liebst, konntest du nichts anderes tun!»

«Aber ich liebe ihn doch!», gestand sie.

Wie ein Messer schnitten diese Worte in Charlottes Herz.

«Wenn du ihn liebst, warum hast du dann abgelehnt?»

Aber Charlotte kannte die Antwort ja schon. Sie war selbst ein Teil des Problems. Scott hatte recht gehabt. Wenn Hortensia heiratete, würde so vieles anders werden.

«Mir wird es gutgehen», log Charlotte. «Es ist doch auch nicht weit. Ich werde euch besuchen.»

«Es ist nicht nur deswegen.»

«Weswegen dann?»

«Du weißt es doch. Wenn er entdeckt, wer ich bin …», brach es mit erstickter Stimme aus ihr heraus.

Charlotte sah ihre Schwester an. Erst jetzt verstand sie ihre Angst.

«Denk nicht daran. Es ist egal, wer deine Mutter war. Du bist Hortensia. Der liebste und freundlichste Mensch auf der Welt. Sei glücklich, Schwesterchen. Nimm an, was das Leben dir bietet. Denke einmal im Leben nur an dich. Heirate ihn. Brian muss nichts davon wissen. Er will es gar nicht wissen.»

Charlottes Worte waren tief aus ihrem Herzen gekommen. Aber Hortensia schüttelte den Kopf.

«Das habe ich mir auch gesagt, Charlotte, aber ich kann nicht. Ich kann ihn nicht belügen. Ich muss es ihm sagen.»

«Nein! Das musst du nicht. Du schuldest ihm nichts, Hortensia. Wozu sollte es gut sein?»

«Ich weiß es nicht», gestand Hortensia und sah ihre Schwester traurig an. «Aber ich kann kein gemeinsames Leben mit ihm beginnen, wenn dieses Geheimnis zwischen uns steht. Das würde ich nicht aushalten. Lieber ertrage ich jetzt seine Verachtung, als ein Leben lang Angst vor dem Moment zu haben, in dem er es doch erfährt.»

«Tu es nicht, Hortensia», bat Charlotte sie und ergriff ihre Hand. «Heirate ihn einfach und sei glücklich.»

«Ich muss es tun, und du weißt das. Ich bin es leid, Charlotte. Ich bin es leid, zu lügen und Angst zu haben. Wenn er es erführe, wenn wir verheiratet sind … ich könnte seinen Blick nicht ertragen.»

Zu gut verstand Charlotte, von welchen Blicken ihre Schwester sprach. Sie hatte sie selbst auf sich gespürt, als die Leute sie für eine Sklavin gehalten hatten.

«Wenn er etwas erfährt, sagen wir einfach, dass ich Mollys Tochter bin. Niemand kann uns das Gegenteil beweisen.»

«Diesmal nicht, Charlotte. Du sollst dich nicht noch einmal für mich opfern. Versteh das bitte», flehte Hortensia sie an. «Ich muss es ihm sagen. Irgendwie schulde ich es auch meiner leiblichen Mutter. Du musst mir einmal erlauben, meinem Schicksal selbst die Stirn zu bieten.»

Hortensia setzte sich zwar nur selten etwas in den Kopf, wenn sie es dann aber doch tat, konnte niemand sie davon abbringen. Am nächsten Morgen nahm sie eine Kutsche und fuhr zu Brian. Und sie wollte sich nicht einmal von Charlotte begleiten lassen. Hortensia hatte eine Entscheidung getroffen.

***

Hortensia wurde in den kleinen Salon neben dem Empfang geführt. Sie hatte sich noch gar nicht überlegt, wie sie anfangen wollte, als Brian durch die Tür kam.

«Guten Tag, Hortensia», sagte er und sah sie fragend an.

«Hallo, Brian.»

«Bitte nimm doch Platz.»

Sie setzte sich und wartete, bis auch er saß.

«Ich freue mich, dich zu sehen. Nach dem gestrigen Abend hätte ich nicht gedacht, dass du noch einmal hierherkommst. Ich …», stotterte er. «Ich wollte dich nicht kränken. Ich dachte … es tut mir leid.»

«Nein, Brian. Du hast schon richtig gedacht.»

Brians dunkle Augen schienen sich etwas aufzuhellen.

«Dann verstehe ich nicht …?», sagte er.

«Ich kann nicht deine Frau werden. Nicht weil ich nicht wollte, sondern weil du mich sicher nicht noch einmal darum bitten wirst, wenn du die Wahrheit kennst.»

Brian wollte das abstreiten, aber Hortensia unterbrach ihn.

«Nein, warte. Lass mich ausreden. Ich musste all meinen Mut zusammennehmen, um hierherzukommen.» Mit fester Stimme fuhr sie fort.

«Eigentlich ist mein Nachname nicht Lacroix, sondern Parrish.»

Diese erste Enthüllung schien keine Wirkung auf Brian zu haben. Er hörte weiterhin aufmerksam zu.

«Und obwohl ein Teil meiner Familie wirklich aus New Orleans stammt, bin ich in Virginia geboren und aufgewachsen, wo mein Vater der Besitzer einer der größten Plantagen des Staates ist.»

«Hortensia, ich weiß nicht, welche Bedeutung …»

«Es wird für dich von Bedeutung sein», sagte sie und bat ihn, weiter zuzuhören. «Lacroix ist der Name meiner Mutter. Katherine Lacroix war eine außergewöhnliche Frau. Sie hatte eine Sklavin, mit der sie zusammenlebte, seitdem sie Kinder gewesen waren. Sie liebte sie wie eine Schwester. Molly war ihr Name. Sie war sehr schön, ihre Haut war wie Elfenbein, und sie hatte grüne Augen. Der Anteil schwarzen Blutes in ihren Adern war nur gering, aber im Süden genügte das, um sie zu einer Sklavin zu machen.» Nach einer kurzen Pause sprach Hortensia weiter. «Mein Vater hat sie vergewaltigt. Wer weiß, warum. Vielleicht weil er sie attraktiv fand oder weil es ihn kränkte, dass sie so weiß war.»

Hortensia sah Brian an. Reglos wartete er darauf, dass sie ihre Geschichte zu Ende erzählte.

«Mein Vater hat diese Sklavin nicht wieder angerührt, aber es war schon zu spät. Molly war schwanger. Und wie das unergründliche Schicksal es wollte, waren Herrin und Sklavin zur gleichen Zeit schwanger und bekamen sogar in derselben Nacht, im selben Raum ihre Kinder. Die Sklavin hatte eine schwere Geburt und starb, nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte.»

«Noah?»

«Nein, Brian. Sie hat ein Mädchen bekommen. Ein Mädchen mit weißer Haut.»

Jetzt fiel Brian Charlottes Gesicht ein, ihre grünen Augen und der aufrührerische Charakter.

«Also Charlotte …»

«Nein. Es ist nicht Charlotte. Ich bin das Kind mit der weißen Haut. Ich bin die Tochter der Sklavin.»

Jetzt war es gesagt. Es gab kein Zurück mehr. Hortensia hatte ihre größte Angst besiegt.

«Jetzt kennst du die Wahrheit. Deshalb habe ich dein Angebot nicht angenommen. Ich will dich nicht anlügen. Und auch wenn meine Haut und meine Erziehung das Gegenteil behaupten, ich kann dir die Wahrheit nicht verheimlichen. Ich bin eine Schwarze, Brian. Ihr ganzes Leben lang hat Katherine versucht, es vor unserem Vater geheim zu halten. Aber er hat es entdeckt. Deshalb mussten wir fliehen. Früher oder später hättest du es doch erfahren.»

Hortensia wartete ein paar Sekunden. Brian brachte kein Wort heraus.

«Ich verstehe», sagte Hortensia und erhob sich. «Adieu, Brian.»

***

Zu Hause rannte Charlotte hin und her wie ein Tiger im Käfig. Noah spürte, dass etwas nicht stimmte. Hortensia war schon früh weggefahren und noch nicht zurück. Aber Noah fragte nicht. Er hatte gelernt, die Privatsphäre seiner Schwestern zu respektieren.

«Endlich!», rief Charlotte aus, als Hortensia die Tür öffnete. «Wenn du nur eine Sekunde später gekommen wärst, hätte ich nach dir gesucht.»

Langsam schloss Hortensia die Tür und nahm den Hut ab.

«Hast du es ihm gesagt?», fragte Charlotte, die Hortensias Bedachtsamkeit noch in den Wahnsinn trieb.

Hortensia nickte. Sie wirkte sehr ruhig.

«Und was hat er gesagt?»

«Nichts.»

«Was soll das heißen, nichts?»

«Genau das. Er hat nichts gesagt. Brian hat geschwiegen. Er hat mich nicht einmal angesehen, als ich gegangen bin.»

«Es tut mir so leid, Hortensia.» Charlotte umarmte sie. «Mach dir keine Sorgen. Du wirst einen Mann finden, der dich liebt. Und ich werde dich niemals verlassen.»

«Ich weiß, Schwesterchen. Aber ich fürchte, niemand wird mich je lieben.»

«Sag das nicht.»

«Es stimmt doch. Wir wissen es beide.» Gerne hätte Charlotte etwas dagegen gesagt, aber im Grunde fürchtete sie, dass ihre Schwester recht hatte.

Noah hatte genug gehört, um zu verstehen, was geschehen war.

«Es tut mir leid, Hortensia», sagte Noah. «Ich hätte ihn für couragierter gehalten.»

«Gib nicht ihm die Schuld. Die Dinge sind eben, wie sie sind.»

Kaum hatte sie den Satz beendet, als heftig an die Tür gehämmert wurde. Charlotte lief zum Fenster und sah hinaus.

«Es ist Brian!»

«Ich will ihn nicht sehen.»

Es klopfte wieder, und jetzt hörte man auch Brians Stimme. «Hortensia! Bitte mach auf! Ich muss mit dir sprechen!», rief er.

Hortensia wurde unruhig. Wenn Brian weiter so schrie, würde er noch die ganze Nachbarschaft auf sich aufmerksam machen.

Noah öffnete die Tür einen Spalt.

«Ich muss mit ihr sprechen», sagte Brian zu ihm.

«Es tut mir leid, Brian. Wirklich. Aber sie will dich nicht sehen», sagte Noah entschieden.

«Bitte! Ich muss mit ihr sprechen.»

Noah bewegte sich nicht vom Fleck. Sosehr er Brian auch schätzte, er würde seine Schwester beschützen.

«Bitte», flehte er, und jetzt erklang Hortensias Stimme aus dem Salon. «Es ist gut», gab sie nach. «Lass ihn herein.»

Sofort stürzte Brian ins Haus. Er wirkte verzweifelt. Schnell stellte Noah sich neben seine Schwester.

«Bitte, ich muss mit dir sprechen», bat Brian.

«Es gibt nichts mehr zu sagen, Brian», sagte Hortensia ruhig. «Warum sollen wir uns noch mehr Schmerzen zufügen?»

«Du verstehst nicht! Ich liebe dich, Hortensia! Ich liebe dich mehr als je zuvor. Ich bitte dich um Verzeihung.»

«Du?»

«Wer denn sonst! Ich bitte dich um Verzeihung, weil ich zugelassen habe, dass du auf diese Weise von mir gehst. Ich hätte niemals so reagieren dürfen. Es stimmt, deine Worte haben mich erschreckt. Aber du bist doch immer noch die Gleiche. Bitte, verzeih mir. Ich könnte niemals ertragen, dich zu verlieren. Bitte …» Er sah ihr in die Augen und ergriff ihre Hände. «Heirate mich.»

Charlotte und Noah hielten den Atem an.

«O ja», sagte Hortensia und brach in Tränen aus. Brian nahm sie in die Arme.

Selbst Charlotte und Noah konnten ihre Rührung nicht verbergen.

***

Letztendlich war Charlotte doch glücklich über Brians und Hortensias Verlobung. Eigentlich war sie selbst über diese Tatsache überrascht, denn im Grunde hatte Scott recht gehabt. Obwohl sie es nicht zugeben mochte, wollte sie nicht, dass Hortensia heiratete. Sie wollte nicht, dass ihre Welt sich veränderte. Sie brauchte Hortensia. Immer hatten sie sich gegenseitig umeinander gekümmert. Brian war ein Fremder, der aus dem Nichts aufgetaucht war und ihr das Liebste wegnehmen wollte. Sie war eifersüchtig gewesen, und es hatte ihr wehgetan, dass Hortensia sie und Noah verlassen wollte. Scott hatte das früher als sie selbst begriffen. Aber jetzt hatte sich etwas verändert. Charlotte hatte jetzt erst verstanden, wie sehr ihre Schwester unter dem Geheimnis ihrer Herkunft gelitten hatte. Außerdem erinnerte sie sich daran, dass auch Hortensia schon einmal verliebt gewesen war, und dachte an Robert Ardley zurück. Ihre Schwester verdiente es, glücklich zu sein. Und wenn Charlotte dafür die Ehe mit Brian akzeptieren müsste, dann würde sie das tun. Schließlich war er ein guter Mann. Er liebte ihre Schwester und konnte ihr das Leben bieten, das sie verdiente.

«Noah, wann kommt Scott endlich?», fragte Charlotte ungeduldig. Es war schon fünf vor sechs.

«Scott kommt heute nicht.»

«Warum?»

«Es gibt keinen Grund mehr. Ich brauche keinen Unterricht mehr.»

Charlottes Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht im Traum an diese Möglichkeit gedacht hatte. «Er könnte doch wenigstens weiter zum Essen kommen.»

«Über all den Ereignissen habe ich ganz vergessen, es dir zu erzählen», sagte die jetzt immer vor Glück strahlende Hortensia. «Ich konnte ihn absolut nicht davon überzeugen, weiter bei uns zu essen. Es schien ihm nicht korrekt, unsere Gastfreundschaft auszunutzen. Nun, er wird wenigstens einmal die Woche kommen. Am Freitag.»

«Freitag! Aber heute ist Dienstag!», protestierte Charlotte. «Ich muss mit ihm reden. Ich will, dass er weiß, dass ich mich in etwas geirrt hatte.»

«Du kannst es ihm am Freitag sagen.»

«Das ist viel zu spät.» Es war Charlotte gar nicht recht, dass Scott sie die ganze Zeit für eine Egoistin halten würde. «Ich muss heute mit ihm sprechen!»

Charlotte sprang auf, nahm sich einen Schirm von der Garderobe und ging zur Tür.

«Was tust du?»

«Ich gehe zu ihm.»

«Wohin?»

«Zu ihm nach Hause.»

«Du weißt doch gar nicht, wo er wohnt.»

«Ich nicht. Aber Noah schon», sagte sie und warf ihrem Bruder einen Blick zu. «Ich weiß, dass du öfter bei ihm warst.»

Hortensia drehte sich sofort zu Noah um. «Sag es ihr nicht!»

Noah sah Hortensia an, dann Charlotte. Er hatte versucht sich herauszuhalten, würde aber nun wohl Partei ergreifen müssen.

«Salem Street 6, in der Nähe der Old North Church. Ganz am Anfang der Straße ist ein Laden für Töpferwaren.»

«Noah!», rief Hortensia enttäuscht aus.

Charlotte lächelte ihrem Bruder zu.

«Du kannst nicht einfach so bei ihm zu Hause auftauchen!», versuchte Hortensia auf sie einzureden.

«Warum?»

«Das wäre nicht korrekt, und das weißt du.»

«Unsinn. Scott ist ein Freund.»

Hortensia schwieg. Vielleicht war Scott für Charlotte nur ein Freund, aber jeder, der einmal beobachtet hatte, wie Scott ihre Schwester ansah, wusste, dass er dieses Gefühl nicht teilte. Hilfesuchend blickte sie zu Noah.

Der zuckte nur mit den Schultern. «Charlotte ist eine erwachsene Frau. Sie wird schon wissen, was sie tut. Außerdem hört sie ohnehin nicht auf uns.»

«Ich gehe dann», sagte Charlotte und entschwand durch die Tür.

«Du warst mir wirklich keine große Hilfe, Noah.»

Ernst sah er Hortensia an.

«Vielleicht ist es gut so. Vielleicht ist der Moment gekommen, in dem die beiden sich aussprechen sollten.»

«Das glaube ich nicht, Noah. Charlottes Wunden sind noch nicht verheilt.»


Hastig war Charlotte die Straße hinuntergelaufen. Sie hielt die erste Kutsche an, die vorbeifuhr, und nach einer Fahrt von zwanzig Minuten kamen sie nach Copps Hill, dem höchsten Punkt im North End.

Charlotte gab dem Kutscher ein paar Münzen und stieg aus.

Jetzt musste sie nur noch jemanden nach der Adresse fragen, die Noah ihr genannt und die sie während der Fahrt ständig im Stillen wiederholt hatte.

Wegen der sommerlichen Hitze hatten sich die Anwohner der alten Häuser auf der Straße versammelt. Charlotte war überrascht, dass hier so viele Menschen lebten. Kinder liefen durch die Straßen, und alte Leute saßen auf Stühlen vor ihrer Haustür. Vorsichtig ging Charlotte die Straße entlang. Sie war nicht gepflastert, und Charlotte wollte nicht mit den neuen Schuhen in eine Pfütze treten. Sie konnte keine einzige Hausnummer entdecken und war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt in der richtigen Straße gelandet war.

Als sie schon kehrtmachen wollte, erblickte sie an der nächsten Ecke einen Laden für Töpferwaren.

Zwei vollkommen durchnässte Kinder liefen an ihr vorbei, ohne sie zu beachten, und verschwanden hinter einer der Türen.

«Entschuldigen Sie», sagte Charlotte zu einem alten Mann, der in einem Stuhl döste. «Könnten Sie mir sagen, wo ich die Salem Street Nummer 6 finde?»

Der Mann lächelte freundlich, gab aber keine Antwort.

«Machen Sie sich keine Mühe», rief ihr eine Frau zu, die auf einen Besen gelehnt in einer Tür auf der anderen Straßenseite Wache zu halten schien. «Er versteht kein Wort. Er ist Pole.»

«Dann könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Salem Street 6 finde?», sagte sie zu der Frau gewandt, die jetzt mit dem Besen auf eine harmlose Ameise einschlug, die in ihren Herrschaftsbereich eindringen wollte. Dann lehnte sie sich wieder auf den Besenstiel und zeigte mit dem Daumen hinter sich.

«Das ist hier.»

Erleichtert lächelte Charlotte.

«Wissen Sie vielleicht auch, welches die Wohnung von Scott O’Flanagan ist?»

Jetzt betrachtete die Frau Charlotte von oben bis unten.

«Letzter Stock.»

«Danke», sagte Charlotte und verschwand im Inneren des Gebäudes.

Das Treppenhaus wurde nur von einer kleinen Luke im Dach beleuchtet. Als sie auf den ersten Treppenabsatz kam, sah sie nach oben. Es fehlten noch mindestens drei Stockwerke. Obwohl das Gebäude eher ärmlich wirkte, stellte Charlotte überrascht fest, wie sauber es war. Man hatte sogar die Wände gestrichen.

Im zweiten Stock musste Charlotte wieder haltmachen. Ihr Korsett war zu eng geschnürt, und ihre Lungen konnten sich nicht weit genug ausdehnen. Sie musste noch zwei Pausen einlegen, bevor sie vollkommen erschöpft an ihrem Ziel angekommen war.

Die Hitze hatte das oberste Stockwerk in einen Ofen verwandelt. Einen Moment lang hielt sie inne und trat dann vor die einzige Tür.

Die Tür stand offen. Sicher hatte Scott sie geöffnet, um die Hitze mit ein wenig Zugluft erträglicher zu machen, denn genau gegenüber der Tür war auch ein weitgeöffnetes Fenster zu sehen.

Zögernd trat Charlotte ein. Scott war nirgendwo zu entdecken. Das einzige Zimmer war zwar nicht groß, wirkte aber sauber und war mit allem ausgestattet, was man zum Leben brauchte. Ein Bett mit einem Waschtischchen daneben. Ein kleiner Kocher, um Essen warm zu machen, und ein Tisch mit zwei Stühlen, auf dem sich Papiere häuften. Charlotte bahnte sich zwischen Bücherhaufen und Aktenordnern, die überall auf dem Boden lagen, einen Weg durch den Raum. Regale gab es nicht. Auf dem Tisch stand zwischen all den Papieren ein Topf mit Veilchen.

«Meine Mutter hat sie mir geschenkt», sagte Scott hinter ihr. Sie drehte sich um und sah, wie er gerade durch das Fenster in das Zimmer zurückkletterte.

«Ich brauchte ein bisschen frische Luft», sagte er und steckte die Hände in die Taschen.

Charlotte trat zum Fenster und sah nach unten. Beinahe wurde ihr schwindelig.

«Du bist verrückt, Scott! Du hättest dich umbringen können!»

«Das glaube ich nicht. Und? Wie komme ich zu der Ehre, Charlotte?»

«Ich musste dich sehen.»

Scott sah ihr in die Augen.

«Ich muss dir etwas erzählen.»

«Das muss ja sehr wichtig sein, wenn du dafür extra hergekommen bist.»

«Das ist es», sagte sie, ohne Scotts Worten größere Beachtung zu schenken. «Brian und Hortensia werden heiraten!», rief sie fröhlich aus.

Aber wenn sie Scott damit überraschen wollte, war ihr das gründlich misslungen.

«Ich weiß. Brian hat mir erzählt, dass Hortensia seinen Antrag angenommen hat.»

«Das wusste ich nicht», sagte sie und fühlte sich angesichts Scotts kühler Reaktion wie eine Idiotin. «Ich dachte einfach, du würdest es gern wissen wollen.»

Charlotte sah Scott an. Irgendetwas war anders an ihm. Fast bedauerte sie, nicht auf ihre Schwester gehört zu haben.

«Es tut mir leid, wenn ich dich belästigt habe. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich für sie gefreut habe und dass du dich geirrt hast, als du meintest, ich würde sie nicht gehen lassen.»

Charlotte machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach.

«Ich dachte, du würdest dich freuen. Aber ich habe mich wohl geirrt.»

Charlotte drehte sich um und wollte die Wohnung verlassen, als Scott sie am Arm festhielt.

«Bitte geh nicht.» Als Charlotte sich wieder zu ihm umwandte, fiel ihr Blick unweigerlich auf Scotts Hand, die sich um ihr Handgelenk schloss.

«Oh mein Gott!», rief sie und konnte den Blick nicht von der verbrannten Haut wenden. «Deshalb trägst du die Handschuhe? Ich … es tut mir leid. Ich wusste das nicht.»

Rasch zog er unter einem Haufen Papiere einen Handschuh hervor, streifte ihn über und suchte hastig den zweiten. Da ergriff Charlotte die Hand, die er noch nicht wieder bedeckt hatte.

«Tu das nicht.»

Er hielt inne.

«Stört es dich nicht?»

«Wie könnte es mich stören?»

Scott lächelte sie an.

Vorsichtig drehte Charlotte die Hand um und berührte zärtlich die Narben. Die Handfläche sah noch schlimmer aus als der Handrücken. Mit Schaudern dachte sie an die Schmerzen, die Scott hatte ertragen müssen.

«Es muss furchtbar wehgetan haben», sagte sie und strich mit ihrem Finger über die zerstörte Haut.

«Ein wenig.»

Er sah sie an. Sie standen so nah beieinander, dass Charlotte seinen Atem spüren konnte. Sein Blick sagte so viel. Charlotte bekam plötzlich Angst. Sie versuchte, einen Schritt zurückzugehen, aber es war zu spät. Scott hatte die Arme um sie gelegt und zog sie sanft an sich. Charlottes Kopf sagte ihr, dass sie sich losmachen müsste, aber ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Er beugte sich zu ihr hinunter, und sie konnte nicht anders, als immer tiefer in seine dunklen Augen zu blicken.

Als Scott sie küsste, spürte sie, wie ihr ganzer Körper bebte. Dieser heftige und leidenschaftliche Kuss, ganz anders als jener erste Kuss von Richard, weckte etwas in ihr, das sie lange tot geglaubt hatte. Sie musste etwas tun, bevor es zu spät wäre. Als er seine Lippen von den ihren löste, kam es ihr so vor, als würden ihre Beine ihr den Dienst versagen.

«Das hättest du nicht tun dürfen», warf sie ihm vor und machte sich brüsk von ihm los. Sie wusste, dass sie diesem Blick nicht noch einmal widerstehen könnte.

Scott sah sie an und ließ seine Arme sinken.

«Aber warum nicht, Charlotte? Ich liebe dich.»

«Nein, Scott. Bitte hör auf damit.»

Scott streichelte ihr Gesicht und sah ihr in die Augen.

«Aber es ist die Wahrheit. Und du liebst mich auch.»

Sein tiefer Blick ließ ihr das Herz in der Brust zerspringen. Noch immer spürte sie die Wärme seiner Lippen und erzitterte.

«Du irrst dich, Scott. Ich werde nie jemanden lieben. Ich habe es dir gesagt! Warum hörst du nicht auf mich», schimpfte sie und trat von ihm zurück. «Warum machst du kaputt, was wir haben? Warum können wir nicht weitermachen wie bisher?», flehte sie ihn an. «Warum können wir nicht Freunde sein?»

«Weil ich mehr von dir will, Charlotte», gestand er. «Ich brauche mehr. Aber du hast es die ganze Zeit nicht bemerkt. Du wolltest es nicht sehen.»

«Du hättest mich nicht küssen dürfen», sagte sie wieder.

Aber Scott schüttelte nur den Kopf.

«Sag mir, warum. Warum kannst du mich nicht lieben?»

«Ich habe es dir schon gesagt. Ich werde mich nicht mehr verlieben.»

«Das stimmt nicht, Charlotte. Ich weiß, dass du mich liebst. Du bist voller … Leidenschaft. Ich habe so viel davon in meinen Armen gespürt.»

«Hör sofort auf», schrie sie und kehrte ihm den Rücken zu.

«Es ist wegen Richard, nicht wahr?»

Charlotte spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog.

«Ich dachte, das wäre vorbei. Ich dachte, du hättest ihn vergessen. Aber langsam verstehe ich, dass du das nie tun wirst.»

«Du weißt überhaupt nichts, Scott!»

«Du irrst dich, Charlotte. Ich weiß, dass du ihn geliebt hast und dass er dich geliebt hat. Aber manchmal genügt das eben nicht.»

«Warum sagst du das?»

«Vergiss es. Es ist nicht mehr wichtig.»

Charlotte horchte auf. Wusste Scott etwa, warum Richard sie verlassen hatte?

«Und ob es wichtig ist. Du weißt es», sagte sie aufs Geratewohl und machte einen Schritt auf Scott zu. «Du weißt, warum er mich nicht geheiratet hat.»

Scott senkte den Kopf.

«Sag es mir! Ich muss es wissen! Raus mit der Sprache, Scott, oder ich werde verrückt!»

Charlotte war verzweifelt.

«Er hat dich verlassen, weil er dich beschützen wollte.»

«Beschützen?»

«Ja, Charlotte.»

«Wovor beschützen?»

«Er kennt dein Geheimnis.»

«Welches Geheimnis?» Verwirrt sah Charlotte ihn an.

«Nichts.»

«Verdammt nochmal, Scott!», schrie sie. «Jetzt sag es endlich!»

«Gut. Wie du willst. Er wusste über deine Mutter Bescheid.»

«Was ist mit meiner Mutter?»

Jetzt gab es für Scott kein Zurück mehr. «Richard wusste, dass deine Mutter eine Sklavin war.»

Charlotte spürte, wie sich das Zimmer zu drehen anfing. Nur die Wut, die plötzlich in ihr aufstieg, konnte verhindern, dass sie in Ohnmacht fiel. Jetzt war ihr alles klar. Wie hatte sie so dumm sein können. Sie hätte es merken müssen!

«Anscheinend hat sein Onkel geholfen, dich zur Welt zu bringen.»

«Er glaubt, ich bin dieses Mädchen?», fragte Charlotte entgeistert.

«Ist es denn nicht so?»

Charlotte schwieg.

«Warum hat er nicht mit mir gesprochen? Ich hätte es ihm erklären können.»

«Es gab nichts zu erklären. Er wusste nicht, ob du davon etwas weißt. Als sein Onkel erfuhr, dass Richard dich heiraten wollte, hat er ihm die Wahrheit erzählt. Richard wollte dich trotzdem noch, aber sein Onkel hat ihm damit gedroht, deine wahre Identität öffentlich zu machen. Deshalb hat er Camille geheiratet, Charlotte. Richard hat sich für dich geopfert.»

«Dann hat er mich geliebt?»

«Er hat dich immer geliebt.»

«Mein Gott. Warum hat er es mir nicht gesagt? Wir hätten weglaufen können. Irgendwohin, wo uns niemand kannte.»

«Manchmal genügt es nicht zu lieben. Richard war seiner Familie verpflichtet. Er konnte nicht einfach tun und lassen, was er wollte.»

«Wenn er mich wirklich geliebt hätte …», sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

«Aber er hat dich geliebt, Charlotte. Zweifle nicht daran und vergiss es auch nicht. Die Hochzeit mit Camille war sein Opfer, um dich zu retten.»

Jetzt ließ Charlotte ihren Tränen freien Lauf. Endlich verstand sie. Richard hatte sie geliebt. Sie hatte sich nicht geirrt.

«Quäl dich doch nicht», versuchte Scott sie zu trösten, obwohl Charlotte ihn nicht näher herankommen ließ. «Man kann nichts mehr daran ändern.»

Scotts Worte drangen kaum zu ihr durch. Ihr Kopf war kurz davor zu explodieren. Sie musste hinaus. Sie musste nachdenken.

«Charlotte, bitte heirate mich. Es ist mir egal, wer deine Mutter war. Es ist mir egal, ob du eine Sklavin bist, ob du reich bist, ob du arm bist. Ich liebe dich.»

Charlotte sah ihn an. Er wartete auf eine Antwort.

Ihre Tränen waren versiegt. Charlotte spürte, wie die Enttäuschung ihr Herz hart machte.

«Es tut mir leid, Scott. Ich kann nie wieder jemanden lieben», sagte sie mit ruhiger Stimme, wandte sich zur Tür und ging.

Fesseln des Schicksals
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